„Tu es nicht!“
Wie sie diesen Satz hasste. Seit sie denken konnte, verfolgte er sie. Egal, was sie machen wollte, der erste Kommentar ihrer Mutter war: „Nein!“, gefolgt von: „Tu es nicht!“
Doch sie wollte es so gern machen. Sie musste es tun.
Das Röhren des Motors holte sie in die Gegenwart zurück. Eigentlich war Ben ein guter Fahrer, aber etwas musste ihn nervös gemacht haben. Normalerweise ließ sich der Schalthebel wie durch weich Butter bedienen, aber heute hakte er. Nicht zu ersten Mal, seit sie losgefahren waren. „Sorry“, murmelte Ben. „Hab ich dich erschreckt?“
Kira schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass Ben es nicht sehen konnte, doch ihr war nicht nach Reden zumute. „Ich war in Gedanken“, schob sie erklärend nach.
Der sanfte Händedruck von Ben tat gut. Er hatte seine Hand vom Schalthebel genommen und auf ihre gelegt. „Wir können umkehren. Jederzeit.“
Doch sie schüttelte wieder unmerklich den Kopf. Der Fahrwind zerrte an Kiras schwarzen Haaren. Sie hätte doch das Kopftuch aufsetzen sollen. Auch wenn sie es uncool fand. Das war etwas für alte Leute! Wer Cabrio fahren will, muss auch mit dem Wind klarkommen!
Sie konnten immer noch umdrehen. Nur ein Wort von ihr würde genügen.
Die Stadt lag schon eine Weile hinter ihnen. Auch die langen Alleen und die saftig grünen Weiden, die allerdings im fahlen Mondlicht allesamt zu einem grauen Brei verschmolzen waren. Jetzt hoppelten sie die letzten Meter des Feldweges entlang und gleich würde Ben das Auto illegalerweise auf dem Privatgrundstück des Steinbruches abstellen. Näher konnten sie nicht hinfahren.
„Warte“, hastig schnallte Ben sich ab und eilte um das Auto. Vorsichtig half er Kira aus dem Mercedes.
„Ich bin doch nicht aus Zucker!“, protestierte sie und schob seine Hand rüde weg.
„Soll ich ...?“ Fragend deutete er auf den Kofferraum.
„Nein.“ Kira beugte sich zur Rückbank und zog die verhasste Krücke missmutig hervor. Mit der anderen Hand zog sie ihr Smartphone aus der Hosentasche und schaltete die Taschenlampe an.
„Ich nehme die Tasche.“ Bens Stimme duldete keinen Widerspruch. Er schnappte sich die Sporttasche von der Rückbank und warf beide Türen zu. Er machte sich keine Mühe, das Auto abzuschließen. Um diese Uhrzeit würden sie hier niemandem begegnen. Leichtfüßig holte er Kira ein.
„Ich weiß, dass du dir etwas beweisen musst“, versuchte er zu Kira vorzudringen.
Doch sie humpelte unbeirrte weiter.
„Kira!“ Er huschte an ihr vorbei und stellte sich mitten auf den Trampelpfad. Sie konnte nicht ausweichen. Zu unwegsam war das Gelände. Rechts und links nur hohes Gras und immer wieder Felsbrocken.
Energisch sah Kira zu Ben auf. Das Mondlicht strahlte sein Gesicht an und ließ seine Züge noch ebenmäßiger aussehen. Seine Augen glitzerten und sie erkannte das unsichere Lächeln, dass sie so an ihm liebte. Und das er nur ganz selten zeigte. Er, der Sportler, der jede freie Minute mit dem Training für den nächsten Triathlon verbrachte. Und auch die entsprechende Figur dazu hatte.
„Lass mich vorbei!“ Kira versuchte, sich an Ben vorbeizudrücken. Doch er stand wie die Chinesische Mauer vor ihr. Unüberwindbar.
Sanft drehte er ihr Gesicht zu sich. „Kira. Bitte.“
Ihre Blicke trafen sich und blieben einen Moment zu lang miteinander verwoben.
Einsam gurrte eine schlaftrunkene Taube irgendwo in einem Baum.
Kira entwand sich Ben und sah traurig zur Seite. Warum war er eigentlich mit ihr hier. Gerade er! Es gab genug andere, sportlichere Mädchen, mit denen er den Samstagabend in der Disko verbringen konnte.
„Bitte, Ben! Lass mich durch.“ Sie flüsterte nur, doch die Wirkung hätte nicht größer sein können, wenn sie ihn angeschrien hätte. Langsam trat er zu Seite und sah ihr nach, wie sie an der Absperrung vorbei Richtung Steinbruch humpelte.
Dort holte er sie ein. Sie stand an der Klippe und betrachte die Wellen, die sich zehn Meter unter ihr im Mondlicht kräuselten und leise gegen den Fels platschten. Eigentlich ganz romantisch, schoss es ihm durch den Kopf.
Er stellte sich ganz nah neben Kira. So nah, dass er ihre Wärme spüren konnte und doch berührten sie sich nicht.
Ben kickte einen kleinen Kiesel die Klippe hinunter. „Tu es nicht!“, flehte er und sah zu ihr hinüber.
„Ben, für diesen Moment habe ich gekämpft, mich abgemüht und wieder und wieder alle Rückschläge weggesteckt.“ Sie konnte sich nicht von der Klippe abwenden. „Aber diese Zerbrechlichkeit! Sie macht mich wahnsinnig!“ Eine einsame Träne stahl sich aus ihrem Auge und glitzerte im Mondlicht. Ben war versucht, sie wegzuwischen, doch die Mauer um Kira wagte er nicht zu durchdringen.
Wenn sie einen Wunsch frei hätte! „Osteogenesis imperfecta!“, flüsterte Kira, stand gemeinsam mit Ben oben auf der Klippe und wusste nicht weiter.