Prompt: Weihnachtszauber (25.12.19)
Startzeit: 21:50 Uhr
Ende: 22: 49 Uhr
*******
Verschlafen sehen mich die großen blauen Augen meines Enkelsohnes an. Er ist auf der Treppe eingeschlafen, während er eigentlich den kleinen Tisch vor der Stube beobachten wollte. Darauf warten, wie jedes Jahr, Kekse und Milch auf das Christkind.
Jan hat seinen Sohn hochgenommen, dabei ist er aufgewacht. Sofort windet er sich und dreht sich im Arm. Sein Blick wandert von mir zum Tisch. Seufzend lehnt er dann seinen Kopf an die Schulter seines Vaters.
»Es war ja immer noch nicht da, Oma«, meint er enttäuscht. Lachend streiche ich ihm über den Rücken. »Vielleicht hat es uns vergessen?« In der Stimme des Sechsjährigen schwingt eine Panik mit. Jan lacht leise und setzt den Jungen ab, streicht ihm über den blonden Schopf.
»Das glaube ich nicht, Schatz. Es ist doch noch früh. Erinnerst du dich nicht? Letztes Jahr kam es, während wir in der Kirche waren.« Der Kleine legt seine Stirn in Falten. Dabei mustert er seinen Vater gründlich, dann endlich nickt er.
»Und wann gehen wir in die Kirche?«, will er wissen.
Verschwörerisch blinzelt Jan ihm zu.
«In etwa einer Stunde. Oma hat uns gerade frischen Kakao gemacht und vielleicht magst du ja auch ein paar Plätzchen probieren?«, schlägt er dem Kind vor. Jetzt ist sein Blick schon wacher. Er reibt sich kurz über die Augen. Dann folgt er uns beiden in die Bibliothek.
Keine zehn Minuten später drückt sich David die Nase an der Fensterscheibe platt. Kopfschüttelnd reicht ich meinem Mann den Teller mit den Leckereien. Traditionell gibt es Kaffe, Kakao und Weihnachtsnaschereien, ehe wir zum Kirchgang aufbrechen. Gerade hat er unserem Enkelsohn erklärt, dass sich das Christkind bestimmt irgendwo in der Nähe versteckt und nur auf unseren Aufbruch wartet. Vorzugsweise auf einem Dach oder einem Baum, schließlich könne es ja fliegen. Jan muss sich auf die Lippe beißen und grinst seinen Vater vergnügt an.
»Jetzt setz dem Kind doch nicht noch mehr Unfug in den Kopf. Er ist doch sowieso schon völlig aufgedreht«, raune ich ihm zu. Paul nippt an seinem Kaffee, greift zu einem Vanillekipferl und brummt leise. Auch unseren Jungs hat er in diesem Alter alle möglichen Legenden erzählt. Ich kann mich noch gut an das Jahr erinnern, an dem Jans älterer Bruder im Baumhaus ausharrte. Auch er hat damals geglaubt, dass sich das Christkind von Dach zu Dach weiterbewegt und sich ausgemalt, dass das Dach des kleinen Baumhauses ein idealer Landeplatz sein könnte.
Es dämmert bereits, als wir endlich aufbrechen. Der kleine David steht im Hof und er mustert nacheinander die Werkstatt, den Kotten und den Schuppen. Ehe er das Haus verlassen hat, hat er sich nochmal vergewissert, dass ausreichend Proviant zur Stärkung bereit steht. Paul schlägt seinen Mantelkragen hoch und ruft den Jungen zu sich. Aus der Einliegerwohnung gesellen sich unser ältester Sohn Martin und seine Partnerin Nele zu uns. Jan steht noch an der Haustür, er wartet noch auf seine Frau. Ich hake mich bei Paul unter und lausche dem Geplapper des Jungen. Der Mund will gar nicht mehr still stehen. Endlich ist auch Isabelle soweit und wir können los. Gerade als wir auf die Straße treten, quietscht David vor Freude los.
»Oma, Opa!! Da war es gerade. Ich hab es gesehen!« Sein Finger deutet wild auf den Schornstein des Haupthauses und er will sich losreißen. Doch Paul reagiert blitzschnell.
«Na, du wirst es doch in Ruhe arbeiten lassen wollen?«, mahnt er. Jan schließt zu uns auf und übernimmt seinen Junior. Flüstert ihm zu, dass Christkinder äußerst schreckhaft seien und womöglich bei einer Störung fluchtartig das Haus verlassen und dann keine Geschenke da lassen. Erschrocken sieht David von seinem Opa zu seinem Vater und dann geht er brav an der Hand Jans weiter. Aber er ist etwas stiller als vorher, muss offenbar über das Gesagte nachdenken.
Nur eine Viertelstunde später sitzen wir in der Kirchbank. Während die restlichen Gemeindemitglieder ihre Plätze aufsuchen, lehnt sich David an Paul und lässt sich wie jedes Jahr die Malerei erklären. Immer wieder sieht er sich staunend um. Ich drücke Pauls Hand kurz und lächle ihn an. Für mich ist der Gottesdienst immer der Moment, in dem mich die besondere Weihnachtsstimmung abholt. Ich denke kurz an die vielen schönen Feste, die wir als Familie erleben durften. Unser erster Heiligabend als Ehepaar. Das erste Fest mit Martin oder auf unserem Hof. Das Weihnachten, an dem Pauls Mutter mit Jan das erste Mal musizierte. Und ich denke auch an die stilleren Feiertage nach Ellis oder Jakobs Tod. An das Fest vor zwei Jahren, als Jan in seiner Krise steckte, aber uns diese Frau vorstellte. Ihre Verlobungsnachricht im letzten Jahr. Und jetzt sitzt Isabelle auf der anderen Seite Davids und trägt dessen Geschwisterchen unter dem Herzen.
Wo und wie wir wohl kommendes Jahr feiern werden?
Meine Gedanken werden jäh unterbrochen, als Pfarrer Bautz mit seiner Predigt beginnt. Wie immer ein sehr stimmungsvoller und besinnlicher Christgottesdienst.
Doch diesmal hält er eine Besonderheit bereit. Ich muss lächeln, als Jan leise aus seiner Reihe schlüpft und Isabelle ihm fragend nach sieht. Sie ist nicht eingeweiht und wir alle haben das Geheimnis gut bewahrt. Als die Orgel einsetzt, schließe ich kurz die Augen und mir kommt ein weiteres Weihnachten in den Sinn. Als der Chor beginnt, erlebe ich beinahe ein Deja vue. Ich öffne meine Augen und blicke neben mich. David hat sich fest an Paul gekuschelt und der atmet tief durch. Ich spüre den Druck seiner Hand. Über Isabelles Wangen laufen Tränen, kaum dass sie die eine Stimme heraus hört, die dann auch das Solo übernimmt. Das Ave Maria klingt durch das Kirchengebäude und Jans Stimme ist warm und gefühlvoll. Wie lange habe ich das nicht von ihm gehört? Isabelle dreht ihren Kopf zu uns, ihre Hand ruht auf dem Bauch. Ich lächle sie an und verlegen wischt sie sich die Tränen aus den Augen.
Erst am Ausgang treffen wir wieder auf Jan, der seine Frau fest in die Arme zieht. Auch wir loben ihn auf dem Weg zum Friedhof. Hier und da wird er angesprochen, was mich mit stolz erfüllt.
Davids vorletzte Geduldsprobe steht an. Die er ganz gut meistert. Erst steht er bei seinen Eltern, dann wechselt er zu uns. Paul hat ihn irgendwann auf den Arm genommen und ich habe ihm als Anreiz noch eine Marzipankartoffel zugesteckt. Trotzdem ist er sichtlich erleichtert, als auch das letzte Weihnachtslied verklungen ist. Endlich geht es nach Hause.
Wie jedes Jahr stürmt er noch in Jacke und Mütze zur Stubentür. Zufrieden dreht er sich um.
»Alles weg! Aber Papa, kannst du gucken, ob es auch Geschenke gebracht hat?«, bettelt er dann.
»Das sehen wir doch auch erst, wenn das Glöckchen geläutet hat. Vielleicht ist es noch da und wir stören es, das können wir doch nicht riskieren, oder?« Jan hilft seinem Sohn aus der Jacke und verspricht ihm, dass es nicht mehr lange dauern kann. Aber in der Zeit könnten wir essen, erklärt er. Wir wissen, warum es an diesem Abend nur Kartoffelsalat mit Würstchen gibt. Das haben wir schon in den Kindertagen Martins und Jans eingeführt. Es lässt sich perfekt vorbereiten und ist schnell auf dem Tisch.
So auch heute. Die Würstchen lenken den Jungen ein wenig ab. Doch kaum ist er fertig, rutscht er unruhig auf dem Stuhl hin und her. Dann fällt ihm was ein.
»Wir müssen noch den Rehen was bringen.« Paul nickt und wie immer steht er mit David als erstes vom Tisch auf. Ein Ritual, das er schon mit unseren Söhnen durchgezogen hat. Es gibt uns die Zeit, den Tisch abzuräumen, die Musik in der Stube anzustellen und die Kerzen anzuzünden. Auch dieses Jahr hofft David darauf, dass er es endlich hören kann, wenn die Tiere in dieser einen Nacht wie die Menschen sprechen können. Allein deswegen liebt er diesen kurzen Gang zur Grundstücksgrenze, wo Paul die Futterkrippe auffüllt.
Noch ist David in diesem herrlichen Alter, in dem er uns all die kleinen Geschichten glaubt und sie ganz tief in seinem Herzen einschließt. Für ihn ist dieser Tag eine einzige magische Reise. Jan und Martin haben diese ebenso geliebt und es macht mich unglaublich glücklich, dass auch sie all die lieb gewonnenen Traditionen und Rituale weitergeben. Kurz darauf werden wir mit dem schönsten Kinderlachen und den strahlendsten Kinderaugen belohnt. David steht vor dem Weihnachtsbaum und betrachtet ihn mit einem besonderen Glanz. Er schwört natürlich Stein und Bein, dass ihm an der Futterkrippe gleich zwei Rehe eine fröhliche Weihnacht gewünscht haben.
Und so übermütig und lebhaft er sonst ist, jetzt steht er fast etwas andächtig und scheu in der Stube. Da liegen Geschenke, aber er traut sich gar nicht so richtig hin. Jan nimmt ihn zu sich auf den Schoß und zusammen singen wir Stille Nacht. Dann flüstert er seinem Sohn etwas ins Ohr und der Kleine grinst übers ganze Gesicht. Dann endlich geht er auf die Knie und zieht ein Paket hervor, auf das Jan zuvor gezeigt hat.
Ich wünsche mir so sehr, dass wir noch viele solcher Weihnachtsfeste mit der wachsenden Familie genießen dürfen. Paul sitzt im Sessel, stopft seine Pfeife und sein Blick ruht auf dem Jungen, der einen Legobaukasten inspiziert. Dann sieht er zu mir und mein Herz ist voller Liebe. Für diesen Mann, dieses Kind und diese ganze Familie. Und für den Zauber, der uns heute begleitet hat.
Fröhliche Weihnachten!