Die Augen sind der Spiegel der Seele, behauptet ein altes Sprichwort. Wie kommt es dann, dass man sich darin so täuschen kann? Sie war eine Person, die nicht etwa kam, sie erschien! Ihr dahingleiten hatte nichts mit Gehen zu tun, auch nicht schreiten, sie schwebte auf einen zu. Sie war eine Erscheinung, die allen im Raume Anwesenden für Sekunden den Atem raubte, den Männern das pure Verlangen, den Frauen den blanken Neid aufzwang, noch bevor sie ihre sinnlichen vollen Lippen zum Hauch eines Grußes öffnete.
In ihrem Umkreis schien sich alles nur mehr in Zeitlupe abzuspielen. Während ihr weißblondes Haar ohne den geringsten Windhauch nach hinten wehte, konnte man einen Blick auf ein wunderschönes Gesicht erhaschen. Ein Blick in die großen Blauen Augen reichte, um jeden Mann augenblicklich in abgrundtiefe Unvernunft zu treiben, ungeachtet seiner Herkunft oder Persönlichkeit.
Wo immer sie auftauchte lag Neid und Eifersucht in der Luft und doch konnte sie einen so unschuldig ansehen, dass man einfach dahinschmolz...
Das erste mal sah ich sie, als ich mit meinen beiden Freunden Albert und Christian Samstag abends im Schlossbräu saß. Früher waren wir immer zu viert gewesen, Als Josef noch mit uns in die Sauna gegangen war, doch seit dem tragischen Unfall vor einem Jahr...ja, genau auf den Tag vor einem Jahr, war Josef nie mehr der Selbe gewesen.
Wir hatten damals alle vier in dem Auto gesessen und waren auf dem Heimweg von der Sauna, die wir zur Winterzeit wöchentlich gemeinsam aufsuchen. Danach genehmigen wir uns im Allgemeinen ein paar Bier im Schlossbräu, so wie auch heute. Also wir waren eigentlich auf dem Heimweg vom Schlossbräu und Josef hatte, entgegen seiner Gewohnheit, diesmal auch als Lenker Bier getrunken. Aber er war ganz sicher nicht angetrunken im Sinne von fahruntüchtig, im Gegenteil, selbst beim Alkotest hatte er nur 0,22 Promille. Trotzdem gibt er sich noch heute die Schuld am Tod jener Jungen Frau die gerade ihren Polterabend mit ihren Freundinnen gefeiert hatte und auf der Flucht vor weiteren Alkoholexzessen war. Während ihre Freundinnen um Nachschub an die Theke gegangen waren, ist sie in einem unbeobachteten Moment zur Tür raus und in ihrem Rausch mitten auf der Strasse nach Hause gegangen... Sie kam dort niemals an. Josef hatte sie in der Dunkelheit am Ausgang der Kurve zu spät gesehen und überfahren. Wir waren alle furchtbar geschockt. Obwohl wir sofort Rettung und Polizei riefen und verzweifelt erste Hilfe leisteten, erlag sie noch an der Unfallstelle ihren schweren Verletzungen. Ich war nur Beifahrer, doch ich wünsche meinem grössten Feind nicht solch ein Erlebnis!
Am schlimmsten war für Josef die Tatsache, dass sein Opfer in einer Woche geheiratet hätte und er somit auch den Schmerz der Hinterbliebenen zu verantworten hatte. es tat ihm in der Seele weh, den jungen Brautleuten und deren Familien alles Glück zerstört zu haben, aber er konnte doch nichts dafür! Keiner hätte diesen Unfall verhindern können, aber dieses Argument ließ er nie gelten.
Da saßen wir nun ein Jahr später ohne Josef im Bräu, als die Tür aufging und diese unglaublich schöne Frau hereinkam, anmutig, einer Göttin gleich. "Grüß Euch! Ich bin Natascha." hauchte sie, doch jeder vernahm ihre Worte, so still war es durch ihr Erscheinen in der Gaststube geworden. "Ich suche den Dorfer Sepp! Könnt ihr mir sagen, wo ich den finde?"
Jeder von uns bemühte sich um eine Antwort, doch stammelten wir eigentlich alle nur was von zu Hause und wo das denn wäre, geblendet von der Ausstrahlung dieser graziösen Erscheinung. "Danke! Wir sehen uns!" Und mit einem hinreißenden Lächeln verließ sie uns, die wir ihr mit offenen Mündern nachschauten bis die Tür ins Schloss fiel...
Man möchte meinen, dass Männer wie wir danach über einen "heißen Feger" diskutieren würden, doch hinterher betrachtet fällt mir auf, dass uns diese Erscheinung Respekt abverlangte. Wir sahen uns an und ich war es, der das Schweigen brach. "Ich hab noch nie ein so perfektes Wesen gesehn!" sagte ich. Seltsamerweise stimmten mir meine Freunde ohne Blödelei einfach zu...
Am Montag darauf erreichte mich die Nachricht, Josef sei heute nicht zur Arbeit erschienen und nicht ans Telefon gegangen. Als Albert, der im selben Betrieb arbeitete, in der Mittagspause zu ihm fuhr, fand er Josef tot in seinem völlig zertrümmerten Schlafzimmer vor. Selbst das Bett war zerstört. Die Haustür war zu, aber nicht versperrt gewesen. Alle anderen Zimmer, wie auch der Flur, waren tadellos aufgeräumt. Josef war schlimm zugerichtet, sein Leichnam wurde nach diversen Spuresicherungsarbeiten der Polizei in die Gerichtsmedizin gebracht. Es wurde auf jeden Fall von Fremdeinwirkung ausgegangen.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Mein Verstand wollte sich nicht damit abfinden, dass so etwas bei uns im Dorf und noch dazu mit einem Freund passiert war! Natürlich kam die Kriminalpolizei auch zu mir, weil ja sein nahes Umfeld besonders durchforstet wurde, aber auch ich konnte keine sachdienliche Auskunft geben. Auch Natascha brachte ich eigentlich nicht mit dem Mord in Verbindung, wenngleich ich auch nach ihren Personalien gefragt wurde, ich hatte sie ja vorher nie gesehen. Auch Albert und Christian hatten sie dem Ermittler gegenüber erwähnt, hielten sie aber auch nicht für verdächtig.
Am Donnerstag erzählte mir der Kommissar, der Leichenbeschauer könne sich keinen Reim darauf machen, aber alles deute darauf hin, das Josef von einem Pferd zu Tode getrampelt worden war. Die Verletzungen waren von unbeschlagenen Pferdehufen verursacht worden. Die Spurensicherung aber ging davon aus, dass der Fundort der Leiche auch auch der Tatort war. "Das ist der verzwickteste Fall meiner bisherigen Laufbahn!" sagte er. Ich konnte es ihm nachfühlen.
Es dauerte noch eine ganze Woche, bis Josefs Leichnam freigegeben wurde, sodass wir ihn erst am Freitag beisetzen konnten. 38 Jahre war er geworden. Das letzte davon verbrachte er meist nachdenklich alleine zu Haus. Er war Single gewesen und seine Mutter war vor zwei Jahren gestorben, deshalb kam sein Onkel um alles zu regeln. Christian, Albert und ich waren seine engsten Freunde gewesen und wir waren seit unserer Jugend immer füreinander da, bis... ja bis zu diesem Unfall. Seitdem war uns Josef entglitten, sodass wir uns heute fragten, ob wir uns nicht noch mehr um ihn bemühen hätten sollen. Aber er hatte eigentlich niemanden mehr wirklich an sich ran gelassen.
Wir standen da also um das offene Grab herum und da kam sie. Ganz in schwarz mit einem kleinen Schleier vorm Gesicht "schwebte" sie heran, hielt mit gesenktem Haupt am Grab kurz inne und warf schließlich eine Rose auf den Sarg.
Mit einem kurzen Nicken zu uns verließ sie den Friedhof so plötzlich wie sie gekommen war. Selbst im Trauergewand ging eine unglaubliche Faszination von dieser Person aus.
Am nächsten Tag rief ich Christian an, um ihn zu fragen, wer denn heute Abend den Chauffeur gebe. "Ach Hans, ich hab ganz vergessen es dir zu sagen, ich geh heut nicht mit in die Sauna! Ich kann nicht! Weißt du, ich hab da jemanden kennengelernt..."
Ich war verblüfft! Das war ja noch nie dagewesen, dass Christian wegen eines Dates seinen Saunaabend schwänzte! "Das muss ja ein heißer Feger sein, wenn du uns dafür hängen lässt!" scherzte ich. "Da kannst du drauf wetten! Morgen stell ich sie dir vor, ok?" - "Na gut, dann bis morgen!"
Albert und ich genossen die Sauna, waren aber ziemlich schweigsam. Zu sehr hatten uns die vergangenen Wochen zugesetzt. Dass Christian auf einmal "fremdging" kam uns ebenfalls etwas sonderbar vor. Der musste sich ja ordentlich verknallt haben...
Nach der Sauna gingen wir wie immer zum Schlossbräu. es war ja nicht weit vom Wellnessbereich bis zum Bier. Obwohl wir beide uns immer gut verstanden, wollte einfach keine Stimmung aufkommen, so fuhren wir schließlich (mit meinem Wagen) nach Hause. Ich musste daheim vorbeifahren, um ihn abzuliefern, das dauerte aber nur ein paar Minuten. Als ich endlich heimkam, legte ich mich sofort hin und fiel in einen tiefen Schlaf. Gegen Morgen träumte ich von Sepp und Albert und schließlich von Natascha. Doch im Traum vermittelte sie nicht dieses absolute Hochgefühl. Ich sah diese wunderschöne Frau vor mir, doch ich hatte Angst vor ihr...ja ich fürchtete sie...
Beim morgendlichen Kaffee fragte ich mich, wo sie wohl hergekommen war und schließlich, wohin sie wieder verschwunden war. Da läutete mein Handy, Albert war dran. "Hans, halt dich fest! Christian ist tot!" Ich fiel aus allen Wolken. Albert machte keine Pietätlosen Scherze, ich konnte mich auf sein Wort verlassen. "Wie zum Teufel, oder was ist denn passiert, verdammt? Hatte er einen Infarkt?"
"Nein" würgte Albert unter Tränen hervor. Ein Tier muss ihn angefallen haben, ein riesiger Hund oder was. Es hat ihn total zerfleischt Schau´s dir besser nicht an!"
"Wo?" - "Zu Hause in seinem Bett!"- "Na hör mal, wie kommt ein Hund, oder was auch immer, in sein Schlafzimmer?"- "Das hat mich Kommissar Weber auch gefragt!"
Nicht nur Albert wurde befragt. Es war der zweite höchst dubiose Mordfall innerhalb drei Wochen, der sich wie der Erste als völlig unlösbar darstellte. Als sich Weber mit mir unterhielt, wurde mir klar, dass es kaum Ansatzpunkte gab. Jemand musste mit dem Vieh (was immer es war) zu ihm ins Schlafzimmer gegangen sein, das Tier auf ihn losgelassen haben und schließlich mir nix, dir nix wieder gegangen sein, ohne auch nur die geringste Spur hinterlassen zu haben. Ein in meinen Augen völlig unmögliches Unterfangen... Auch diesmal war die Haustür geschlossen aber nicht versperrt. Zu all der Ungewissheit kam die Trauer um die geliebten Freunde, mit denen wir doch das halbe Leben zugebracht hatten! Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten...
Die Obduktion ergab tatsächlich die Bißmuster eines Wolfes oder Wolfsähnlichen riesenhaften Hundes. Vermutlich hatte die durchtrennte Halsschlagader zum Tod geführt, obgleich der ganze Körper zerfleischt worden war. Etwa zwei Wochen später erwiesen wir also Christian die letzte Ehre. Vor vierzehn Tagen hatte er mit uns Josefs Sarg getragen, jetzt lag er selbst darin... Ich konnte das alles gar nicht verarbeiten. Und wieder kam Natascha. Voller Anmut und Schönheit zog sie alle Blicke auf sich, verweilte kurz vor dem offenen Grab und warf eine Rose auf den Sarg. Ungeachtet der Umstehenden ging ich die paar Schritte vor, griff behutsam ihren Oberarm und sagte leise: "Natascha, wir müssen reden"
Einen winzigen Sekundenbruchteil glaubte ich in eine hässliche vogelartige Fratze zu schauen, als sie sich mir zu wandte, meine Nerven waren wohl am Ende, denn ein Engel schaute mir ins Angesicht. Sie schaute mich mitleidig an, legte ihre warme seidenweiche Hand auf meine und sagte: "Ja, das müssen wir, Hans! Und das werden wir!" Mit diesen Worten verließ sie den Schauplatz und mich, der ich hin und her gerissen zwischen Begeisterung und Misstrauen gar nicht merkte, dass sie mich bei meinem Namen genannt hatte. Diese Frau weckte in jedem Mann eine nie gekannte Sehnsucht...verrückt, einfach verrückt! Doch trotz meines mutigen Vorstoßes war ich nun" so klug als wie zuvor"! Ihre Antwort hatte aber so etwas wahrhaftiges, dass ich davon ausging, sie würde mich kontaktieren...
In der folgenden Nacht schlief ich schlecht. Ich drehte mich von einer Seite zur Anderen und träumte die übelsten Dinge. Interressanter Weise, war ich im Traum immer fähig Klar zu denken in der Gegenwart von Natascha, während ich in Wirklichkeit neben ihr zu keinem rationalen Gedanken fähig war. Immer wieder ging mir der Augenblick durch den Kopf als ich sie berührte. Die Wahrnehmung war irre kurz und wahrscheinlich falsch gewesen, aber sie ließ mich misstraurisch werden. Vielleicht auch deshalb, weil ich mich so gut an die Angst in einem meiner ersten Träume erinnern konnte. Schade, dass Kommissar Weber nicht beim Begräbnis gewesen war. Er hatte nach wie vor keine Informationen über sie, geschweige denn ihre Personalien. Diese Frau war so schön wie geheimnisvoll.
Die folgende Woche verlief praktisch ereignislos, was meiner inzwischen angeschlagenen Psyche durchaus zu Gute kam, denn mittlerweile war ich zu einem Nervenbündel verkommen. Ich wartete bereits sehnsüchtig auf den Sauna-Samstag. Albert und ich hatten uns darauf geeinigt, unseren gemeinsamen Herrentag zu Ehren unserer "gefallenen" Freunde weiter aufrecht zu erhalten. Also rief ich ihn am Freitag an. Erfolglos! Er war einfach nicht zu erreichen. Normalerweise hätte ich mir kaum Sorgen gemacht, aber die letzten Wochen hatten mich gelehrt auf meine Freunde aufzupassen...
Es kam eigentlich nie vor, dass Albert nicht zu erreichen war. "Einmal ist immer das erste mal",versuchte ich mich zu beruhigen. Sobald ich aus der Firma konnte, fuhr ich ohne Umwege zu seiner Wohnung. Er öffnete nicht. Ich ging hinunter in den Hof. Sein Porsche stand auf seinem Parkplatz im Gemeinschaftscarport der Wohnanlage. Verdammt, was sollte ich denn tun. Jetzt wurde ich aber richtig nervös. Wieder versuchte ich es mit einem Anruf - vergeblich. Als ich vom Hof auf die Straße zu meinem Wagen ging stand sie da! "Ich wusste, dass du kommst, Hans." flüsterte sie. Ich war völlig perplex! "Wir müssen reden!" - "Das sagtest du bereits, Hans. Nun, Ich bin da." Was war an dieser Person, das mich erzittern ließ? Tiefes Verlangen, sie zu küssen , sie zu besitzen; sie auf Händen zu tragen wechselte sich ab mit Furcht, Scham und Neugier!
Es kam mir nicht in den Sinn sie zu fragen, woher sie mich, meinen Namen kannte. Sie spürte meine Unsicherheit und nahm meine beiden Hände und schaute mir ganz tief in die Augen. "Entspann dich Hans! Komm, lass uns zu dir fahren und über alles reden. Nicht hier auf der Strasse!" Wie gut sich ihre Hände anfühlten, sich ihre Nähe anfühlte! Sie hakte sich unter und schmiegte sich auf dem Weg zum Auto förmlich an mich. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl wogte durch meinen Körper! Sie hatte mich vollends in ihren Bann geschlagen!
"Herr Wolters, Herr Wolters!" Die Frau des Hausmeisters rief meinen Namen, als wir in den Wagen steigen wollten...aus einem Fenster von Alberts Wohnung! "Rufen sie die Polizei!" Es ist etwas schreckliches passiert, "Oh Gott, oh Gott!" Sie war kreidebleich...
"Geh!" hauchte Natascha, "Wir reden später. Ich komme zu dir." - "Aber..." Wieder rief mich die verzweifelte Hausmeisterin. Ich wandte mich ihr zu und kramte nach meinem Handy in der Jackentasche. Als ich mich wieder Natascha zuwandte, war sie verschwunden...
Ich finde keine Worte meine Verfassung auch nur ansatzweise zu beschreiben. Die Hausmeisterin hatte sich gewundert, dass Alberts geliebter Porsche sich die ganze Woche nicht bewegt hatte, aber augenscheinlich niemand zu Hause war. Die Nachbarschaft war gut in diesem Haus, eigentlich nur angenehme Charaktere. Unabhängig von mir hatte sie sich ebenfalls Sorgen gemacht, und mit dem Hausmeisterschlüssel nach dem Rechten geschaut. Ein trauriges Bild bot sich im Bad: Albert lag tot in seiner Badewanne. Eine große Schwanenfeder lag auf seiner Brust...
Kommissar Weber versuchte mit mir zu reden, aber ich war völlig unfähig mich zusammenhängend zu artikulieren. Ich stammelte nur unzusammenhängende Sätze. Ich bekam noch mit, wie der Arzt, welcher den Todeszeitpunkt schätzte, zu Weber kam. "Herr Moser scheint tatsächlich ertrunken zu sein. Kampfspuren konnte ich noch nicht feststellen, dazu möchte ich mich erst nach der Obduktion äussern." Er schaute mich kurz an und meinte: "Herr Kommissar, Sie sollten diesen Herrn nach Hause bringen lassen, ich gebe ihm etwas zur Beruhigung. In diesem Zustand ist er ohnehin nicht vernehmungsfähig."
Ich erinnere mich dunkel an eine kurze Fahrt im Streifenwagen. Die Beamten begleiteten mich in meine Wohnung, wo ich mich auf die Couch legte. Sie platzierten meine Schlüssel auf dem Couchtisch, wünschten mir gute Besserung und zogen die Tür hinter sich ins Schloss. Ich nahm alles wie durch Watte wahr, jedes Geräusch klang weit entfernt, das Beruhigungsmittel schien erst jetzt vollends zu wirken. Endlich schlief ich ein.
Irgendwann begann ich zu träumen. Die vergangenen Wochen zogen an meinem geistigen Auge vorbei, immer wieder sah ich Natascha und spürte wildes Verlangen nach ihr, während mich gleichzeitig Angst und Scham plagten. Auch Begebenheiten von früher mischten sich nun in meine Träume. Erinnerungen aus meiner Lehrzeit mit meinem Freund Dimitri. Er hatte mit mir gelernt. Er war ein guter Freund. Ein guter, warmherziger Mensch. Gebürtiger Bulgare war er... Er ging später sogar zurück in seine Heimat, die er so sehr liebte. Oft Erzählte mir Dimitri Geschichten und Sagen aus seiner Heimat. Ich hörte ihm immer gerne zu. Er kannte sich gut aus in der slawischen Mythologie und erzählte daraus so, als wären alle Sagen Tatsache. "Ich bin nicht abergläubisch, Hans" sagte er oft, "Aber es gibt Vieles, das wir nicht begreifen und genau deshalb nicht glauben wollen..." Ich wälzte mich von einer Seite zur Anderen.
Natascha! Ich hatte das Gefühl, sie sei bei mir. Sie saß bei mir und hielt liebevoll meine Hand in ihren Händen. Eine wohlige Wärme erfasste mich. Ich erwachte und sah in Ihre wunderschönen blauen Augen! "Ja Hans, entspann Dich! Ich bin ja da. Ich hab dir ja gesagt, dass ich komme..." Seltsamer Weise erschrak ich nicht. im Gegenteil, ich war erleichtert. Und glücklich, dass meine Traumfrau mir zu dieser Stunde beistand. Sie war so betörend schön, so einfühlsam. Ich versuchte mich aufzurichten. Sanft legte sie mir ihre Hand auf die Brust und drückte mich zurück in die Kissen. Sie kniete plötzlich über mir, setzte sich auf meine Lenden und küsste mich leidenschaftlich. Ich war so glücklich! Und doch... Es waren so viele Fragen offen! Irgendwo zwischen Trauer und Glück erinnerte ich mich plötzlich an den Moment auf dem Friedhof und während sie mich nochmals küsste, kam auch die Erinnerung an Dimitri...
Voller Angst, mir jetzt auch noch das größte Glück meines Lebens zu zerstören, wickelte ich eine feine Strähne ihres weißgoldenen Haares um den Mittelfinger und zupfte mit aller Kraft daran.
Ein infernalischer Schrei, gleich dem eines Schweines, das in Todesangst brutal zur Schlachtbank getrieben wird, begleitete die urplötzliche Verwandlung meines "Liebesengels" in ein lederhäutiges, geierartiges, böses, stinkendes Monster das mir seine Klauen noch in den Hals schlug, während sie bereits zu Staub zerfielen! Innerhalb Sekunden zerfiel die Kreatur, die gerade noch den Gipfel meines Glücks verkörpert hatte. Der Staub auf mir und der Couch löste sich auf, als würde er vom Stoff aufgesaugt. Dann war es still!
Ich richtete mich auf, zog meine Knie in meine Arme und weinte still in mich hinein. Meiner Freunde und meiner Traumfrau beraubt saß ich da und wusste nicht, ob ich überhaupt noch leben wollte...
Das uralte Wissen aus Dimitris Erzählungen hatte mich vor dem tödlichen Kuss einer Veela gerettet...
Ich weiß nun , wer meine Freunde, und beinah auch mich getötet hat. Aber ich werde mich hüten, es Kommissar Weber zu erzählen! Er wird mir nicht glauben und der Mörder existiert nicht mehr. Ich werde mich nicht für verrückt erklären lassen. Nur Einer wird mir glauben... einen Freund hab ich noch... irgendwo in Bulgarien...
EPILOG
Laut slawischer Mythologie sind Veela (auch Vila oder Vily) der Gestaltumwandlung befähigte Kreaturen, die aus vor der Hochzeit gestorbenen Bräuten entstehen. Fähig, außer der Gestalt der schönen Jungfrau, auch die eines Wolfes, eines Pferdes oder eines Schwans anzunehmen, sind sie daran interessiert, Männer zu fangen und zu behexen.
Wenn Veela zornig werden, verwandeln sie sich in geierartige Wesen mit schuppigen Flügeln. Wenn sie mit Männern nur tanzen, kann das deren Tod bedeuten. Bringt man eine Veela jedoch gegen ihren Willen auch nur um ein einziges ihrer Haare, so ist das ihr sicheres Ende...