Prompt 60min Challenge: „Verblichene Fotografien“
Hinweise:
Bei dieser Geschichte handelt es sich um eine Einzelgeschichte, aber die Figur des „Gregorius von Wattenstein“ ist Bestandteil einiger anderer Erzählungen. Es handelt sich hier um einen Grafen, der schriftstellerisch tätig ist und sehr zurückgezogen in der Toskana lebt.
„Markus, du kannst dir heute freinehmen“, eröffnete der Graf seinem Butler mit einem ungewöhnlich ausdruckslosem Gesicht.
„Seid Ihr sicher, Herr Graf?“
„Natürlich.“
„Ich… ich… weiß, welcher Tag es ist. Wenn Sie meine Unterstützung brauchen?“
„Das wird nicht notwendig sein. Trotzdem danke, mein Freund.“
„Dann werde ich mich jetzt zurückziehen. Sie wissen ja, wie Sie mich finden können, sollten Sie jemand zum Reden brauchen.“
Der Adlige nickte, ohne direkt zu antworten. Seine Augen fokussierten den Angestellten nicht länger und mit den Gedanken schien er bereits weit weg zu sein.
Daher bemerkte Gregor auch nicht mehr, wie sich der andere diskret entfernte und lautlos den Raum verlies.
Der Schriftsteller seufzte. Sein Diener und Freund wusste genau, was los war. Trotzdem war er diskret genug, nicht weiter nachzubohren und es dabei zu belassen, Hilfe anzubieten.
Die er, Gregor, jedes Jahr ablehnte.
Denn dies war seine Sache. Und helfen konnte ihm dabei keiner.
Es war seine Aufgabe, damit klarzukommen.
Dies gelang ihm auch ganz gut, zumindest die meiste Zeit über. Aber jedes Jahr, genauer gesagt am 25.07., überkam es ihm erneut - die Trauer, die Wut über all das, was geschehen war.
Ungewöhnlich kraftlos schlich er die Treppe nach oben, in eines der Zimmer. Es war das einzige, welches keinem seiner Gäste zur Verfügung stand. Denn dieser Raum war einst seinem Bruder vorgehalten gewesen – und dies sollte auch nach wie vor so sein.
Und so blieb dieses Zimmer leer – denn es würde nie mehr belegt werden. Denn Leopold von Wattenstein, sein älterer Bruder, gab es nicht mehr.
Vorsichtig holte der Graf einen Schlüssel aus der Hosentasche und steckte ihn in das Schloss. Gleich einem Ritual drehte er ihn sehr langsam herum und öffnete in Zeitlupe die Türe.
Abgestandene Luft kam ihm entgegen.
Keiner durfte diesen Raum mehr betreten. Mit Ausnahme des Eigentümers selbst.
Gemessenen Schrittes ging Gregor auf eines der Fenster zu und öffnete es. Nach einem kurzen Zögern noch ein zweites.
Es würde sicher Sinn machen, hier mal richtig zu putzen und alles auf Vordermann zu bringen – allein, er brachte es nicht fertig. Auch wenn er nicht an Gott glaubte, so wäre es ihm wie Blasphemie vorgekommen, hier etwas zu verändern.
Zögernd ging er zum Schrank und öffnete ihn.
Eigentlich war er dafür gedacht, Kleider darin aufzubewahren. Davon gab es jedoch nur wenige – zwei Anzüge mit passenden Hemden, dazu ein paar Schuhe und ein wenig Unterwäsche und Socken. Alles Dinge von Leo – er hatte es stets vorgezogen, seine Kleidung selbst mitzubringen. Diese Ausstattung war quasi die Notausrüstung gewesen, falls der Koffer beim Flug nicht ankommen sollte.
Mit traurigen Augen musterte der Autor kurz den schwarzen Sakko, ehe er den Kopf nach oben reckte und eine große Truhe aus dem oberen Regal holte. Sie war stabil und nicht gerade leicht – da die Bretter jedoch massiv waren und es sich nicht um gepresste Holzplatten handelte wie bei vielen neuen Möbeln, sondern um massive Bretter, konnten diese das Gewicht gut tragen, ohne durchzuhängen. Und Gregor hatte genug Kraft, um die Kiste mühelos runterzuholen.
Bedächtig trug er sie zu dem großen Bett in der, ehe er den Schranktüren wieder schloss. Nur die Schuhe zog er aus, dann machte es sich halb sitzend, halb liegend auf der Matratze gemütlich.
Noch ein kurzes Zögern, dann hob der Graf langsam den Deckel hoch und blickte hinein.
Da lagen sie – all die vielen alten Fotografien, die er darin aufbewahrte und ein Mal im Jahr anschaute. Es war ein feststehendes Ritual, die ihm Freunde und Leid zugleich brachte. Es waren glückliche Erinnerungen, die bittersüß in seinem Herzen nachhallten.
Zum Großteil waren die Bilder alt und bereits verblasst - sie zeigten nicht nur seinen Bruder, sondern auch andere Verwandten und Freunden, die noch lebten, oder eben aus verschiedenen Gründen von ihm gegangen waren. So fanden sich auch Aufnahmen von Markus Eltern, die bereits wie sein Sohn Diener der Wattensteins gewesen waren.
Er sollte sich endlich überwinden und einige für Markus nachmachen lassen, er würde sich sicher sehr darüber freuen – sie waren sowohl schwarzweiß wie auch farbig, hatten aber teilweise einen seltsamen Rot- oder Braunstich bekommen. Sicher konnte ein guter Fotograf die Farben verbessern. Ein Geschenk, über welches sich der Butler sicher gefreut hätte – wenn sich Gregor nur endlich aufraffen konnte, das in Angriff zu nehmen.
Aber ihm überkam diesbezüglich eine eigentümliche Lethargie, die absolut untypisch für ihn war. So viele Erinnerungen, die er mit den Ablichtungen verband.
Seltsam auch, wie der Zahn der Zeit unterschiedlich an den Fotografien nagte – manche waren schon sehr verblichen, andere dagegen schienen zwar altertümlich, aber im Wesentlichen noch farbecht zu sein. Ja, auch schwarzweiß konnte verblassen und heller werden.
Mit einem Seufzen holte er eine hervor, die Leo zeigte – das musste an seinem offiziell dreißigsten Geburtstag gewesen sein. Mit dem Alter war es allerdings so eine Sache…
Kurz danach war Leopold fortgezogen und hatte den Kontakt mit seinen alten Freunden nach und nach einschlafen lassen müssen… notgedrungen…
Der Adlige schob diesen Gedanken beiseite. Es half nichts, darüber nachzugrübeln. Das Schicksal hatte es anders bestimmt.
Er hatte wenig Kontakt mit seinem Bruder gehabt. Dazu waren sie zu verschieden gewesen. Leo hatte stets den Kontakt mit anderen gesucht und war „Hans Dampf in allen Gassen“ gewesen, wie man wohl so sagt. Er, Gregor, konnte auch gut mit Menschen umgehen. Er beherrschte alle Kniffe der Kommunikation und wirkte nach Bedarf höflich, geheimnisvoll oder auch dominant, wenn es seinem Zweck diente. Trotzdem brauchte er immer wieder Zeiten den Rückzugs, um Dinge mit sich selbst auszumachen.
Während er auf das Bild starrte, merkte er, wie es in ihm hochkam.
Auch das war nicht ungewöhnlich.
Weshalb nur hatte er sich so oft mit ihm gestritten? Immer wieder waren sie zusammengerasselt.
Sie waren sehr verschieden gewesen, mit unterschiedlichen Ansichten und Meinungen. Sie hatten sich gemocht – aber Geschwister wissen nun mal ganz genau, welche Knöpfe sie drücken müssen, um den anderen zur Weißglut zu bringen. Vor allem, wenn man sich so lange kennt.
So viele verpasste Chancen.
Fünf Jahre war es nun her. Leopold war in einem Gebäude gewesen, dass durch einen technischen Defekt in Brand geraten war. Die meisten hatten sich retten können – sein Bruder leider nicht. Man hatte nichts mehr von ihm gefunden – alles war lichterloh vom Feuer verschlungen worden.
„Bruder, wo immer du jetzt bist, ich hoffe, es geht dir gut“, flüsterte der Schriftsteller mit leiser Stimme. Einzelne Tränen bildeten sich in seinen Augen und flossen langsam die Wangen hinunter. Der Mann merkte es nicht einmal -so versunken war er in seiner Trauer und dem Leid, dass er sie lange gar nicht bemerkte.
Stattdessen betrachtete er die alten verblichenen Bilder, immer und immer wieder, ganz vertieft mit sich und seinen Gefühlen.
Erst einige Stunden später waren die Tränen versiegt, die Bilder wieder im Schrank verstaut und das ehemalige Zimmer seines Bruders abgeschlossen.
Gregor wusste selbst nicht, was ihn jedes Jahr dazu trieb. Es wühlte ihn immer wieder aufs Neue auf, die Fotografien anzusehen und sich gedanklich mit seinem Bruder zu verbinden.
Er schien es jedoch zu brauchen, um mit diesem Verlust fertigzuwerden.
Denn paradoxerweise fühlte er sich nach einigen Tagen wieder besser und hatte Kraft genug, sich den Ärgernissen des Alltags zu stellen. Sein Bruder wieder in Gedanken weggesperrt, so schien er doch mit ihm zu sein – irgendwie.