„Sag mir, dass ich das jetzt wirklich tut sollte.“
Icnoyotl seufzte. „Du solltest das jetzt wirklich tun.“
Sie drehte sich zu ihm um.
„Wirklich?“
Sanft legte er ihr die Hand auf die Schulter und schupste sie vorwärts. „Nun geh schon.“
Finja schenkte ihm ein nervöses Lächeln.
„Geh.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und trat aus dem Schatten des Ahorns, hinter dessen breiten Stamm sie sich soeben unterhalten hatten, hervor. Ihr blondes, langes Haar floss über ihren Rücken und schimmerte im Licht der Sonne gleich dem goldenen Tuch, das seine Großmutter sich an Festtagen immer umgebunden hatte. Mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtete Icnoyotl wie sie den Schulhof überquerte und auf jede Gruppe von Schülern zutrat, die sich in der Raucherecke versammelt hatte. Die Wenigsten von ihnen rauchten wirklich – zumindest nicht vor den Lehrern – sondern hatten sich das nur von den älteren Schülern abgeschaut. Stattdessen kickten zwei Jungs gelangweilt eine leere Coladose hin und her, während die anderen die Hände in die Taschen vergraben hatten und sich lautstark unterhielten. Der größte von ihnen legte einem jüngeren gönnerisch die Hand auf die Schulter, woraufhin dieser eilig fortlief. Mit einer eleganten Bewegung drehte sich der Lockenkopf um und ließ seinen Blick über den Hof schweifen. Laut Finja war er einer der hübschesten Jungs der Schule. Icnoyotl hielt ihn für einen Idioten. Deine langen Wimpern sind gleich, du verdienst sie nicht, dachte er zornig und ballte die Hände in den Hosentaschen. Finja ging weiter über den Hof und fiel dabei in den eleganten, leicht schwingenden Gang, den sie sich in letzter Zeit zugelegt hatte. Immer näher kam sie der Gruppe, immer mehr entfernte sie sich von ihrem besten Freund.
Rasch wich Icnoyotl zurück und verbarg sich hinter dem Stamm, den er wenige Minuten zuvor noch mit dem Mädchen geteilt hatte. Eigentlich sollte er sie doch in ihren Träumen unterstützen, oder? Tat man so was als bester Freund nicht? Aber weshalb fühlte es sich dann so blöd an?
Nervös folgte der Junge der Frau in den hohen Stöckelschuhen. Sie klackerten auf dem Parkett und hallten durch die Flure und Gänge. Es erschienen ihm so viele, als sie vorwärts schritten. Türen, die sich an einander reihten und hinter der leise Stimmen hervordrangen. Vollgestopfte Mülleimer und alte Papierflieger, über denen sich Staub ansammelte.
„So, da wären wir.“ Die Frau winkte ihn zu sich, lächelte ihn mit ihren perfekt geschminkten Lippen an und klopfte gegen die Tür. 6a stand auf dem Schild neben dem Holz.
„Herein.“ Die feste Hand der Frau griff von hinten in seinen Pullover und schob ihn vor sich. „Wir haben hier den neuen Mitschüler, Herr Meyer.“
Ein erstaunlich junger Lehrer stand am Pult und sah ihnen entgegen.
„Ah, der Mexikaner.“ Er nickte und bedankte sich mit einigen leisen Worten, die Icnoyotl sofort wieder vergaß, bei der Frau. Stattdessen richtete er den Blick schüchtern auf die Klasse. Fünfundzwanzig Kinder zählte er und sie alle schauten ihn an. Schnell senkte er den Blick wieder. Sie sahen so fremd und anders aus, dieses ganze Zimmer war ihm fremd. Er vermisste die Heimat, die Unordnung und das Leben in seiner alten Klasse, die Freunde, die er dort gehabt hatte.
„Nun, Junge…“ Erschrocken zuckte er zusammen. Der Lehrer in Weste stand direkt vor ihm, die Sekretärin war verschwunden, die Tür geschlossen. „Vielleicht erzählst du uns erst einmal deinen Namen und woher du kommst?“ Ermutigend nickte er ihm zu.
„Meinen Namen?“
Irgendwo in der hinteren Reihe kicherte jemand. Vielleicht wegen seines Akzents.
„Ja, wie heißt du?“
„Icnoyotl“, wisperte er.
„Herzlich Willkommen in unserer Klasse, Iknayat.“
„Icnoyotl.“ Er wurde lauter. „Mein Name ist Icnoyotl.“
„Oh, Verzeihung.“ Der Lehrer kritzelte in seiner Liste herum. „Warum suchst du dir nicht erst einmal einen Platz?“
Icnoyotl nickte, dann schritt er durch die Reihen. Ein Mädchen legte demonstrativ ihre Federtasche auf den leeren Platz neben sich, doch die meisten schwiegen und blickten ihn neugierig an. Es war das blonde Mädchen rechts außen, das ihn besonders intensiv anstarrte und fast durch ihn hindurch zu sehen schien, als ob sie ihn gar nicht wahrzunehmen schien. Der Platz neben ihr war frei. Zögernd trat er auf sie zu und zog den Stuhl heran. Sie zuckte zusammen und blickte ihn an.
„Tut mir leid, ich habe nachgedacht. Wer bist du?“
Vorne trat der Lehrer an die Tafel und begann einige einleitende Worte zu sprechen.
„Der Neue. Icnoyotl“, wisperte er, während er begann seine Hefte auf den Tisch zu legen.
„Das ist ein komischer Name.“ Sie runzelte die Stirn, dann reichte sie ihm die Hand. „Ich bin Finja.“
„Freut mich.“
„Kommst du von weit her?“
„Ich spreche komisch, nicht wahr?“, bemerkte er bedrückt. „Mein Bruder spricht viel besser Deutsch, obwohl er ein Jahr jünger ist.“
„Quatsch!“, entgegnete sie laut, was ihr ein ermahnendes Hüsteln des Lehrers bescherte. „Du spricht sehr gut Deutsch.“
„Oh.“ Erfreut hob Icnoyotl den Blick. „Du auch.“
Sie kicherte. Es war ein schönes, unbeschwertes Geräusch.
„Ich komme aus Mexiko“, erklärte er, „Meine Mutter ist Mexikanerin, aber mein Vater Deutscher. Als sie gestorben ist, hat er sich entschieden, wieder hierher zurück zu kehren.“
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Vermisst du deine Heimat?“
„Ein wenig“, gab er zu.
„Kannst du mir davon erzählen? Von deiner Heimat, meine ich. Auch von deiner Mutter.“ Sie schluckte. „Aber nur, wenn du möchtest“, fügte sie hastig hinzu.
„Sehr gerne“, entgegnete er und lächelte.
Erleichtert lächelte sie zurück.
„He, träumst du?“ Icnoyotl öffnete die Augen. Finja schnipste mit ihren schmalen Fingern wild vor seinem Gesicht herum.
„Was willst du denn hier?“, fragte er, „Ich dachte, du wolltest die Pause mit…“ Er hielt inne, als er die Tränen sah, die über ihre schmalen Wangen liefen.
Sie ließ sich den Stamm hinab gleiten und setzte sich neben ihn in das Gras. „Eigentlich ist er ein ziemlicher Idiot“, stellte sie fest.
„Das tut mir leid, Finja.“ Langsam hob er die Hand und strich ihr tröstend über den Rücken.
„Wirklich?“
„Nein.“
Sie riss seine Hand fort. „Du bist mein bester Freund, Icno. Du solltest mich unterstützen.“ Ein schmales Lächeln unter den Tränen zeigte ihm, dass sie es nicht böse nahm.
„Das tue ich.“ Er grinste breit. „Ich unterstütze dich in deiner Aussage, dass er ein Idiot ist.“
Sie ließ den Kopf gegen die Rinde fallen, schloss die Augen und seufzte tief. „Warum nur, muss ich mit den Jungs immer solch ein Pech haben, Icno“, klagte sie.
Für einen Moment sog er ihren Anblick in sich auf. Das lange, blonde Haar, das sich leicht im Wind bewegte, die winzige, runde Nase inmitten ihres herzförmigen Gesichts, der leicht vorstehende Eckzahl, über den sie sich immer wieder aufregen konnte, die winzige Narbe an ihrer linken Wange.
Er setzte sich auf. „Was hältst du davon, wenn wir uns heute Nachmittag am See treffen und einfach mal einen Nachmittag zu zweit verbringen?“
„Am See?“, murmelte sie.
„Ja. Ich muss dir was erzählen, etwas Wichtiges.“
„Okay.“ Sie seufzte. „Solange es nicht um Jungs geht.“
„Die meisten von ihnen sind eh Idioten“, erklärte er.
„Aber nicht alle, hm?“ Noch immer waren ihre Augen geschlossen, noch immer glänzten die Tränen auf ihren Wangen und hingen in ihren Wimpern. Dies war ihre Art sich abzulenken, aber er war froh, dass sie es hier in seiner Gegenwart tat. Es war das größte Geschenk.
„Nein, ich bin keiner.“
„Stimmt.“
Icnoyotl grinste in sich hinein.