Inspiration dazu:
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Die Bewohner von Rus an der Küste von Westwindemer lebten seit jeher von dem, was das Meer ihnen zu bieten hatte. Fischerboote und Angler, die an den rauen Klippen ihr Glück versuchten, waren der normale Alltag.
Der junge Derric unterschied sich nicht von den anderen Männern, die durch den Bau von Booten, dem Herstellen von Segeln oder der Fischerei ihr Auskommen bestritten. Gemeinsam mit seinem Vater und deren Männern fuhr er Tag für Tag hinaus auf die See, die in diesem Teil Karmarhyllias meistens ruhig war. Nur selten geschahen unvorhergesehene Dinge, doch von einem möchte ich euch erzählen.
Es begab sich im Herbst von Derrics neunzehntem Lebensjahr, dass das Meer durch die ungewöhnlich früh einsetzenden Stürme aufgepeitscht war. Trotz aller Warnungen ließ der Vater des Burschen seine Mannen antreten, denn der Winter würde bald kommen und bis dahin mussten die Vorräte bereit sein.
Hilflos den wogenden Wassermassen ausgeliefert, schlingerte das robuste Fischerboot auf ihnen wie eine federleichte Nussschale. Zäh kämpften die Seeleute mit den Naturgewalten, um ihren Fang nicht zu verlieren und groß war die Freude, als die Netze mitsamt der Beute sicher unter Deck waren.
Doch die Euphorie währte nur kurz, als eine Welle über den Kahn hinwegrollte. Alle hatten sich halten können, doch der Sohn des Kapitäns, Derric, war über Bord gegangen und in den schwarzen Massen verschwunden.
Die Kälte des tosenden Meeres umschloss den jungen Mann mit eiserner Hand, doch die Stille, die folgte, als er unter Wasser war, hatte etwas Erleichterndes an sich. Das Heulen des Windes und das Peitschen der Wellen zuvor war ohrenbetäubend gewesen und trotz des Schreckens wurde Derric für einen kurzen Moment ruhig. Er merkte nicht, dass er immer tiefer sank, denn die Kälte hatte seine Muskeln gelähmt. Die Versuche, wieder an die tobende und aufgepeitschte Oberfläche zu kommen, waren vergeblich und mehr und mehr spürte er, wie ihm die Luft ausging und seine Glieder steif wurden. Die Gewissheit, dass er auf See den Tod finden würde, wurde übermächtig in seinem Kopf, doch aufgeben wollte er nicht.
Derric spürte die Ohnmacht nahen, als etwas vor seinen verschwimmenden Augen erschien, etwas, das der Bursche nie in seinem Leben zu Gesicht bekommen hatte.
Das Wesen war größer als ein gewöhnlicher Mann, mit wilden Haaren, die sein grimmiges, garstiges Antlitz wie Algen umwehten. Die Strömung des Wassers, angefacht durch das Unwetter, ließ es tanzen. Derric glaubte sich bereits im Ohnmachtswahn, als die Kreatur ihn mit starken, krallenbewehrten Händen packte. Sie bewegte die Lippen, doch der junge Mann konnte die Worte nicht verstehen. Das letzte, was er sah, waren die Augen des Wesens, scharf wie die eines Adlers, in der Farbe von Seegras, schlammig grün und doch feurig, bevor die fehlende Atemluft ihn das Bewusstsein verlieren ließ.
Als Derric wieder erwachte, befand er sich an Bord des Fischerbootes, umringt von den Männern seines Vaters. Sie alle waren nass bis auf die Knochen und die Erleichterung stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
»Wo ... wo ist es?«, rief der Bursche und blickte sich hektisch in der Dämmerung um. Der Sturm war abgeklungen und mit ihm die dicken, schwarzen Wolken, die den Taghimmel verdunkelt hatten.
»Wo ist was, mein Sohn?«, herrschte ihn sein Vater an. Der Mann war bekannt für seine ruppige und wenig zimperliche Art, doch sein riesiger Bart zitterte vor Erleichterung, dass er seinen Jungen nicht dem Meer hatte überlassen müssen.
»Das Wesen. Das Wesen, es war dort ...« Derric wankte an die Reling und sah ins Blau des Wassers. Nur leicht noch wogten die Wellen, die helle Gischt war Funkeln gewichen und keine unheimliche Meereskreatur war zu sehen. »Ich ... ich muss es geträumt haben. Ich konnte nicht atmen ... Ich dachte, ich würde sterben.«
»Die Geister waren gnädig mit dir. Wir fanden dich auf einem der Fässer, die mit von Bord gespült worden waren und konnten dich heraufziehen.«
Derric antwortete nicht. Er hatte es nicht allein auf diesen Rettungsanker geschafft, dazu waren seine Glieder bereits viel zu steif und schwach gewesen. Das Wesen, dieser unheimliche Mann musste ihm geholfen haben. Er hatte Derric vor dem Ertrinken in den Fluten gerettet.
Zuhause in Rus erzählte der junge Mann niemandem von dem Erlebnis. Er hätte auch keine Gelegenheit gehabt, da sich die Kunde seines Beinahe-Ertrinkens ebenso rasch verbreitete wie die Neuigkeit, dass die tapferen Fischer trotz des Sturms einen guten Fang gemacht hatten, der die Vorratslager weiter füllte und zu einem sorgenfreien Winter beitrug. Die Leute freuten sich zu sehr darüber, dass genug Essen da war und dafür niemand hatte sterben müssen, dass niemand weiter nachfragte. Seeleute gingen eben manchmal von Bord und man dankte in einem solchen Fall den Geistern, wenn die Männer es aufs Schiff zurückschafften.
So vergingen einige Tage, in denen die Bedeutung der erschreckenden Erfahrung immer weiter verblasste, bis Derric sie überwunden hatte und nicht mehr daran dachte. Er schob es auf den Sauerstoffmangel, dass er sich die Kreatur eingebildet hatte. Wahrscheinlich hatte sein Überlebensinstinkt ihm geholfen, an die Wasseroberfläche und so auf eines der Fässer zu kommen. Es war an der Zeit, die Sache zu vergessen.
Und das tat er auch, zumindest bis zu dem Tag, an dem das Boot seines Vaters in den kleinen Hafen von Rus zurückkehrte. Derric hatte an der Fahrt nicht teilgenommen, sondern andere Pflichten im Dorf erfüllt und so wusste er zuerst nicht, warum alle anderen so aufgeregt zum Landungssteg eilten. Männer, Frauen, sogar die Kinder, ließen ihre Tätigkeiten fallen und scharrten sich an das Ufer. Rufe wurden laut, welche der Überraschung, andere mehr Schreckenslaute.
»Sie haben ein Seeungeheuer gefangen!«, rief eine aufgeregte Frau und andere stimmten in ihr Rufen mit ein. Derric hob neugierig den Kopf und versuchte, näher an den Steg zu kommen.
Er konnte spüren, wie die erregte Stimmung der anderen auch ihn erfasste, als die Männer seines Vaters etwas von Bord hievten, das größer war als jeder von ihnen. Das Bündel war ein verschnürtes Netz und kaum hatten die Seeleute die Haken des Bootskranes befestigt, zogen sie es auch schon hoch. Diese Vorrichtung verwendeten die Männer meist dann, wenn sie einen besonders großen Fisch gefangen hatten. Daran aufgehängt, konnte er leichter ausbluten und ausgenommen werden. Doch was nun in einem nassen Netz hockend daran hing, war kein Fisch. Nicht völlig zumindest.
Derric und auch alle anderen schnappten nach Luft. Niemand hatte je zuvor ein solches Wesen gesehen. Der lange Schwanz, wie der hintere Teil eines Haifisches, schimmerte selbst durch die Maschen des Netzes. Grünlich funkelnde Reflexe tanzten auf den Holzplanken des Stegs, wann immer sich dieses bewegte, denn die silbernen Schuppen warfen das helle Sonnenlicht zurück. Die Fischhaut verblasste, je weiter Richtung Kopf man blickte, verschwand schließlich ganz und wich bleicher Menschenhaut, ebenso silbrig-grün wirkend wie die Flosse, die der Kreatur die Beine ersetzte. Sie war halb Fisch und halb Mensch.
Derric konnte nicht sagen, ob es ein männliches oder weibliches Wesen war. Vielleicht war es auch nichts davon, wer wusste schon, wie diese Meereskreaturen funktionierten.
Fauchend legte sie ihre langen Finger um die Seile des Netzes, zeigte dabei ihre dunklen Krallen, die sie statt normaler Fingernägel hatte und starrte garstig durch einen Vorhang von dunkelgrün schimmernden Haaren, die sich flach und nass an ihren Schädel schmiegten.
Die schaulustigen Dorfbewohner gaben einen kollektiven Laut des Schreckens von sich.
»Ein Monster!«
»Tötet es!« Solche und andere Ausrufe folgten nun und obgleich die Neugier der Leute groß war, wagte sich niemand näher an das Netz und die fauchende Kreatur heran.
»Niemand tötet es!«, herrschte da Derrics Vater laut. »Nicht, bevor wir nicht wissen, ob es noch mehr von diesen Dingern gibt! Wir müssen wissen, ob sie uns gefährlich werden können.«
»Låt mig gå!«, knurrte das Wesen rau und dumpf. Sprechen oberhalb der Wasseroberfläche fiel ihm schwer und so nahm niemand wirklich Notiz davon. Für die Umstehenden war es nur ein weiteres grollendes Fauchen, das in den Rufen nach der Schlachtung des vermeintlichen Monsters unterging.
»Wir wollen einen stabilen Käfig bauen und es aufbewahren, bis wir unsere Antworten haben! Bringt Holz und alles, was wir dafür brauchen!«
Nach und nach zerstreuten sich die Menschen wieder und die Seeleute begannen, ihren restlichen Fang von Bord zu bringen. Nur Derric und ein paar unerschrockene Kinder blieben am Steg zurück. Während die Knaben nach einem Stock suchten, um das Meereswesen piksen zu können, betrachtete der junge Mann es eindringlich.
Hatten sein Vater, seine Leute hier in Rus das Recht, die Kreatur gefangen zu halten, nur weil sie anders als die Menschen war? Vielleicht war sie es nur äußerlich und unterschied sich innerlich gar nicht so sehr? Sicherlich empfand es Furcht, jedes Lebewesen würde das, wenn es gefangen wäre und keine Möglichkeit bestand, freizukommen.
»Derric!«, hörte er da seinen Vater rufen. »Komm und hilf’ uns, einen Käfig für das Untier zu bauen.«
Der junge Mann begab sich zu dem Anderen und warf einen letzten zweifelnden Blick auf den Steg zurück. »Vater, vielleicht ist es nicht richtig, es einzusperren. Kannst du es nicht einfach wieder freilassen?«
»Was redest du denn da, du törichter Bengel! Es hat sich in unseren Netzen verfangen, sogar eines davon zerrissen. Es ist unsere Beute und wir können damit machen, was wir wollen. Wir müssen es sogar. Wenn es noch mehr von diesen Monstern gibt, könnten sie uns allen gefährlich werden. Hast du daran einmal gedacht, Junge?«
»Ich finde ... es nur nicht richtig. Wenn es uns nichts getan hat, brauchen wir es auch nicht töten.«
»Genug der Rederei. Dieses Ding ist kein Mensch und hat dein Mitleid nicht verdient!«, donnerte der bärtige Mann, drückte seinem Sohn einen Hammer in die Hand und stieß ihn zu den anderen, die bereits Bretter zurecht sägten.
Der Mond stand bereits am Himmel, als Derric sich noch immer umher wälzte. Er konnte den Dunst des Meeres riechen und das leise Rauschen der Wellen, das über Rus lag.
Er wusste nicht, was ihn wachhielt, doch Schlaf würde er nicht finden und so beschloss er, etwas an die frische Luft zu gehen.
Wie von selbst führten ihn seine Schritte an den Landungssteg, wo die Männer am Abend den massigen Käfig aufgestellt hatten. Diese große Kiste aus Holz und der Vorderseite aus starken Eisenstäben war gerade groß genug für einen flachen Zuber mit Wasser, in den die Meereskreatur nicht einmal zur Gänze hineinpasste. Wie ein Tier eingepfercht wirkte sie, als Derric stehenblieb.
»Es tut mir leid, dass dir das geschieht«, murmelte er leise und erschrak, als das Wesen die stechenden grünen Augen aufriss und fauchte. Es plätscherte und der junge Mann ging einen Schritt zurück. Er wollte, dass die Kreatur wusste, dass er ihr nichts Böses wollte.
»Låt mig gå!«, knurrte sie erneut und Derric schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe dich nicht.«
Das grimmig aussehende Gesicht verdunkelte sich noch mehr. »Gehenlassen!«, wiederholte die Kreatur mit brüchiger Stimme. Und auf einmal fiel die Garstigkeit von dem Antlitz und das Wesen seufzte.
Derric konnte plötzlich sehen, dass es nicht zornig war, sondern wirklich nichts als Furcht empfand, Verzweiflung darüber, von einem fremden Volk gefangen worden zu sein. Verurteilt zum Tode, nur weil es anders war als sie. Etwas rührte sich in dem jungen Mann, als der Gefangene den Kopf hob und durch einen Spalt in der Käfigwand das Mondlicht in seine Augen fiel.
»Du bist es«, hauchte Derric und ging auf die Gitterstäbe zu. Er packte sie und streckte seinen Arm zu dem Wesen aus, das skeptisch dreinblickte. »Du hast mich gerettet am Tag des Sturms! Ich erkenne deine Augen.«
Die Kreatur schüttelte den Kopf, es verstand den jungen Mann nicht, doch diesen kümmerte es nicht. Er wusste, dass er Recht hatte.
»Ich werde dich befreien. Du sollst nicht gequält oder getötet werden, weil mein Vater dich nicht versteht. Halte nur noch etwas durch.« Derric zog die Hand zurück und begutachtete das Schloss, bevor er in das Haus seiner Familie zurückeilte, um nach dem Schlüssel zu suchen. Es war selbstverständlich, dass sein Vater diesen haben musste, schließlich waren es er und seine Männer gewesen, die das Meereswesen gefangen hatten. Es gehörte ihm.
Nur wenig später kehrte der junge Mann zu dem Käfig zurück, in dem die Kreatur voller Sehnsucht auf die Bucht hinaussah, die den natürlichen Hafen von Rus bildete. Das Wesen drehte Derric den Kopf zu, als es das Klirren des Schlüssels hörte und ein Schimmer von Hoffnung breitete sich in dem grimmigen Gesicht aus.
Der junge Mann sah sich ein letztes Mal verstohlen um, als er das schwere Schloss entriegelte und unter leisem Knarzen die Gittertür öffnete. Erst da wurde ihm bewusst, dass niemand Wachen am Käfig aufgestellt hatte. Reichlich töricht. Jedoch empfanden alle Furcht vor der sonderbaren Kreatur, selbst Derric konnte sie tief in sich spüren. Doch das Gefühl der Dankbarkeit, weil sie ihn vor dem Ertrinken bewahrt hatte, war größer.
»Gelingt es dir, allein aus dem Zuber zu kommen?«
Das Meereswesen knurrte und glitt mühelos aus der niedrigen Wanne. Seinen langen Schwanz konnte es noch immer nicht ausstrecken. Derric bemerkte, wie fasziniert er den Leib vor sich betrachtete. Der menschlich anmutende Oberkörper ging beinahe nahtlos in den schuppigen Fischteil über, um die Körpermitte trug das Wesen eine Art Gürtel aus Seegrasseilen und daran befestigt waren perlmuttfarbend schimmernde Muscheln, so geformt, wie es der junge Mann noch nie zuvor gesehen hatte.
Für einen kurzen Moment sahen sich die Meereskreatur und Derric in die Augen und dieser befürchtete, sie würde sich gegen ihn stellen, ihn mit ihren Krallen in Stücke reißen, weil seine Leute sie gefangen hatten, oder ihn packen, unter Wasser ziehen und elendig ersaufen lassen.
Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen stemmte das Wesen sich auf seine starken Arme und glitt über den Boden des Käfigs, der nur wenige Meter vom Ufer der Bucht entfernt aufgestellt worden war. Es war schnell und fast im Wasser angelangt, als Derric etwas einfiel.
Er eilte der Kreatur hinterher, seine Schritte erklangen hohl, als er auf den Steg lief.
»He!«, rief er gedämpft und konnte so das Wesen davon abhalten, unterzutauchen und zu verschwinden. Es hielt inne und schwamm an den Landungssteg zurück, wo es seine Finger auf das Holz legte und sich etwas hochzog.
»Verrate mir deinen Namen. Ich«, der junge Mann zeigte auf sich, »heiße Derric.«
»Mitt namn är Gill-Ra«, raunte die Kreatur mit rauer Stimme. Der junge Mann fragte sich, ob sie unter Wasser, sofern möglich, wohl anders klang.
Er lächelte und nickte. »Also dann, Gill-Ra. Lebwohl!«
Das Wesen sah Derric noch einen Moment an und verzog schließlich das grimmige Gesicht. Es lichtete sich, als Gill-Ra zurücklächelte und helle, spitze Zähne entblößte, bevor er sich vom Landungssteg abstieß und in den nachtschwarzen Fluten verschwand. Die helle Silhouette des Fischschwanzes schimmerte noch einige Sekunden unter der Oberfläche, bevor Derric sie nicht mehr sehen konnte.
Wenn die Leute am nächsten Morgen das Verschwinden des Wesens bemerkten, würde sein Vater wissen, dass er es befreit hatte, doch dieses Problem war eines für den neuen Tag. Für diese Nacht jedoch hatte Derric das ruhige Gewissen, denjenigen, dem er sein Leben zu verdanken hatte, nicht der Willkür der Menschen überlassen zu haben.
Vielleicht kam irgendwann der Tag, an dem er und Gill-Ra einander wiedersehen würden.
~ ENDE ~