Thyri und Astrid beschlossen, sich an diesem kalten Nachmittag am See zu treffen um ein Abenteuer zu erleben. Er lag inmitten einer großen Lichtung des Waldes am Rande des Dorfes. Ihre Eltern waren eigentlich dagegen, wenn die Kinder in den Wald gingen, aber das hielt die zwei abenteuerlustigen nicht auf.
Thyri und Astrid sahen sich gegenseitig tapfer an und wagten die ersten Schritte in den dunklen Wald hinein. Die schwachen Sonnenstrahlen, die diesen Dezembertag erhellten, waren nun kaum noch durch das Dickicht der hohen Tannen sichtbar. Thyri schauderte es, aber Astrid sprach ihr gut zu und erschnellte das Tempo, um ihre Freundin schnell aus der Dunkelheit zu führen. Thyri hatte dennoch ein ungutes Gefühl. Als wären die zwei Freundinnen nicht die einzigen im Wald. Doch so sehr sie versuchte hinzuhören, konnte sie außer dem lauten Knacken der Zweige und Blätter unter ihren Füßen nichts wahrnehmen. Thyri gab Astrid bescheid, doch Astrid war sich sicher, dass sie alleine waren. Um ihrer Freundin Komfort zu gewähren, nahm Astrid Thyris Hand und blieb von nun an dicht bei ihr.
Thyri und Astrid erreichten bald den See. Astrids Nähe tat Thyri gut, wodurch sie sich nun viel wohler und sicherer fühlte. Ihre Angst schien nun gegangen zu sein. Astrid gab ihr Mut. Astrid hielt Thyris Hand fest in ihrer, als sie an das Ufer des zugefrorenen Sees traten. Trauerweiden hoben sich von den Tannen heraus und umrahmten die schneebedeckte Eisfläche mit ihren weißen Baumkronen. Der Wind seufzte, als er durch die zugefrorenen Äste wog, worauf die Stämme mit einem Knarzen zu antworten wussten. Die langen Schatten, die die tief hängende Sonne durch die Äste zeichnete, tanzten wie Eiskunstläufer auf der sachten Schneedecke.
Thyri und Astrid waren fasziniert von diesem unglaublichen Bild, das sich vor ihnen auftat. Die ewige Stille, unterbrochen von dem Seufzen des Windes, dem Knarzen der Weiden und dem Tanzen der Schatten. Thyri wollte auch mit den Schatten tanzen. Wie hypnotisiert löste sie sich aus Astrids Hand und rutschte den kurzen Abhang vorsichtig herunter, um auf die Eisfläche zu treten. Astrid tat es ihr gleich. Sie sahen sich glücklich an und beschlossen, weiter auf den See hinaus zu gehen.
Thyri und Astrid beobachteten ihre Fußabdrücke im Schnee. Thyri schlug vor, die Schuhe abzulegen, um das angenehme Gefühl des Schnees direkt an der Haut zu spüren. Astrid fand die Idee gut, und so ließen sie ihre Schuhe und Socken auf der Fläche stehen und gingen barfuß weiter auf den See hinaus. Astrid schlug bald vor, auch die warmen Winterjacken im Schnee liegen zu lassen, damit die Freundinnen besser mit den Schatten tanzen könnten. Thyri stimmte zu, und so legten sie ihre Jacken im Schnee ab.
Thyri und Astrid standen in der Mitte des Sees, hinter ihnen eine Spur von Klamotten, die sie auf dem Weg abgelegt hatten. Sie trugen bloß noch ihre dünnen Röcke und Unterhemden. Die Schatten reichten nun bis zum gegenüberliegenden Ufer des Sees und wogen langsam hin und her. Thyri lächelte ihre Freundin an und begann, sich mit ihren nackten Füßen im Schnee zu drehen. Astrid sah ihrer Freundin belustigt dabei zu, wie sie um sie herum tanzte.
Thyri und Astrid hatten viel Spaß, an diesem kalten Dezember Nachmittag. Sie merkten gar nicht, wie kalt ihnen eigentlich war. Sie merkten nicht, wie sich ihre Lippen langsam blau färbten und sie ihre Füße und Hände kaum mehr spüren konnten. Sie merkten nicht, wie der Himmel stets dunkler wurde. Sie merkten nicht, dass die Wesen des Tannenwaldes langsam aktiv wurden, je mehr die Sonnenstrahlen den Wald verließen.
Thyri und Astrid beschlossen, in ihren leichten Gewandungen wieder in den Wald zu gehen. Ihnen war ganz warm von dem Getanze mit den Schatten. Gegenseitig hievten sie sich das Ufer hoch und traten, gegenüber von dem Ort, an dem sie den See betreten hatten, in den Wald hinein. Das Dickicht der Weidenäste schloss sich hinter ihnen, nahm sie willkommend im Wald auf.
Thyri und Astrid wanderten durch den tiefschwarzen Wald. Selbst der Mond, der mit all seiner Kraft den Wald zu erleuchten versuchte, konnte nicht durch die Nadeln der hohen Tannen hindurch.
Thyri und Astrid hielten sich an der Hand. Sie merkten nicht, dass sie nichts sehen konnten. Ihre Zuneigung zueinander lies den Weg, den sie gingen, glasklar erscheinen. Sie merkten nicht, dass sie komplett vergessen hatten, wo sie waren. Thyri war wie hypotisiert von dem Gesang des Windes, der durch das Geäst des Waldes rauschte. Thyri hielt Astrids Hand und ihr war ganz warm. Astrid hielt Thyris Hand und ihr war ganz warm. Astrid beobachtete aufmerksam die Zweige und Blätter, die unter ihren kalten Füßen knackten und raschelten.
Thyri und Astrid fiel nicht auf, wie ihre Hände und Füße angeschwollen waren. Ihnen fiel nicht auf, wie sich an ihrer Haut langsam Blasen bildeten. Ihnen fiel nicht auf, wie ihre Haut langsam einen rötlich-blauen Farbton annahm.
Thyri und Astrid, so aufmerksam sie auch waren, merkten nicht, wie sie von den Augen des Waldes beobachtet wurden. Kalte, feurig rote Augen. Kalte, feurig rote Augen, eingehüllt von einem warmen Fell aus Schnee. Sie merkten nicht, wie mehrere Augenpaare sich ihnen näherten – bereit, sie mit sich zu nehmen. Ein leises Schnurren mischte sich in das Heulen des Windes, der Thyri und Astrid umspielte. Ein leises, willkommendheißendes Schnurren. Die Tannen rückten näher aneinander, hielten die Augen vor den beiden jungen Mädchen versteckt.
Thyri und Astrid merkten nicht, wie die Tannen sich verengten. Sie merkten nicht, wie sich mehr und mehr Ranken vom Boden auftaten, die ihre Waden und Füße schnitten. Sie merkten nicht, wie das heiße Blut auf ihre kalte Haut ronn und beinahe sofort fror. Die Augen allerdings merkten das alles.
Die Augen sahen, wie das Blut, welches von den Beinen der beiden Kinder ronn, nicht den Boden erreichte. Sie sahen, wie die Wunden gefroren. Sie sahen, wie sie sich entzündeten. Sie sahen, wie das gefrorene Blut der Kinder die Blutung selbst verstopfte. Sie sahen, wie die Kälte die Händer der Kinder zusammenwachsen ließ.
Thyri und Astrid blieben stehen. Ihnen fiel auf, das etwas seltsames geschah. Der Wald hielt einen Moment inne. Das Schnurren, welches sich in das Heulen des Windes einmischte, intesivierte sich. Thyri hielt Astrids Hand etwas fester.
Thyri und Astrid war nun klar, dass sie nicht alleine im Wald waren. Sie merkten, wie dunkel es war. Sie merkten, dass sie nicht wussten, wo sie waren. Sie merkten, dass sich ihre Lippen blau gefärbt hatten, ihre Haut einen rötlich-blauen Farbton angenommen hatte. Sie merkten, wie blass sie waren, dass ihre Beine verwundet und rot waren.
Thyri und Astrid bemerkten, dass der Wald sie beobachtete. Die vielen kalten, feurig roten Augenpaare, die auf sie gerichtet waren. Sie sahen die Augenpaare, die sie umzingelten. Wohin sie auch blickten, sahen sie den Wald, der sie beobachtete.
Thyri und Astrid beschlossen, kehrt zu machen. Doch Thyri begann zu rennen, und sie zog ihre Freundin mit sich.
Thyri und Astrid rannten so schnell sie konnten, verzweifelt, den Augen zu entkommen. Die Dunkelheit würde die Freundinnen verschlucken. Die Äste der Tannen hingen auf einmal viel tiefer als zuvor und schnitt den Mädchen Wunden ins Gesicht und den Körper. Die kalten, feurig roten Augen mit dem warmen Fell aus Schnee knurrten und heulten dicht hinter ihnen, kaum unterscheidbar von dem Wind, der an ihren schmerzend roten Ohren vorbei zischte.
Thyri und Astrid erreichten den See, auf dem sie zuvor getanzt hatten. Die weißen Trauerweiden hangen gefährlich weit über dem Ufer hinaus und knarzten Laut im Wind. Der See hatte sich in der Dunkelheit in ein riesiges schwarzes Nichts verwandelt, und nur einzelne Schneeflocken auf der Eisfläche reflektierten zögerlich die Strahlen des Mondes. Ein Konzert aus knurrenden und bellenden Geräuschen, zusammen mit dem Knacken und Rascheln tausender Zweige und Blätter näherte sich den Mädchen gefährlich schnell. Thyri beschloss, auf den See zu springen. Astrid jedoch blieb stehen. Ihre Hände rissen schmerzhaft aufeinander. Mit einer klaffenden Wunde an der Hand stolperte Thyri und kauerte sich auf der Eisfläche zusammen. Erst als Astrid neben ihr war und ihr mit der gesunden Hand aufhalf, kam Thyri wieder zu einem klaren Gedanken.
Thyri und Astrid sahen zurück in den Wald. Für einen kurzen Moment schien alles still zu sein. Der Wind war ruhiger geworden, aus dem Wald hörte man kein Geräusch. Die Äste der weißen Trauerweide vor ihnen wogen sanft in dem leisen Heulen des Windes. Zwischen den Blättern taten sich Augenpaare auf. Wieder war das Schnurren im Wind zu vernehmen.
Thyri und Astrids Aufmerksamkeit, die dem Wald galt, wurde von einem viel lauteren Knarzen unter ihren Füßen unterbrochen. Kaum sahen sie wieder auf, hetzten die schwarzen Gestalten auf die beiden Kinder.
Thyri und Astrid rannten los, voller Angst, die warmen Schneepelze würden sie einholen. Ihre wunden Füße hinterließen eine rote Spur auf der weißen Decke des Eises.
Thyri und Astrid rannten um ihr Leben, als Thyri etwas am Bein zerrte. Scharfe Zähne gruben sich tief in ihre Wade hinein und zwangen sie zu Boden. Thyri fiel durch die schwache Eisfläche ins Wasser hinein, versuchte sich verzweifelt an der verbliebenen Eisschicht fest zu halten. Die Zähne hingen immernoch in ihrer Wade und wurden mit ins Wasser gezogen.
Astrid versuchte kehrt zu machen, ihre Freundin zu retten, doch auch sie wurde von starken Fangzähnen an der Taille zurück gehalten. Sie fiel zu Boden, kämpfte gegen das Fell, das sie langsam umgab, und griff nach Thyris Hand.
An einem kalten Dezember Morgen wurden im dichten Nebel zwei Kinder auf dem Eis eines Sees im Norden gesucht. Man fand Schuhe, Winterjacken und Überkleider und eine Spur aus roten Fußabdrücken.
Leise und still wurden die Menschen von dem Wald beobachtet. Von den kalten Augen und dem sanften Schnee, von dem Wind der durch die Bäume zieht und den Blättern, die leise flüstern.