Zu lange hatte ich hier schon gesessen. Zu lange.
Langsam glaubte ich, meinen Verstand zu verlieren. Wie war ich eigentlich überhaupt hier hin gekommen? Was hat das alles ausgelöst?
Ich dachte, ich hatte jetzt sowieso alle Zeit der Welt, eingepfercht in diesem Körper, in diesem Raum. Also fing ich an, über das nachzudenken, was geschehen war.
Ich hatte sie damals kennen gelernt, als ich in voller Eile auf dem Weg zum Hörsaal war. Schon wieder hatte ich mich in den Übungen meines Tutors verloren und die Zeit vergessen.
Sobald ich sehe, dass die Vorlesung schon seit 5 Minuten angefangen hatte, schmeiße ich verzweifelt alle meine Sachen in meinen Rucksack und ärgere mich jetzt schon darüber, dass ich nachher alles wieder ordnen muss. Während ich den Reisverschluss zu ziehe renne ich aus der Bibliothek auf den großen Campusplatz und habe nur ein Ziel im Auge: Das gegenüberliegende Gebäude, in dem die Mathematik Vorlesung ist. Eigentlich habe ich absolut keine Lust auf Mathe, der Stoff ist langweilig und der Professor macht es mir auch nicht leichter. Umso mehr weiß ich jedoch, dass jede verpasste Minute Ewigkeiten an Aufholarbeit benötigt.
Ich bin überrascht, wie schnell sich meine Beine bewegen und wie gut mein Körper dabei mit macht, normalerweise habe ich nicht so viel Ausdauer. Aber vielleicht liegt es jetzt auch nur am Adrenalin. Verdammt. Wieder überkommt mich eine Flut des Ärgers über mich selbst und für einen kurzen Moment passe ich nicht auf, wo ich hintrete.
Der offene Schnürsenkel war mir schon aufgefallen, aber eigentlich bin ich gut darin mit offenen Schuhen zu rennen. Heute ist dem zumindest nicht der Fall. Ich trete auf meinen Schnürsenkel, werde zurückgezogen und mache einen Hechtsprung über den vollen Weg. Bei dem Glück, das mich mein Leben lang schon zu verfolgen scheint, stoße ich einer Kommilitonen mit meinem Ellebogen in den Rücken und ziehe sie mit auf den Boden. Ich höre knackende Knochen als ich auf der jungen Frau lande und rolle mich nach Luft holend sofort auf die Seite. Das Mädchen liegt mit dem Kopf zur anderen Seite gerichtet fast leblos auf den Boden.
Sobald ich meine Atmung selber fast in den Griff habe – jetzt scheint mein Körper auch endlich mal mitzubekommen, dass ich die ganze Zeit gerannt bin – setze ich mich auf und drehe sie auf den Rücken. Verzweifelt suche ich nach einer Regung in ihrem Gesicht.
"Hallo?", sage ich. "Kannst du mich hören?"
Ich spüre die Blicke der anderen, während sie an uns vorbei gehen. Keiner scheint helfen zu wollen. "Hallo!", rufe ich jetzt und sehe in ihr Gesicht. Ihre geschlossenen Augen. Plötzlich zucken sie. Dann reißen sie sich weit auf und das Mädchen schreit nach Atem. Ich weiß überhaupt nicht was ich tun soll, suche nach einer Antwort in ihren Augen.
Zum Glück erholt sie sich schnell, und bald findet auch ihr Blick zu mir. Es überrascht mich nicht, dass sie mich völlig entsetzt ansieht.
"Es– Es tut mir so leid! Ehrlich! Ich hatte es so eilig und–"
"Schon gut", unterbricht mich ihre sanfte, gebrochene Stimme. "Sieh zu, dass du zu deiner Vorlesung kommst." Langsam steht sie auf und bietet mir ihre Hand an.
Vollkommen perplex greife ich danach und liasse mich auf die Beine ziehen.
"Wirklich alles gut?", frage ich nochmal, während ich anfange meine Taille zu massieren, da sich dort gerade ein übler Seitenstich breit macht.
"Alles in Ordnung. Beeil dich jetzt lieber", versichert sie mir und rückt den Kragen meines Hemdes zurecht.
Ich hole einen Stift aus meiner Tasche, nehme ihren Arm und schreibe meine Nummer auf. Wenn diese Sache noch irgendwelche Nachfolgen hat, muss ich davon wissen.
"Hier,", sage ich, während ich in krakeliger Schrift die Nummer auf ihren Arm ritze. Ein Wunder müsste geschehen, damit sie das überhaupt entziffern kann. "Wenn irgendwas passiert, melde dich bei dieser Nummer. Bitte." Kaum bin ich fertig renne ich auch schon los, obwohl meine Seite unheimlich schmerzt.
Einige Tage höre ich nichts von ihr. Ich erwische mich dabei, wie ich ständig auf mein Handy sehe, um zu gucken ob nicht schon eine Nachricht von einer unbekannten Nummer angekommen ist.
An einem Abend, als es angenehm kühl ist, beschließe ich in den Stadtpark zu gehen. Die Sonne steht schon tief und malt den Himmel pink und orange, als ich auf einer kleinen Brücke halt mache und den Enten beim Schwimmen zusehe.
Tief atme ich einmal ein und wieder aus, sehe in den Himmel und betrachte, wie sich immer mehr Sterne blicken lassen. Dank der Lichtverschmutzung sieht man hier aber nicht besonders viel. Es hat also eigentlich nicht viel Sinn den Himmel zu betrachten. Wieder widme ich mich dem Wasser und der Spiegelung des Rosa Himmels, in dem die kleinen Entenbabies spielen.
"Hey", höre ich in der Nähe. Ich weiß, das ich wahrscheinlich nicht angesprochen werde, aber ich beobachte trotzdem gerne, was sich in meiner Gegenwart so abspielt. Ich sehe in die Richtung und entdecke eine alleinstehende Person, die ihr Gesicht offensichtlich zu mir gewand hat.
Etwas fragend zeige ich mit dem Finger auf mich. "Meinst du mich?", frage ich.
Sie nickt. Irgendwie kam sie mir seltsam bekannt vor.
"Erinnerst du dich nicht an mich? Du bist letzte Woche in mich rein gerannt." Achso. Jetzt fällt es mir wieder ein. In der Eile hatte ich keine Möglichkeit, mir ihr Gesicht zu merken. Meine Züge entspannen sich etwas.
"Hi, was machst du hier?" Mein Körper wendet sich nun auch ihr zu, wobei ich mich noch am Geländer abstütze. "Tut mir nochmal leid wegen neulich. Ich hoffe, es hat keine zu großen Schäden von sich getragen."
Sie lächelt leicht und ein Kichern ist in ihrer Stimme zu hören. "Sonst hätte ich mich doch bei dir gemeldet, oder?", sagt sie.
"Stimmt", gebe ich zu. Peinliches Schweigen.
"Jedenfalls,", fängt sie an, und ich hebe meinen Kopf schnell in ihre Richtung, "Ich wollte dir nur bescheid geben, das ist alles. Du musst dir keine Sorgen mehr um mich machen, ich halte solche Dinge ganz gut aus."
Ich nicke verständlich. Nachdem wieder eine Weile lang nichts gesagt wird, dreht sie sich langsam um und setzt zum Gehen an.
"Warte!", rufe ich dann, und löse mich vom Geländer. Mann ist das peinlich. "Darf ich dich auf einen Drink einladen? Zumindest das schulde ich dir nach der ganzen Aktion."
Sie dreht sich mit einem süßen Lächeln um. "Ich trinke gerne Kaffee." Sie setzt schon zum gemeinsamen Spazieren an.
"Ach, du willst jetzt schon?", frage ich etwas überrascht. Sie nickt aber nur selbstbewusst. "Okay." Ich wundere mich etwas über diese Spontanität, aber das ist in Ordnung. Ich hatte eh keine Lust den Film heute Abend zu gucken.
"Ach ähm... Ist mir etwas peinlich, aber wie heißt du eigentlich? Wir sind ja nicht dazu gekommen, uns vorzustellen." Nebeneinander gehen wir in den eher schlecht beleuchteten Park hinein.
"Elise", antwortet sie wieder in ihrem federleichten Ton.
Elise... Ein schöner Name.
Wir setzen uns in ein uriges Cafe und unterhalten uns. Es ist etwas holprig, aber irgendwas an ihr bewundert mich, weswegen ich die Konversation unbedingt aufrecht halten will. Sie scheint damit allerdings auch kein so großes Problem zu haben. Ob es ihre sanfte Art ist zu sprechen, das süße Lächeln und leichte Kichern welches sie manchmal aufsetzt, die dünnen goldenen Armbänder, die sich wie ein Oval sanft an ihre dünnen Handgelenke schmiegen, oder vielleicht auch ihre faszinierenden Augen, bei welchen man sich nie sicher ist, ob sie wirklich jedes Mal gleich aussehen, wenn man sie ansieht.
Rückblickend komme ich mir echt dumm vor, dass ich sie damals nicht schon danach gefragt habe.
Als wir uns am Eingang des Parks verabschieden, bitte ich sie mir zu schreiben und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Auf dem Weg nach Hause denke ich nur an sie.
Vier Tage, nachdem wir uns in diesem Cafe unterhalten hatten, schreibt sie mich endlich an. Ich lege sofort mein Sandwich zur Seite und nehme das Smartphone in beide Hände. Elise bittet mich, heute wieder in das Cafe zu kommen.
"Tut mir leid,", sage ich zu Jake, meinem Kumpel, der gegenüber bei mir am Tisch sitzt und gerade einen großen Bissen von seinem Burger nimmt, "Aber heute schaffe ich es nicht zum Training."
Er sieht mich enttäuscht an. "Waff?" Ein paar Salatstücke fallen aus seinem Mund. "Aber näfden Monad ifft doch daff Fpiel! Wie kannfft du da jetft fehlen?"
"Ihr kommt auch gut ohne mich zurecht. Außerdem sagst du es ja, es ist erst nächsten Monat. Scheiß dir also mal nicht so in die Hose, wir schaffen das schon", kaum habe ich das gesagt, antworte ich Elise mit der Zusage.
Auf meinem Weg zum Cafe muss ich mit dem Gespamme von Jake in meiner Hosentasche klarkommen. Aber sobald das Training beginnt, ist mein Handy schon still.
Ich stehe vor dem Cafe und sehe mich um. Elise ist noch nicht da.
Plötzlich ergreift mich eine Hand von hinten und zieht mich mit sich.
"Was–", will ich schon anfangen zu schreien, als ich Elise vor mir sehe. "Elise?" Ich bin etwas verwirrt.
"Sei eben still", sagt sie in einer rauchigen Stimme und zieht mich weiter mit sich. Was passiert hier gerade? Ein Versuch, aus ihrem Griff zu entkommen, scheint auch sinnlos. Sie hat mich voll im Griff.
Elise zieht mich in eine Seitengasse und mir gefällt überhaupt nicht, was hier gerade passiert.
Wieso habe ich sie denn da schon nicht gefragt?
Aber ich bleibe still, will ihr Vertrauen nicht brechen. Nachdem sie sich kurz umgesehen hat, sieht sie mir nun fest in die Augen. Bei unserem letzten Treffen war sie nicht so direkt mit dem Blickkontakt.
"Okay, hör mir zu", diese Art zu sprechen war ich von ihr absolut nicht gewohnt. "Ich habe eine sehr ungewöhnliche Bitte, aber ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll. Bitte sag mir einfach, ob du dabei bist, oder nicht. Wir haben nicht viel Zeit." Den letzten Satz betont sie nochmal.
Was passiert hier eigentlich gerade? Was soll das? Wir haben nicht viel Zeit? Was für eine Bitte? Und ich darf mir das noch nichtmal anhören? Während mir all die Gedanken durch den Kopf rauschen und mir mein Bauchgefühl ganz deutlich Nein sagt, sehe ich in ihre Augen. Ihre Pupillen beben und sehen beinahe so aus, als hätten sie die Form eines fünfzackigen Sterns. Die Farben ihrer Iris' wollen mir einen Streich spielen, wechseln sie doch ständig die Farbe und scheinen so unnatürlich, aber doch gleich so natürlich zu sein. Pink, Orange, Grün, klares Blau...
"Okay", sage ich schließlich und glaube nicht, was mir da gerade aus meinem Mund gekommen ist. Wollte ich nicht eigenlich Nein sagen? Spricht nicht alles in dieser Situation dagegen? Aber viel kann ich jetzt auch nicht mehr dagegen tun, denn Elises ernsthaftes Nicken ist das letzte, was ich zu sehen bekomme.