Klack.
Meine Augen senkten sich auf meine Hand. Ohne mein bewusstes Zutun schürzte ich meine Lippen, während ich langsam den Schlüssel eine halbe Umdrehung nach links bewegte. Meine rechte Hand lag bereits auf der Türklinke, und obwohl das einzelne Klicken mir bestätigt hatte, dass die Entriegelung geöffnet war, zögerte ich, die Klinke nach unten zu drücken.
Als ob ich einen Grund suchen würde, nicht das Haus zu betreten, sah ich über meine Schulter. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages brachen durch die bunten Blätter der Bäume, die mein Mann und ich vor vielen Jahren entlang des Weges zu unserem Haus gepflanzt hatten. Das Grün des Rasens hatte eine gelbliche Farbe angenommen. Unkraut wucherte an mehreren Stellen aus den Fugen des Weges, der zur Terrasse hinter dem Haus führte.
Feuerrot
Die Kristallsplitter in den schwarzen Pflastersteinen schimmerten um die Wette, während sich das Firmament hinter den Baumkronen in ein rötliches Flammenmeer verwandelte.
Kurz schloss ich die Augen und genoss den kühlen Wind, der ungestüm mit meinen blonden Haarsträhnen spielte.
Ich wollte mich gerade zur Tür drehen, da weckte eine Bewegung zwischen den Zweigen meine Aufmerksamkeit.
Als ob der seltene Gast sichergehen wollte, dass ich ihn zwischen den Blättern sehen würde, hob er den kleinen Körper und plusterte das gräuliche Federkleid auf. Er legte seinen Kopf zurück und aus dem Schnäbelchen floss eine derart liebliche Melodie, dass ich mich vollständig umdrehte. Die weißen Federn an der Kehle, die von Kobaltblauen umgeben waren, glitzerten wie frisch gefallener Schnee.
Life is beautiful
Die Melodie nahm an Kraft zu. Und je länger ich dem Blaukehlchen zuhörte, umso mehr erinnerte es mich an einen Liebenden, der seiner Gefährtin die Schönheit des Lebens durch ein für sie komponiertes Lied aufzeigen wollte.
Ein aufgeregtes Zwitschern erklang von der anderen Seite des Gartens. Lächelnd beobachtete ich, wie der kleine gefiederte Freund durch die Äste hindurch schoss und dem Lockruf folgte.
Ein letztes Mal blickte ich die Allee hinunter.
Die goldenen Strahlen waren verblast und hatten einer gräulichen Düsternis platz gemacht. Gänsehaut wanderte über meine Oberarme und breitetet sich als kalter Schauer über meinen Rücken aus.
Ich hatte noch nie Angst vor der Dunkelheit. Besonders in der Nähe unseres Hauses hatten sich noch nie zuvor die Härchen in meinen Nacken aufgestellt. Daher wandte ich mich kopfschüttelnd um und drückte die Klinke hinunter.
Staubgeruch
Quietschend bewegte sich die Tür nach innen. Laut seufzend und mit verdrehten Augen betrete ich den Flur. Eigentlich hätte Aramis die Scharniere einfetten wollen, aber wahrscheinlich war ihm etwas dazwischen gekommen. Der Luftzug, der nun durch die Eingangstür wehte, stob die dünne Staubschicht auf dem Boden auf.
Meine Hand bewegte sich bereits in Richtung des Lichtschalters, als ich einen schwachen Schimmer am Ende des Flurs entdeckte. Der Argwohn von vorhin blitzte durch meine Gedanken.
Ich war mir sicher, dass ich den Schlüssel zweimal im Schloss gedreht hatte, nachdem ich das Haus verlassen hatte.
Von einem Atemzug zum Nächsten waren sie da, die unzähligen Schmetterlinge im Bauch. Meine Handflächen fühlten sich nasskalt an und die Finger zitterten so stark, dass mir der Schlüsselbund entglitt. Klirrend landeten die Schlüssel auf dem weißen Marmorboden. Das Geräusch hörte sich wie ein Donnerschlag in dem leeren Haus an. Der Laut breitete sich wie eine Sturmwelle in dem dämmrigen Gang aus.
Lähmung
Ich zuckte zusammen. Mein linker Zeigefinger und Daumen begannen meinen Ehering am rechten Ringfinger zu drehen. Sofort verlangsamte sich mein Herzschlag, und das laute Pochen in den Ohren verebbte. Mein Blick bewegte sich zwischen dem Durchgang zum Wohnzimmer und der noch immer weit aufstehenden Tür hin und her.
Tief durchatmend, versuchte ich meine aufgewühlten Gefühle soweit zu beruhigen, dass ich mich wieder bewegen konnte.
Die rückkehrende Stille brachte die Entscheidung.
Zuerst seufzend, dann mit einem überdrehten Kichern, hob ich das rechte Bein und schlüpfte aus dem schwarzen Pumps. Absichtlich geräuschvoll stellte ich beide auf die verdreckte Schuhunterlage und knallte die Handtasche mit dem Hausschlüssel auf die abgedeckte gläserne Ablage der Kommode.
Dunkelheit
Aus irgendeinem Grund entschied ich mich, dass Licht noch immer nicht einzuschalten. Ein sanftes schmatzendes Geräusch erklang bei jedem Schritt. Der Marmor fühlte sich angenehm kühl unter meinen bloßen Fußsohlen an. Ich blickte zurück und musterte kurz die Abdrücke auf dem Boden. Als ich nur mehr zwei Meter von dem Rundbogen zum Wohnzimmer entfernt war, fiel mir wieder das schummrige Licht auf.
Es bewegte sich, als ob eine Windbrise mit den Flammen von unzähligen Kerzen tanzte. Ein nur zu bekannter Duft ließ mich innehaltend. Mit geschlossenen Augen genoss ich die süßlich-herbe Luft, die meine Nase kitzelte und meine Lippen zu einem Lächeln formte.
Prada L’homme Intense
»Aramis«, seufzte ich.
Die Schmetterlinge waren wieder da. Dieses Mal begrüßte ich das Gefühl, der mich durchfließenden Wärme.
Plötzlich hörte ich es. Die zarte Melodie, die mich erschaudern ließ. Obwohl ich noch im Flur stand, sah ich vor meinen geschlossenen Augen Aramies am schwarzen Flügel sitzen.
Seine Finger berührten kaum die Tasten und der rechte Fuß tippte behutsam die Pedale.
Bemüht, kein Geräusch zu verursachen, wodurch ich den besonderen Moment womöglich zerstören würde, schlich ich die letzten Schritte zum Durchgang.
Das Klavier stand im Erker, den Aramies extra von einem Architekten bei der Renovierung des alten Herrenhauses bauen hatte lassen. Durch die sechs bis zum Boden reichenden Fenster fiel das verbleibende Tageslicht. Es war hell genug, dass ich Aramis auf dem Klavierhocker sitzend, sehen konnte.
Seelenverbundene
Eine einzelne Kerze stand auf dem Gehäuse und erhellte die Tasten aus Elfenbein.
Die linke Schulter gegen die Mauer gelehnt, beobachtete ich meinem Mann. Die schwarzen Haarsträhnen bewegten sich in fließender Bewegung zu der ruhigen Melodie, die den Raum ausfüllte. Der Kerzenschein ließ die grauen Haare an den Schläfen aufblitzen. Seine Kiefermuskeln bewegten sich und durch das blasse Licht erschien sein Gesicht kantiger, als es eigentlich war. Innerlich seufzend gestand ich mir ein, dass ein Leben ohne ihn nicht mehr lebenswert sein würde. Obwohl kein Laut über meine Lippen geflossen war, drehte er mir plötzlich das Gesicht zu. Seine weißen Zähne blitzten. Durch sein liebevolles Lächeln setzte kurz mein Herz aus. Aramis’ Augen strahlten.
Wir waren einige Meter von einander entfernt, trotzdem spürte ich seine Seelenwärme. Seine Liebe umgab meinen Körper, hüllte mich ein.
Kurz vergaß ich zu atmen und tauchte in das Gefühl ein.
Riiiiiinnngg
Ich wollte gerade auf ihn zugehen, als die Türklingel schellte.
»Warte, beweg dich nicht«, hauchte ich.
Bevor ich mich umdrehte, warf ich Aramis eine Kusshand zu.
Wie unzählige Male zuvor, fischte er den Kuss aus der Luft und berührte mit dem Zeige- und Mittelfinger seine vollen Lippen.
Erneut zerschnitt das metallische Schrillen der Klingel die gefühlerfüllte Stimmung.
Zähneknirschend beschleunigte ich meine Schritte. Mein Blick blieb auf dem schwarz umrahmten Bild an meiner Rechten hängen. Zärtlich streifte der Nagel meines Zeigefingers über die Schleife an der rechten Kante. Es verging ein Atemzug, indem ich erstarrte und mich in den eisblauen Augen meines Mannes verlor.
Das ungeduldige Hämmern gegen die Eingangstür riss mich aus den Gedanken. Tiefe Falten zerfurchten meine Stirn, die Mundwinkel zuckten und das linke Auge hatte sich zu einem schmalen Strich verkleinert, als ich die Türe aufriss.
Ein rothaariger Junge machte einen Satz zurück und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Für einige Atemzüge starrten wir uns schweigend an. Der ihn einnehmende Schrecken war deutlich durch das hektische Zittern seiner Wangenmuskeln zu erkennen.
Er räusperte sich: »Entschuldigung ... für die späte Störung.«
Sein Blick senkte sich auf den verpackten Blumenstrauß vor seiner Brust.
»Frau Dr. Waismann?«
»Ja.«
Papier raschelte. Ungeschickt stopfte er sich den Papierball in die Hosentasche.
»Die sind für sie.« Zögerlich streckte er die Arme aus, dabei schielte er an mir vorbei. »Ahhh ... und diese Karte.«
»Vielen Dank«, presste ich durch meine geschlossenen Lippen.
»Auf Wiedersehen.« Schief lächelnd, trat der Junge zurück und eilte die Allee hinunter.
»Auf Wiedersehen«, rief ich ihm nach und schoss die Tür hinter mir.
Blüte der Reinheit
Die Dunkelheit und Stille nahm mich sofort gefangen. Tief atmete ich durch die Nase ein. Der Duft der weißen Madonnen-Lilien füllte augenblicklich den Raum aus. Mein Zorn auf den unerwünschten Störer verrauchte langsam. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen. Die letzten Jahre erhielt ich an diesem Tag, immer zur selben Zeit einen Strauß von Lilien.
In Gedanken versunken ging ich in Richtung Wohnzimmer und zählte die Blüten.
Zehn.
Für jedes Jahr eine.
»Du hast es nicht vergessen«, seufzte ich.
Als ich unter dem Rundbogen stand, sah ich zum dunklen Erker.
Weißer seidiger Stoff verhüllte den Flügel. An dem Staub war zu erkennen, dass seit langer Zeit niemand mehr die Hülle entfernt hatte. Mein Blick verschleierte, während ich die Karte aus dem Umschlag pullte.
Ich erkannte eine dunkle Schrift auf dem hellen Papier. Wegen des dämmergrauen Lichts konnte ich nicht mehr die Nachricht lesen.
Es war auch nicht nötig, ich wusste was darauf stand.
»Ev,
Liebe meines Lebens,
Mutter unserer Kinder.
Wo immer ich gerade bin,
du sollst wissen, dass ich dich liebe.«
Das Kärtchen entglitt mir und schwebte zu Boden.
Keuchend fiel ich auf die Knie. Meine Arme legten sich um meinen zusammengepressten Brustkorb, der sich so anfühlte, als ob ich in einem Auto sitzen würde, das ungebremst von zehn Meter Höhe stürzte.
Und wie bereits im Jahr zuvor, übermannte mich in diesem Moment die Gewissheit, wie ich den Schmerz entfliehen konnte.
Wie Eveleth von den Schmerzen entflieht, kannst Du hier weiterlesen -
https://belletristica.com/de/books/17793-eineinhalb-sekunden?chapter=67875