„Fuck!“
Sie presste die Worte leise, aber voll inbrünstiger Wut zwischen den Zähnen hindurch. Ihr dröhnte der Schädel, als ob sie ordentlich eine übergebraten bekommen hatte. Vermutlich hatte sie das auch... Über ihren Kopf war ein Sack gestülpt worden und erschwerte ihr zusätzlich die Orientierung. Sie kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie dann wieder einen Spaltbreit. Es drang nur wenig Licht durch den dicht gewebten, dunklen Stoff, doch es war eindeutig Tag. Der Feuchtigkeit des Grases nach, auf dem sie wie ein Embryo zusammengerollt lag, war es noch früh am Morgen.
Ob sie bereits umzingelt war? Vielleicht wurde sie beobachtet. Vielleicht wartete nun jemand darauf, dass sie ein Lebenszeichen von sich gab und zeigt, dass sie noch eine potentielle Gefahr darstellte. Sie stellte sich vor, wie jemand nur mühsam ein hämisches Kichern unterdrückte und wartete, bis sie sich endlich den Sack vom Kopf schüttelte, nur um festzustellen, dass sie das Spiel schon verloren hatte und ihr einer dieser unwürdigen Geschöpfe ein Messer oder ähnliches an die Kehle hielt und zur Aufgabe zwang. Doch sie würde eher sterben als zu verlieren! Töten war kein Muss und sie glaubte eigentlich auch nicht daran, dass einer der anderen sie töten wollte. Sie hatte sich zwar selbst kaum dazu herabgelassen, mit anderen Rekruten auch nur Wort außerhalb der Ausbildung zu wechseln und sie hatte immer gespürt, dass es niemandem sonderlich unrecht war, aber sie tatsächlich umbringen, das traute sie ihnen nicht zu.
Sie schloss erneut betont ruhig die Augen, atmete tief durch und zwang sich zur Konzentration. Meditativ lauschte sie und ließ die Umwelt auf sich wirken. Jedes Geräusch, jeden Geruch, jedes Gefühl.
Blätter rauschten in einer leichten, aber kühlen Briese. Vögel zwitscherten. Kein leises Atmen. Keine zerknackenden Zweige unter schweren Stiefeln. Keinerlei verdächtige Geräusche. Soweit so gut. Die Handgelenke hatte man ihr auf dem Rücken zusammen gebunden. Ziemlich straff und schmerzhaft. Die Kälte der Nacht und ihre schleichende Feuchtigkeit waren in ihre Glieder gekrochen und schmerzten. Ihre Arme und Beine fühlten sich taub und steif an.
Wann ist sie abgeholt worden? Es ließ sich schwer schätzen. Die Nacht war fortgeschritten, aber sie hatte vor Aufregung kein Auge zu getan, doch natürlich besaß sie keine Uhr. Zappelnd hatte sie im Bett gelegen und wartete, bis sie endlich kamen. Bestimmt hatten sie sich bemüht leise zu sein, mussten aber auch angenommen haben, dass sie nicht schläft, wie es vermutlich keiner in dieser Nacht getan hat. Sie wusste nicht, wie sie es angestellt hatten plötzlich war da nur ein dumpfer Schmerz und dann war alles schwarz.
Und hier hatte man sie nun abgesetzt. Sie lag vielleicht schon Stunden ohne jede Deckung herum.
Wie lange genau…? Sind die anderen auch gefesselt…? Nein, bestimmt nicht!
Sie setzte sich auf die Knie auf und rollte die Schultern ein paar Mal, um sich etwas zu lockern. Ihre Beine waren frei und nicht zusammengeschnürt.
Sonst hätten sie mich auch gleich an einen Baum binden können…
Sie beugte sich so weit nach vorne wie es ging und schüttelte sich frustriert den derben Sack vom Kopf, der sämtliches Tageslicht erfolgreich verbarg. Als sie sich schließlich befreit hatte, und das lange, statisch aufgeladene dunkele Haar aus dem Gesicht und zurück auf den Rücken geworfen hatte, stellte sie erleichtert fest, dass sie wie durch ein Wunder noch allein war. Wahrscheinlich war doch noch nicht so viel Zeit seit dem Transport vergangen.
Sie befand sich, im hohen Gras kauernd, auf einer kleinen Lichtung, mitten in einem ihr fremden Buchenwald. Es war hell, doch die Sonne hat sich noch nicht bis über die Baumwipfel erhoben und die Hitze der vergangenen Tage mit sich gebracht. Aufmerksam sah sie sich nach allen Seiten um, wie sie es gelernt hatte, überflog das üppige Unterholz mit scharfem Blick, doch konnte niemanden zwischen den Bäumen entdecken.
Gänsehaut kroch ihr schaudernd über die Wirbelsäule hinauf und dem Mädchen wurde bewusst, dass sie mit nichts als einem Nachthemd und ihrer Gänsehaut, dem Sack und den Fesseln ausgestattet worden war.
„FUCK!“, schimpfte sie etwas lauter und unverkennbar wütend. Das ist doch nicht dein scheiß Ernst! Wie befreie ich mich schnell aus diesen verdammten Fesseln?
Sie streckte die eingeschlafenen Beine durch, wackelte etwas mit den kribbelnden Füßen, um sie zu wecken und erhob sich langsam und vorsichtig, wie ein neugeborenes Rehkitz. Wackelig stand sie schließlich mit bloßen Füßen im Gras. Ich fasse es einfach nicht! Nicht mal Schuhe! Verdrießlich brachte sie sich in eine sitzende Position, drehte den Oberkörper in beide Seiten, soweit sie konnte und ließ ihre Wirbelsäule knacken. Dann dehnte sie die Arme nach hinten und bildete ein Oval über ihrem verlängerten Rücken. Mühsam und nicht ohne Schmerzen, zwängte sie erst ihren Hintern, dann die langen Beine durch die erzwungene Armschlaufe. Dank des täglichen Trainings, mit seinen zahllosen Dehnungsübungen, schaffte sie es, ihre Arme erst unter sich hindurch und schließlich vor ihren Körper zu biegen, ohne ihre Muskeln schmerzhaft zu überdehnen.
Dieser kleine Erfolg schmälerte ihren jedoch Zorn keineswegs. Schnaubend stand sie wieder auf, sah sich noch mal um und ging mehr oder weniger ziellos auf die Bäume im Osten zu, um von dieser Lichtung zu verschwinden, bevor sie ihr doch noch zum Verhängnis wurde. Fieberhaft überlegend, wie sie ihre Hände befreien könnte, tappte sie in den sommergrünen, dicht bewachsenen Mischwald, intuitiv immer darauf achtend so leise wie möglich zu sein. Sie lauschte auf ihre Umgebung, hörte aber weiterhin keine nahende Gefahr.
Sie fragte sich, ob schon Rekruten aufeinander getroffen und sogar schon jemand raus war. Sie brannte darauf, auf ihre Mitstreiter zu treffen - sobald ihre Handgelenke frei waren. Bis auf einige Wenige war es ihr eigentlich egal, wen sie auf ewig dazu verdammte ein minderwertiges Leben zu führen. Nein, sie sind mir alle scheiß egal.
Sie sind zwar alle seit Jahren gemeinsam ausgebildet worden, hatten zusammen gegessen, und alle - bis auf sie selbst - im gleichen Schlafsaal gewohnt, doch waren auch immer wieder dazu angehalten worden, keine Freundschaften oder Schlimmeres entstehen zu lassen. Und obwohl jeder wusste, dass an diesem Tag, hier in diesem Wald, jeder nur für sich kämpfte, und dass theoretisch alles erlaubt war und nur der eigene Sieg zählte, geschah genau das natürlich dennoch. Nur ihr nicht. Immer sind sie auch ermahnt worden, einander nur kampfunfähig zu machen und so zur Aufgabe zu zwingen, doch wenn im Eifer des Gefechts mal jemand drauf ging… Nun, dann war das halt so.
Sie hielt Ausschau nach Wegen oder Wildpfaden, obwohl es unwahrscheinlich war, dass es welche gab. Das Areal war eingezäunt. Die vier Tore standen zwar offen, wenn keine Prüfung stattfand, doch hier hatte sich nie viel Wild angesiedelt. Als ob Tiere diesen Ort bewusst mieden.
Die junge Frau suchte nach irgendetwas, das sie später zur Orientierung nutzen konnte, markante Bäume oder andere Pflanzen, Steine oder ähnliches. Langsam wurde es deutlich wärmer, obwohl die Sonne bisher nur zaghaft durch das üppige Laub glitzerte. Die Steifheit ihrer Glieder war verflogen und die gewohnte Geschmeidigkeit in ihre Bewegungen zurückgekehrt. Nach einer ganzen Weile des Umherirrens hörte sie ein leises Plätschern. Wasser!
Sie hatte keinen Durst, aber Wasser würde schon bald wichtig werden. Wasser war Leben. Und wer weiß, wie lange sie hier sein würde, bis sie alle gefunden hatte – oder gefunden wurde. Sie hatte gehört, dass es schon Prüfungen gegeben hatte, die über eine Woche gedauert hatten.
Sie musste schnell diese verfluchten Fesseln loswerden und hoffte einen scharfen Stein zu finden und den Strick daran durchwetzten zu können. Behutsam näherte sie sich dem verheißungsvollem Geräusch und duckte sich zwischen dicht gewachsene mannshohe Büsche und erstarrte zur Salzsäule. Da stand jemand. Scheiße! Sie pirschte sich näher ran, um zu sehen, wer es war. In dem Moment drehte er sich um - ein junger Mann, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als sie selbst - und spähte in den Wald, als ob er etwas - sie ? - gehört hätte. Sie rührte sich nicht und war sich relativ sicher im dichten Gestrüpp unsichtbar für ihn zu sein. Die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen, um besser gegen das reflektierende Licht des schmalen Bachlaufs zu sehen, spähte sie durch die Zweige.
Wer zur Hölle…? Sie erkannte ihn nicht. Nicht gut!
Trotz ihrer Ignoranz gegenüber den anderen, war das schlicht nicht möglich. Ihr Gedächtnis war hervorragend, sie vergaß nie eine Stimme und das dazugehörige Gesicht. Es war definitiv keiner von den anderen! Aber wer dann und was machte er in ihrem Wald? Soweit sie wusste, war das Gebiet zwar groß, aber durch die Zäune, gekrönt mit uraltem Stacheldraht, konnte hier niemand so ohne weiteres rein. Er konnte sich also nicht hier her verlaufen haben. Und dieser Kerl stand da so dermaßen ungeschützt herum, als ob er nicht wusste, wo er sich befand. Und mit wem. Als ob er vielleicht nicht hier her gehörte. Er wusste sichtlich nicht, welche Gefahr ihm drohte.
Das Mädchen betrachte ihn eingehend und versuchte anhand Haltung und Verhalten mehr über ihn herauszufinden. Groß war er, aber nicht riesig, etwa einen halben Kopf größer als sie selbst. Ein dunkler Bartschatten, zeugte von einer unterbrochenen regelmäßigen Rasur. Die unpassende Kleidung war jedoch das Auffälligste. Er war nicht uniformiert und ausgestattet mit Waffen. Protektion und sichtbaren anderen Utensilien, die man gut hätte gebrauchen konnte, wenn man sich vermutlich mehrere Tage und Nächte in der Wildnis aufhielt, wie die sie anderen es wahrscheinlich erhalten hatten. Wie ich sie hätte bekommen sollen!
Der junge Mann sah eher aus wie ein Landstreicher. Schmutzige Hosen mit ausgebeulten Taschen an den Oberschenkeln, die vor langer Zeit mal schwarz gewesen sein mochte, und schon an etlichen stellen mit Flicken versehen war. Uralte dunkelbraune Bergstiefel, die wahrscheinlich mehr Jahre auf den Sohlen hatten, als der Mann selbst. Sein Unterhemd hatte die Farbe vergorener Milch. Es lugte unter einem ausgeblichenen grün-braun-karierten Hemd hervor und entblößte einen streifen gebräunte Haut. Eine abgewetzte, speckige erdbraune Lederjacke, die ihre beste Zeit lange hinter sich hatte, komplementierte seine heruntergekommene Erscheinung. Der Kerl schien aus einer kühleren Gegend zu kommen. Er würde sich bald zu Tode schwitzen. Das Army Cap, das mindestens so alt wie seine Stiefel war, vielleicht sogar vom selben armen toten Soldat geklaut wurde, beschattete die obere Gesichtshälfte des Manns und hüllte die Augen in Dunkelheit. Wer bist du... ?
Vorsichtig schob sie sich Millimeter für Millimeter durch das stachlige Gestrüpp, fest entschlossen diesen Kerl irgendwie zu ihrer Befreiung zu nutzen. Der Landstreicher hatte ihr inzwischen wieder den Rücken zugekehrt und ist am Ufer in die Hocke gegangen, um eine Handvoll Wasser zu trinken. Er schien überhaupt nicht damit zu rechnen, dass ihm jemand auflauern könnte. Es machte sie etwas stutzig, förderte aber keineswegs irgendwelche Skrupel. Gebückt und auf federnden Sohlen, bewegte sie sich auf einen dicken abgebrochenen Ast zu, der nicht weit von ihr entfernt lag. Stets den Blick auf den Rücken des Mannes gerichtet, schlich sie sich in einem leichten Bogen an, erreichte unentdeckt den dicken Ast und hob ihn behutsam auf. Er war trocken und die Rinde war morsch, aber immer noch schwer genug um seinen Zweck zu erfüllen. Den Ast in der Hand wie einen Schläger, pirschte sie sich an den Mann an, holte aus und ließ ihn auf ihr ahnungsloses Opfer niedersausen. Sie traf seinen Kopf an der Seite, kurz über dem rechten Ohr. Sofort gaben seine Beine unter ihm nach und er kippte wie ein gefällter Baum zur Seite ins weiche Gras.