Trotz all der Routine, der er inzwischen besaß, durchströmte ihn auf der Einsatzfahrt immer noch Adrenalin und löste eine gewisse Euphorie in ihm aus. Natürlich war ihm bewusst, dass sie zu einem Verkehrsunfall unterwegs waren und mit kühlem Kopf Menschen retten mussten, aber auf der Fahrt zur Einsatzstellen ließ er diese Gefühle zu und schwelgte darin:
Der Meldeempfänger hatte ihn vom Sofa aufspringen lassen, sodass das Buch unbeachtet zu Boden fiel, während er in Hausschuhen zu seinem Fahrrad rannte und kräftig in die Pedale trat. Das Adrenalin verlieh ihm Kräfte, die ihn stets in Rekordzeit zum Gerätehaus trugen, wo er das Fahrrad in der Nähe der Fahrradständer einfach zu Boden fallen ließ. Keuchend und mit klopfendem Herzen, sein Körper begeistert über das Adrenalin, trat er sich die Schuhe von den Füßen und sprang in die Stiefel, zog die Uniformhose über seine Jeans und rannte mit offenem Hosenstall, Jacke und Helm in der Hand, zurück in die Fahrzeughalle, um noch einen Platz auf einem der Fahrzeuge zu ergattern. Er war schnell richtig angezogen und konzentrierte sich auf die eiige Fahrt, das zuckende Blaulicht und das Dröhnen von Martinshorn und Dieselmotor, den Geruch der Uniformjacken, des Schweißes der anderen Feuerwehrleute.
"Verkehrsunfall mit zwei Fahrzeugen", wandte sich der Gruppenführer nach hinten zur Mannschaftskabine. "Angriffstrupp zur Menschenrettung mit Spreizer und hydraulischer Schere zum Pkw. Zum Einsatz fertig!" Der Angriffstruppführer wiederholte den Befehl. Es war nicht nötig, Wasser- und Schlauchtrupp über ihre Aufgaben zu informieren, denn sie wurden durch den Befehl an den Angriffstrupp ebenfalls definiert.
Mit dem Einsatzbefehl verschwand die Euphorie und machte Ruhe und Konzentration Platz. Nun galt es!
Kaum waren sie an der Einsatzstelle angekommen, begab sich der Gruppenführer auf Erkundung. Die Mannschaft begann mit der Bereitstellung der notwendigen Geräte. Er selbst war durch die Sitzordnung im Fahrzeug als Schlauchtruppführer identifiziert worden, sodass ihm und seinem Truppmann die Absicherung der Unfallstelle zufiel. Er warf nur einen kurzen Blick auf das Geschehen, doch die Szene jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Zwei beteiligte Pkw an einer Kreuzung. Offensichtlich hatte der scharlachrote Volvo die Kreuzung auf der Vorfahrtsstraße überqueren wollen. Der schwarze Golf, der bis zur Mittelkonsole im Fahrgastraum des blauen Volvos steckte, hatte dieses Vorhaben verhindert. Hoffentlich war niemand auf dem Beifahrersitz gesessen!
Rasch verdrängte er die Bilder, die diese Vorstellung in ihm hervorriefen, und machte sich mit seinem Truppmann an die Sicherung der Unfallstelle. In bis zu 800m Entfernung stellten sie die orange-weiß gestreiften Leitkegel auf, Blitzlichter und Hinweisschilder, um zu verhindern, dass noch weitere Fahrzeuge in die Unfallstelle hineinfuhren. Der Maschinist, der das Löschfahrzeug hinter den Unfallwagen geparkt hatte, hatte jedes zur Verfügung stehende Licht eingeschaltet. Vom Warnblinker über das Standlicht bis hin zum zuckenden Blaulicht - von dieser Seite konnte man die Unfallstelle unmöglich übersehen!
Nach Beendigung ihrer Aufgabe begaben sie sich zum Gruppenführer. "Schlauchtrupp einsatzbereit!", meldete er, und erhielt sofort den nächsten Befehl: Unterstützung des Wassertrupps bei der Bereitstellung der möglicherweise notwendigen Geräte.
Er bestätigte und warf wieder einen Blick auf die Unfallstelle. Der Anblick des scharlachroten Volvos und des darin verkeilten schwarzen Golf war so surreal. Seine Kameraden vom Angriffstrupp machten sich gerade an der Fahrerseite zu schaffen, legten eine Decke über den Fahrer, um ihn vor Splittern zu schützen, und begannen, die völlig verbogene Karosserie aufzuschneiden. Die Besatzung des einen Rettungswagens kümmerte sich um den Golffahrer, die des anderen Rettungswagens tigerte unruhig am Rand der unsichtbaren Sperrzone, die gemäß den Einsatzregeln um das Unfallfahrzeug herrschte, hin und her. Der Lärm der Stromaggregate und das entsetzliche Quietschen, das das widerspenstige Metall des Volvos unter dem Druck der hydraulischen Schere von sich gab, übertönten beinahe die geschrienen Informationen, mit denen der Angriffstrupp sich untereinander und mit dem Gruppenführer abstimmte.
Es kam kein dritter Rettungswagen. Es war also wohl niemand auf dem Beifahrersitz gewesen. Erleichtert atmete er durch und half seinen Kameraden, weiteres Rettungsgerät bereitzulegen. Dann konnte er nur noch zusehen.
Endlich war das Auto wie eine Sardinenbüchse geöffnet. Der Angriffstrupp schob das Spine-Board hinter den verletzten Fahrer und hob ihn heraus, legte ihn in der Nähe des Rettungswagens ab, wo man sich sofort um ihn kümmerte.
Neugierig und hilfsbereit trat er näher. Der Fahrer war eine Frau Mitte zwanzig, schätzte er. Zu seiner Überraschung war sie ansprechbar, auch, wenn sie große Schmerzen haben musste.
"Kann ich euch helfen?", fragte er die Rettungssanitäter.
"Hol die Trage", wies einer ihn knapp an. Er machte sich sofort auf den Weg. Im Einsatz erwartete man keine Freundlichkeit, kein höfliches "Bitte" oder "Danke". Es war dafür keine Zeit.
Er löste die Sicherung der fahrbaren Trage, zog sie auf den Schienen aus dem Rettungswagen, bis die Rollen ausklappten, und zog sie über die Straße zum Rettungsteam. Die legten die Verletzte mit ruhigen, routinierten Bewegungen drauf, schnallten sie fest und hoben die Trage wieder an.
"Warten Sie", keuchte die Frau. Die Dringlichkeit in ihrer Stimme ließ ihn innehalten. Verzweiflung sprach aus ihren Augen, als sie nach seinem Uniformärmel griff.
"Wo ist mein Baby?"
Für einen Moment war es völlig still in seinem Kopf. Dann begannen die Gedanken zu rasen. Hilfesuchend sah er die beiden Rettungssanitäter an, doch die schüttelten nur überfordert den Kopf.
'Oh Gott, bitte, lass sie verwirrt sein', dachte er, bemühte sich aber um ein Lächeln. Er spürte, dass es misslang.
"Wo war ihr Baby denn?", fragte er die Frau mit rauer Stimme. Er hatte Angst vor der Antwort, hielt die Luft an und flehte im Geiste, nicht das zu hören, was sie dann aber doch sagte.
"Auf dem Beifahrersitz im Maxi-Cosi ..." Sie sprach so leise, dass er sie über den Einsatzlärm kaum verstand, doch der Blick, den sie ihm zuwarf, das Flehen und die Verzweiflung, die darin lagen, hätten ihn auch ohne Worte verstehen lassen.
Er schluckte, griff nach seinem Funkgerät.
"Gruppenführer von Schlauchtrupp, kommen", bat er um Kontakt.
"Gruppenführer hört, kommen."
Er wusste nicht, wie er es in der nüchternen, knappen Sprache, die die Funkdisziplin eigentlich gebot, ausdrücken sollte. Egal. "Da war ein Baby auf dem Beifahrersitz", sagte er nur.
Stille im Funk.
"Bitte wiederholen, kommen." Der Gruppenführer war selbst Vater. Trotz der Verzerrung über Funk hörte man die Angst in seiner Stimme.
"Auf dem Beifahrersitz war ein Baby in einem Maxi-Cosi", wiederholte er heiser. Dann wandte er sich kurz an die Frau. Sie musste das Funkgespräch ja nicht weiter mit anhören. "Wir kümmern uns sofort um das Baby", versprach er ihr. Zu seiner Überraschung klang seine Stimme fest und beruhigend - das Zittern, das er innerlich spürte, war nicht zu hören. Dann lief er zu seinen Kameraden hinüber.
"Sucht die Umgebung ab", befahl der Gruppenführer gerade. "Und du", wandte er sich an den Maschinisten, "Mach mal alle Geräte aus, vielleicht hören wir was!" Ein kleiner Funke Hoffnung.
Niemand wartete auf weitere Informationen. Alle schwärmten sofort aus, suchten nach Spuren des Babies, hofften und fürchteten zugleich, es zu finden.
Der Maschinist schaltete nach und nach alle Geräte ab. Zuerst das eine, dann das andere Stromaggregat. Der Lichtmast wurde dunkel. Dann drehte er auch den Zündschlüssel des Löschfahrzeugs, und dröhnende Stille senkte sich über die Unfallstelle.
Keiner rührte sich. Alle versuchten, die vom Lärm belasteten Ohren an die Stille zu gewöhnen, nach Lauten zu lauschen, die für diese menschenleere, für den Verkehr gesperrte Kreuzung untypisch waren.
Er hielt die Luft an und lauschte.
Und dann hörte er es. Ein leises Wimmern, in einem Gebüsch nur zwei Schritte von ihm entfernt.
Ungläubig ging er langsam darauf zu, ließ sich von seinen Ohren leiten.
Je näher er kam, desto sicherer wurde er: Er hörte das leise, vom vielen Schreien schon heisere Weinen eines Babys. Seine Handflächen wurden feucht und sein Herz schlug schneller. Hoffnung!
"Ich hör hier was!", rief er laut, ging nur rasch zum Gebüsch und schob die Zweige beiseite, ohne Rücksicht auf die Kratzer, die sein Gesicht dabei erlitt.
Er konnte nicht fassen, was er sah. Dort lag ein Maxi-Cosi auf der Seite, darin ein Baby, das nur von den Gurten noch darin gehalten wurde. Rasch griff er zu, zog alles aus dem Gebüsch und starrte das Kind an, dessen blaue Lippen sich zu einem neuen Schrei verzogen, als es bemerkte, dass ihm Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
Einer der Rettungssanitäter drängte ihn beiseite. Er ließ es ohne Widerstand geschehen, viel zu geschockt, um zu reagieren. Immer noch ungläubig sah er zu, wie er das Baby untersuchte, in eine warme Decke hüllte und in die Arme nahm. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. "Sieht aus, als wäre es ok", flüsterte er.
"Wir haben es, und es ist unverletzt!", rief er laut über die Kreuzung. Er hörte Laute der Erleichterung, Aufatmen, ein unterdrücktes Schluchzen. Doch seine Augen lagen auf der Frau, die den scharlachroten Volvo gefahren hatte und die von der Tragen aus das Geschehen beobachtet hatte. Sie ließ gerade den Kopf auf die Trage sinken und verdrehte die Augen, als die Kraft sie verließ.
Sie hatte nur auf Gewissheit gewartet, bevor sie sich der gnädigen Ohnmacht überließ.