Seufzend lege ich das Telefon beiseite. Was meint sie nur? Mal wieder verunsichert ihre Nachricht mich, und ich weiß, dass ich wieder stundenlang über eine Erwiderung nachdenken werde.
Es ist für mich eine neue, schöne Erfahrung, eine Freundin gefunden zu haben, die so tief in meine Seele blicken kann. Sie versteht mich oft so gut, dass ich mich regelrecht durchschaut fühle. Und manchmal frage ich mich, ob sie mich besser versteht, als ich selbst. Sie benennt Motivationen und Verhaltensweisen, derer ich mir gar nicht bewusst bin. Interpretiert sie mich auch da richtig oder irrt sie sich gelegentlich doch? Ich bin geneigt, ihr zu glauben - sie trifft so häufig den Nagel auf den Kopf, warum sollte sie dann danebenliegen? Aber bin ich wirklich so?
Ärgerlich verziehe ich das Gesicht. Schon wieder verrenne ich mich in Grübeleien! Sie hat dieses Talent, meine Gedanken zu beherrschen.
Obwohl ich sie schon seit einigen Jahren kenne, sind wir doch erst vor einigen Monaten Freunde geworden. Fast über Nacht intensivierte sich unsere Beziehung - wir schrieben uns fast täglich lange Briefe, und ich öffnete ihr mein Herz, ließ sie an meinen Gedanken und Gefühlen teilhaben, wie ich es nie zuvor bei jemandem tat. Ihrem Charme erliegt praktisch jeder - ich kenne niemanden, der sie nicht mag, und auch ich verfiel ihrem Zauber schnell. Ihre Meinung wurde mir unglaublich wichtig, und an Tagen, an denen wir uns keinen ausgiebigen Brief sandten, schickten wir uns zahlreiche kurze Nachrichten.
Meine Freunde zogen mich rasch damit auf. Mit einer Frau kann kein Mann eng befreundet sein, behaupteten sie steif und fest - sie unterstellten mir sofort romantische Absichten, dabei wusste ich genau, dass das nie der Fall war, weder bei ihr noch bei mir. Freundschaften sind auch zwischen verschiedenen Geschlechtern möglich.
Briefe schreiben wir uns inzwischen nur noch selten - wir kennen einander gut, wenn ich auch das Gefühl habe, mehr von mir preisgegeben zu haben, als ich über sie weiß.
Oft frage ich mich, ob ich sie zu tief in meine innersten Gedanken habe blicken lassen. Ich habe mich damit beunruhigend verletzlich gemacht. Vielleicht wäre es besser, niemanden so nahe an sich heranzulassen. Jede ihrer Äußerungen trifft mich direkt, und wenn auch nur eine Spur von Kritik darin steckt, nehme ich es mir zu Herzen.
Doch seit Wochen verbessert sich dieser Zustand, und ich bin zuversichtlich, dass ich sie bald auf den Abstand zurückgeschoben haben werde, auf dem ich meine anderen sehr guten Freunde halte. Dann kann ich endlich wieder befreiter denken, sehe nicht täglich nach, ob sie meine letzte Nachricht erhalten hat, ob sie schon geantwortet hat, frage mich, ob sie mir nicht antworten will, weil ich etwas geschrieben habe, das ihr missfällt, oder einfach noch keine Zeit dafür hatte.
Doch bis dahin trifft mich jeder ihrer Kommentare bis ins Mark.
Manchmal denke ich, es wäre besser, den Kontakt einfach völlig abzubrechen. Wir haben kaum gemeinsame Bekannte, es wäre recht leicht machbar.
Aber wie lange würde es dauern, bis ich aufhören würde, ständig an sie zu denken?
Ich sehne mich schon jetzt schrecklich nach der Zeit zurück, in der wir so intensiven Briefkontakt hatten.
Bin ich unterbewusst vielleicht doch in sie verliebt?