Anna nahm den Platz neben ihr auf der Kirchenbank ein. Sie rutschte eng an sie. "Er kommt zurück!", flüsterte sie Martha aufgeregt ins Ohr. Martha wusste nicht sofort, wovon Anna eigentlich sprach. Aber bevor sie weiter nachfragen konnte, hatte Anna bereits einen sorgfältig zusammen gefalteten Brief aus ihrer Jackentasche gezogen. "Schau! Er schreibt: "Geliebte Schwester!" Das bin ich!", bekräftigte Anna, als wenn daran Zweifel bestehen könnten. Jetzt war Martha auch klar, wovon Anna so erregt sprach. Natürlich von ihrem Bruder Karl. Karl, der gutaussehende Karl. Karl, der Soldat, der nach der deutschen Kapitulation in französische Gefangenschaft geraten war.
Aber Martha konnte Annas Aufregung nicht verstehen. Schließlich war dies nicht der erste Brief, in dem Karl seine baldige Heimkehr ankündigte. Nach dem Ende des Krieges war Karl zunächst in französische Gefangenschaft geraten, als er auf dem Weg von Norwegen in die Heimat unterwegs gewesen war. Bereits in Norwegen hatte er geschrieben, dass er bald zurück bei seiner geliebten Schwester sein würde. Stattdessen verbrachte er Jahre in einem französischem Arbeitslager.
Dann kam der Tag, an dem ein weiterer Brief des Bruders ankam. Auch dieser begann wie alle anderen zuvor mit "Geliebte Schwester!" und Anna hatte ihn Martha damals genauso hastig und leise im Sonntagsgottesdienst vorgelesen wie diesen heute. "Die Franzosen lassen uns ziehen," hatte Karl damals geschrieben "ich bin auf dem Weg in die Heimat! Bald werden wir wieder vereint sein." Nach dem Eingang dieses Briefes hatte sich Anna Tag für Tag auf den Weg zum Bahnhof gemacht und auf dem Bahnsteig gewartet. Aber Karl war nicht gekommen.
Stattdessen kam ein Brief. Auch dieser war in Karls schnörkelloser Schrift mit "Geliebte Schwester!" betitelt. Doch statt von baldiger Heimkehr berichtete Karl von erneuter Gefangenschaft. Der Zug von Frankreich nach Deutschland war von den Russen abgefangen und direkt ins russische Arbeitslager weitergeleitet worden. Seitdem schrieb Karl weniger Briefe und die mitgeschickten Bilder zeigten einen mager gewordenen Mann mit hervortretenden Wangenknochen. Immer noch gutaussehend, aber ausgemergelt.
Jetzt eine mögliche Rückkehr aus russischer Gefangenschaft zu erwarten, erschien Martha töricht. Aber sie wollte Annas Enthusiamus nicht dämpfen. Schließlich hatte diese auch nach zwei mißlungenen Rückkehrversuchen ihres Bruders nicht ihren Optimismus verloren. Martha beneidete sie darum. Sie wünschte, sie selbst hätte ein wenig von Annas positiver Einstellung. "Wirklich Anna? Das ist ja wunderbar! Lies mir bitte den Rest des Briefes vor!", ermutigte Martha ihre Freundin. Das ließ sich Anna nicht zweimal sagen. "Geliebte Schwester!", las sie hektisch vor, "Ich wage es kaum zu schreiben, aber die Russen haben beschlossen einige von uns ziehen zu lassen! Komischerweise bin ich unter den Auserwählten. Die Bedingungen hier sind so schlecht, dass ich mich kaum traue, es zu glauben. Wie oft träumte ich schon davon bei euch daheim zu sein. Nur um am nächsten Morgen feststellen zu müssen, dass ich immer noch dort war, wo ich gestern schon gewesen bin. Nach all meinen erfolglosen Versuchen befürchte ich jeden Tag die Russen könnten es sich noch einmal anders überlegen. Aber bis jetzt ist nichts dergleichen geschehen. Also schreibe ich dir ein letztes Mal. Morgen verlasse ich mit dem ersten Zug das Lager. Auf unser baldiges Wiedersehen, liebste Schwester! Dein Bruder Karl". Anna war vor Aufregung ganz außer Atem. Ihre Augen leuchteten. Mit festem Griff fasste sie Marthas Hände. "Endlich werde ich ihn wiedersehen!"