Lieber Felix!
Ich wünsche dir frohe Weihnachten und hoffe, dass dir diese kleine Geschichte gefällt. Deine Vorgaben waren Magie und Natur mit dem Kommentar, dass es etwas Besinnliches mit maximal 26,5 Toten sein sollte. Es hat sehr viel Spaß gemacht, diese kleine Geschichte zu schreiben.
Dank geht auch an meinen Papa, der mich zu der „Konfliktlösung“ auf dem Berg inspiriert hat.
Zornig pfeffert Elias einen Tannenzapfen gegen den Stamm einer dicken Eiche. Er prallt ab und versinkt irgendwo in der weiten unberührten Schneefläche. Kaum eine Spur findet sich abseits des schmalen Trampelpfades, den andere vor ihm in den Schnee gebahnt haben und auf dem Sand gestreut worden ist. Der ein oder andere Vogel ist auf dem Weiß entlang gehüpft und hat winzige Spuren hinterlassen, die sich zu vielfältigen Mustern formen. Vögel. Das ist alles. Ein weiterer Tannenzapfen trifft einen Baum. Nicht einmal die Hundehalter haben diesen einsamen Wald für ihre obligatorischen Spaziergänge gewählt, ganz zu schweigen von den normalen Spaziergängern. Nur Elias’ Eltern. Natürlich. Nur seine Eltern sind so dumm, diesen einsamen Pfad für den Spaziergang zu wählen, zu dem sie ihn verdonnert haben. Wegen der schönen Aussicht und der wunderbaren Natur, hat sein Vater erklärt. Es ist ja nicht so, als ob es die auch an anderen Orten geben kann – oder in dem Computerspiel, das er sich gewünscht, aber nicht bekommen hat. Anfang Dezember war es auf den Markt gekommen und einfach alle in seiner Klasse sprechen davon! Viele haben es sich zu Weihnachten gewünscht, ebenso wie Elias. Nach den Ferien würden sie wieder auf dem Pausenhof zusammenstehen und sich begeistert von ihren Fortschritten berichten, den Monstern, die sie bekämpft und den Heldentaten, die sie begangen hatten. Er hörte sie schon reden. Matthis der rief: „Ich habe schon 10 Gegner getötet!“ Woraufhin Georg ihn mit „Ich habe schon 15 tote Gegner“ überbieten würde. Lennart würde den Abschluss machen, wahrscheinlich wieder mit solch einer hohen Zahl wie 25. Elias seufzt. Er würde wieder einmal daneben stehen, unbeachtet, ungewollt. Wütend tritt er mit dem Fuß in einen Schneehügel und flucht nur kurz darauf, als die Nässe sich durch das Leder seiner Schuhe frisst. Warum nur haben ihm seine Eltern das Spiel nicht geschenkt? Er hat es sich doch so gewünscht und seiner Mutter erklärt, wie dringend er das braucht. Denn mit diesem Spiel, das hat Elias beschlossen, würde er endlich beweisen, was für ein Held er ist. Er wäre es gewesen, der die Rekorde aufgestellt und die Bewunderung seiner Klassenkameraden geerntet hätte! Elias und nicht Matthis, Georg oder Lennart. Wie würde er denn mit den Geschenken, die er bekommen hatte, je jemandem etwas beweisen können? Sie würden ihn auslachen!
Heiße Tränen rinnen dem Jungen über die Wangen und zornig schimpft er über seine Eltern, die ihn nicht verstehen! Es ist ihm egal, ob sie ihn hören können. Elias kann hören, wie sie sich hinter ihm leise unterhalten. Seine Mutter lacht.
Elias beißt sich auf die Unterlippe und vergräbt die Hände in den Taschen. Es ist eine verdammte Schneehose, die seine Mutter ihm geschenkt und nun aufgedrängt hat. Damit du dich nicht erkältest, mein Schatz.
„Man Mama, das ist so was von peinlich“, murmelt er, „Keiner trägt heute mehr Schneehosen, das ist absolut uncool. Aber davon hast du ja keine Ahnung.“ Wieder lacht sie, was Elias dazu veranlasst, seine Hände zu Fäusten zu ballen. Er schnieft. Verdammtes Fest, verdammte Weihnachten.
Um ihn herum treibt der Wind eine dünne Pulverschicht Schnee vor sich her, die er von den Ästen der Tannen schüttelt. Einzelne Nadeln rieseln herab und schmücken das Weiß mit dunkelgrünen Punkten, als würde auch der Wald sich dem Festtag zu Ehren zurechtmachen. Krumm und knorrig stehen sie da, Birken, Buchen, Tannen, uralte Beobachter einer Welt, die viel zu schnell vorbeizieht, um sie genauer wahrzunehmen. Ihre mächtigen Schultern und Arme erbeben unter der Last der weißen Pracht und geduldig halten sie still. Unter der Schneedecke erwächst das Leben, ruhen die Samen der neuen Generation an Blumen, Sträuchern und Bäumen, um zu erwachen, wenn die Zeit reif ist. Die alten Riesen wussten darum und warteten. Zwischen ihren Füßen bieten sie allen Schutz, die ihn suchen. Schläfer wie Igeln, die erst mit dem erneuten Erwachen des Lebens, ihren Ruheort wieder verlassen würden oder jenen, die noch in diesen kalten Tagen auf Futtersuche gingen wie Hasen. Sie beobachten und sehen alle, ohne sich selbst zu erkennen zu geben und beurteilen nicht bei denjenigen, denen sie ihren Schutz gewähren. Sie sind stille Wächter eines Waldes, der von der Hektik der Städte und Menschen nur selten berührt wurde.
Ein tiefes Seufzen gleitet durch die Reihen der Bäume und neugierig bewegen sie sich im Tanz des Windes ein wenig hin und her. Sie bemerken den Menschenjungen, der missmutig durch ihre Reihen schlurft und leise vor sich hin redet. Und so warten und beobachten sie.
Elias geht schneller. Diesen Weg ist er schon oft gegangen und kennt ihn, aber auf seine Eltern hat er wirklich keine Lust. Je weniger er sie sieht, umso besser.
Was hat sein Vater noch gemeint, als Elias erwartungsvoll das letzte Geschenk aufgerissen hat, in dem er das heiß ersehnte Spiel erwartet hat? Wir hoffen, es gefällt dir, mein Sohn. Damit kannst du dich gewiss in die Welten forträumen, in die du dich sehnst. Aber es ist ein dummes unnützes Buch gewesen! Niemals erzählen sie irgendwelche Geschichten für ihn, sondern verschließen sie vor ihm und treiben ihre wilden Tänze direkt vor seiner Nase. Er kann spüren, wie die Buchstaben ihn verlachen, wenn sie ihren Sinn wieder einmal vor ihm verbergen und ihre Position tauschen. In der Klasse lacht man Elias wegen seines Stotterns beim Vorlesen schon lange aus. Nein. Bücher machen keine Helden, nur Verlierer. Kaum dass seine Eltern das Weihnachtszimmer verlassen hatten, um sich für den Spaziergang fertig zumachen, ist Elias hinausgeschlüpft und hat das Buch in die Mülltonne geworfen. Mochte es seine Geschichten und Abenteuer den Würmern erzählen, ihnen gingen sie nichts an.
Wieder stiebt eine Schneewolke auf, als Elias seine Stiefel absichtlich über den Boden schleifen lässt. Mit Genugtuung beobachtet er, wie die weiße Pracht zumindest etwas zerstört wird. Wenn es ihm so traurig zumute ist, soll nichts perfekt sein. Der Junge wirft einen Blick zurück – seine Eltern sind ein Stück hinter ihm – und betritt die unberührte Schneefläche abseits des Pfades. Für eine gewisse Zeit bereitet es ihm Freude, durch die weißen Flächen zu stapfen und sie mit seinen Fußspuren zu kennzeichnen. Ab und an bewirft er die Bäume weiter mit Tannenzapfen, aber bald ist ihm das zu langweilig. Nun ist er ein Stück abseits des Pfades, kann jedoch seinen Fußspuren immer noch folgen.
Elias bleibt stehen. Hinter ihm führen seine Fußspuren zum Pfad zurück, vor ihm liegt eine unberührte Schneefläche, die im Licht der Sonne glänzt. Es ist ihm zu blendend, als dass er allzu lange darauf starren kann.
Etwas trifft ihn am Arm. Schnee rieselt zu Boden. Verblüfft hält Elias sich den Arm und dreht sich einmal um die eigene Achse.
„He!“ Das kommt von oben. Der Junge legt den Kopf in den Nacken und starrt hinauf. „Starrst du immer so trübsinnig im Schnee rum?“ Elias muss blinzeln, so hell scheint die Sonne zwischen den Baumwipfeln hindurch. Da. Jetzt entdeckt er eine schmale Gestalt, die sich in ihrer dunklen Kleidung gegen den hellen Stamm einer Birke abzeichnet. Mit der Hand schützt er seine Augen vor der Sonne und starrt zu ihr hinauf. Eigentlich hat er gar keine Lust sich mit irgendwelchen Menschen abzugeben, andererseits kennt er nicht viele Menschen, die an Weihnachten in einem gottverlassenen Wald in einer Baumgabel sitzen.
„Was machst du da oben?“, schreit er also zu ihr hinauf.
„Weihnachten feiern!“, erklingt die Stimme eines Mädchens, die in seinem Alter zu sein scheint. Er kennt sie nicht.
„Aha“, entgegnet er mäßig motiviert. Umso bewundernder beobachtet er wie sie dem Baum geschickt hinabklettert und sich dabei von Ast zu Ast hangelt. In einem seiner Spiele gibt es eine Soldatin, die für ihre leisen Angriffe von den Dächern gefürchtet ist. Das Mädchen erinnert Elias an diese. Er fragt sich, gegen wen sie dort oben kämpft.
Das Mädchen springt zu Boden. Ohne ein weiteres Wort klopft sie den Schnee von ihrer Kleidung und erst dann sieht sie ihn an. Mit seiner Vermutung, dass sie in seinem Alter ist, hat Elias richtig gelegen. Sie kann nicht älter als er sein, ist zu seinem Leidwesen aber einen ganzen Kopf größer. Unter einer bunten Wollmütze, auf der Rudolf seine Zunge hinausstreckt, lugen kurze dunkle Locken hervor. Sie hat ein langes Gesicht, deren Wangen in der Kälte gerötet sind. Ein Schneidezahn ist schief gewachsen und steht ein wenig hervor, als sie ihn mit einem breiten Grinsen begrüßt. Ein dunkelbrauner Mantel kleidet sie. Weder passen die Mütze noch der bunt gestreifte Schal dazu, doch sie scheint es nicht im Geringsten zu stören. Über die Schulter trägt sie eine kleine Tasche.
Das Mädchen stemmt die Hände in die Hüften.
„Was treibt den Herrn an einem Weihnachtstag in dieses Waldstück?“
Elias senkt den Blick. „Ich war mit meinen Eltern spazieren“, murmelt er, fügt jedoch schnell hinzu: „Die sind mir jedoch schnurzegal.“ Kurz hebt er den Blick und sieht sie an, bevor er ihn erneut senkt.
„Und was machst du hier?“
Das Mädchen pustet sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wie schon gesagt, ich feiere einfach nur Weihnachten.“
Elias runzelt die Stirn. „Alleine?“
Stolz sieht sie ihm entgegen. „Nein, ich habe meine Freunde bei mir.“ Sie klopft auf ihre Tasche. Neugierig tritt Elias einen Schritt näher. Können Freunde denn so klein sein? Das wäre auf jeden Fall praktisch für eine Schultasche.
Sie beugt sich zu ihm, auf ihren Lippen ein verheißungsvolles Lächeln.
„Willst du es sehen?“
Begierig nickt Elias und tritt noch einen Schritt näher. Das Mädchen riecht nach Baumharz und Tannennadeln.
Sie greift zur Seite und öffnet die Tasche. „Das sind ja nur Bücher!“, ruft Elias enttäuscht aus und weicht zurück.
„Nur Bücher?“, faucht sie. „Bücher sind das Beste, was es gibt!“
„Bücher, Bücher“, äfft er, denkt an das Buch in der Mülltonne daheim, an das Gelächter seiner Klassenkameraden und an den mitleidigen oder genervten Gesichtsausdruck der Lehrer, wenn er wieder einmal beim Vorlesen zu oft gestottert hat.
„Bücher“, belehrt er sie, „sind was für Omas und Kranke.“ Eigentlich wollte er das nicht sagen – denn sie ist eine der wenigen Kinder, die freiwillig mit ihm über Familie oder solche Sachen reden – aber die Enttäuschung und der Frust über das nicht erhaltene Geschenk bahnen sich ihren Weg in die Oberfläche seiner Emotionen.
Sie stapft mit dem Fuß auf den Boden. Schnee stiebt auf. Zorn zeigt sich auf ihrem Gesicht, so sehr verkneift sie es.
„Wenn du es mir nicht glaubst, dann beweise ich es dir“, verkündet sie ihm, greift in ihre Tasche, holt ein Buch hervor und schlägt es auf.
„Willst du etwa lesen?“, fragt Elias ungläubig. Mit den Armen macht er eine weitläufige Handbewegung, die den Schnee und die Bäume mit einschließt.
„Glaubst du etwa, dass hier nicht der richtige Ort ist?“ Spöttisch blickt sie ihn an, „Zum Lesen ist kein Ort verkehrt.“
Resigniert zuckt der Junge mit den Schultern und verschränkt die Arme vor dem Körper. Zwar hat er keine Lust auf Lesen, aber noch weniger möchte er zurück zu seinen Eltern, die er in der Ferne rufen hört oder alleine weiter durch diese weiße Landschaft stapfen. Da ist ihm sogar eine Geschichte recht.
Seiten knistern leise, als sie mit den Fingern vorsichtig darüber streicht. Elias beobachtet das Mädchen, während sie liest und versucht zu ergründen, was für eine Person sie ist. Sie muss einsam sein, denkt er, wenn sie ihre Zuflucht in Büchern sucht. Und entweder hat sie keine Familie oder sie hasst sie. Wobei jeder hat Familie, also hasst sie ihre auch, so wie ich meine.
Zunächst konzentriert er sich auf sie, aber dann nehmen die Worte der Geschichte auch ihn gefangen. Gebannt lauscht er der Erzählung über einen jungen heldenhaften Mann, der sein Dorf vor dem Angriff der Eindringlinge verteidigt. So möchte ich auch werden, denkt Elias aufgeregt. Dann werden alle mich beneiden!
Über diese Gedanken bemerkt er die graue Wolke nicht, die sich über dem Buch formt. In dunstartigen Schleiern zieht sie sich zusammen oder treibt wieder auseinander. Gleich dem Staub rieseln einzelne Partikel zu Boden oder werden vom Wind davongetragen, doch die große Masse bleibt enthalten und schwebt hinauf zu den beiden Kindern. Kurz wird das Mädchen umhüllt, dann atmet auch Elias von der grauen Masse ein. Er muss husten.
Kurz darauf bemerkt er, dass das Mädchen aufgehört hat zu lesen. Das Buch liegt unbeachtet in ihren Armen, während sie sich umsieht.
„Was ist los?“, fragt er.
Sie antwortet nicht.
„He!“ Mit einem schnellen Schritt überwindet er die verbleibende Distanz zwischen ihnen und schnipst mit den Fingern vor ihrem Gesicht herum. „Was ist los?“
Sie dreht sich zu ihm um. „Hörst du das?“, fragt sie.
Elias sieht sich nervös um. „Was?“
„Der Wind“, wispert sie, „Er hat sich verändert.“
Der Junge legt den Kopf zur Seite und lauscht. Er kann keine Veränderung bemerken,
„Wie heißt du eigentlich?“
Sie zuckt zusammen, als bedeute eine solch banale Frage eine Gefahr. „Ava.“
Fast ein wenig enttäuscht bemerkt er das. Das Mädchen scheint ihm zu außergewöhnlich für einen solch banalen Namen zu sein.
„Elias“, stellt er sich vor.
Ava nickt knapp. Wieder huscht ihr Blick nervös umher. „Da ist jemand. Ich bin mir sicher, dass da jemand ist.“
„Wer soll hier schon sein?“, meint Elias verächtlich in normaler Lautstärke. „Hier ist keine Menschenseele außer meinen idiotischen Eltern.“
Sie packt ihn am Arm. „Du verstehst das nicht.“ Nervös blickt sie umher. „Der Wind hat sich verändert.“ Als würde das irgendetwas erklären.
Nur kurz darauf muss er Ava jedoch rechtgeben. Irgendjemand beobachtet sie.
„Es sind die Bäume“, flüstert seine Begleiterin.
Die Bäume? Elias sieht zu ihnen auf. Den großen Eichen, Birken und Tannen. Es sind doch nur Bäume. Und doch…
„Sie bewegen sich.“ In Avas Stimme liegt eine Mischung aus Angst und Faszination. Jetzt weiß er, was sie meint. Elias zuckt zusammen, als sich aus dem Wald Gestalten schälen. Wispernde Stimmen umhüllen die beiden Kinder. Knorrige weise Gesichter schälen sich aus dunkler Borke, andere tanzen auf dünnen Beinen aus Birken umher. Kleider aus Tannennadeln umgibt eines der komischen Wesen, das Elias am Nächsten steht. Er weiß nicht, was sie sind. Es sind Bäume, die Menschen ein wenig ähnlich sind und ihnen zugleich nicht unähnlicher hätten sein können. Arme aus Holz tanzen im Wind um die Kinder umher und schließen einen Kreis um die beiden.
„Es sind Menschen, Menschen, Menschen“, singen sie. „Die Grenzen sind gefallen. Der Zauber erloschen.“ Eilig wiegen sie die Köpfe hin und her, als ob ihnen diese Tatsache Furcht bereiten würde.
„Ich glaube, es sind Baumgeister“, flüstert Ava Elias zu.
Furchtsam sieht der Junge zu den großen Wesen auf. Soll der alte Wald am Ende doch noch eine Überraschung für ihn bereithalten?
„Nicht von hier. Kann sie nicht riechen“, singt ein Wesen, dessen Körper aus einer Birke besteht. „Fremde Menschenwesen.“
„Keine Gefahr“, summt eine Buche mit tiefer Stimme, in die sich ein warnender Unterton mischte. „Den Auftrag! Den Auftrag nicht vergessen!“
Und schon wendet sich das Gespräch der Bäume einem seltsamen Auftrag zu. Sie sprechen über einen Berg und eine große Gefahr, sowie ihren König.
Elias nimmt seinen ganzen Mut zusammen. „Wer seid ihr?“, ruft er zu ihnen hinauf.
Nadeln rieseln herab, als eine Fichte sich zu ihnen beugt. Die anderen Stimmen verstummen.
„Der Wald sind wir, Menschenkind. Die Geister des Waldes.“
Sie waren nicht böse, erkannte Elias. Seine Angst wich einer Neugierde. So etwas hatte er selbst in einem Computerspiel noch nicht erlebt!
„Was macht ihr hier?“, fragt Ava nun.
Ein tiefes Seufzen erklingt. „Ach, Ach.“ Die Bäume lassen ihre mächtigen Schultern hängen. Eine tiefe Traurigkeit scheint sie zu bedrücken.
Wieder ist es die Fichte, die den beiden Kindern Antwort gibt. „Unser König, Menschenskind. Krank, krank!“
„Oh.“ Elias denkt an seine Großmutter, die lange krank gewesen war, bevor sie im letzten Winter gestorben war. Sie hat ihm immer viele tolle Geschichten erzählt.
„Ja, ja“, seufzen die Bäume.
„Wird er denn nicht wieder gesund?“ Elias wirft Ava einen hilflosen Blick zu.
„Doch, doch.“ Die Fichte wiegt sich hin und her. „Eine Quelle gibt es. Hoch auf dem Gipfel des Berges. Das Wasser, das Wasser, es wird gut für ihn sein.“
Erfreut reckt Ava sich. „Und dorthin geht ihr jetzt? Können wir euch helfen?“
Laut wispern die Bäume. „Wir können nicht hinauf. Nicht hinauf.“
„Aber wieso denn?“
„Wir können nicht hinauf.“ Sorgenvoll seufzt die Fichte und seine Stimme verstummt und wird vom Wispern der anderen verschluckt. „Ein Drache, ein Drache“, singen sie, „Bei der Quelle.“
Ein Drache! Elias blickt zu Ava. Drachen sind immer böse, das weiß er aus vielen Computerspielen.
Ein neuer Klang mischt sich in das Lied der Bäume. „Ihr“, singen sie, „Ihr könnt gehen. Er riecht euch nicht. Bitte, bitte, bitte.“
„Natürlich gehen wir“, verkündet Ava, „Wir werden zu der Quelle gehen und etwas von dem Wasser holen.“
Elias beißt sich auf die Unterlippe. Ihm ist ein wenig ängstlich zumute, aber vor Ava kann er seine Angst unmöglich zugeben.
„Wir werden gehen“, bestätigt er also zögernd.
„Danke, danke, danke“, singen sie, „Wir warten hier auf euch.“
Die Fichte beugt sich zu ihnen, der Wind fährt durch die Nadeln. „Der Weg, folgt dem Weg. Der Berg ist leicht zu finden.“
„In Ordnung.“
Die Bäume nehmen ihre langen Arme auseinander und bilden eine Gasse durch die die Kinder treten. Einige reichen Nüsse und Äpfel für sie herab, die Ava in ihre Tasche steckt. Elias starrt in die weisen und jungen Gesichter und auf einmal hat er das verpatzte Weihnachtsfest vergessen. Es gibt nur dieses Abenteuer, ihn und Ava. Seine Eltern sind weit entfernt von ihm.
Ihnen fällt es nicht schwer, den Pfad zu finden. Er verläuft an derselben Stelle wie auch der Trampelpfad, aber es ist nicht der gleiche. Zwei Reihen Pflastersteine geben ihm ein deutlich schöneres Aussehen als in jener Gegenwart, in der Elias’ Eltern nach ihrem Sohn rufen. Auch bedeckt kaum Schnee die Pflastersteine und keine Wurzel oder ein umgestürzter Baum behindern Elias und Ava in ihrem Weg.
Schon bald erblicken sie den Berg, als der Pfad um die Kurve biegt. Hoch ragt er zwischen den Bäumen auf, die Kuppe glänzt weiß im Licht der Sonne.
„Sollen wir da oben herauf?“, fragt Elias.
„Natürlich.“ Ava klopfte ihm auf die Schulter. Sie lächelte. „Ist das nicht ein Abenteuer?“, jauchzt sie. „Viel besser als ätzende Familienfeiern, in der alle meinen, sich auf einmal lieben zu müssen.“
„Bist du deshalb abgehauen?“, fragt Elias. Er kann sie verstehen. Auf so etwas hätte er auch keine Lust. Da ist er froh, dass sie Weihnachten nur zu dritt feiern: Er, Mama und Papa.
Sie antwortet nicht. „Das ist wie in einer Geschichte, einem Märchen.“
Avas Begeisterung ist ansteckend. Elias kann nicht anders als ebenfalls zu lächeln.
„Stirbt man in Märchen?“, fragt er möglichst unbefangen.
Sie schüttelt seine Besorgnisse mit einer Handbewegung ab. „Nur die Bösen“, erklärt sie, „Ach, und die guten Mütter, aber niemals die Hauptpersonen.“
Elias nickt. „Ich glaube, dann mag ich die Geschichte auch.“
Er stellt fest, dass er Ava mag. Man kann sich sehr gut mit ihr unterhalten. Sie reden über alles Mögliche während sie gehen. Die Geschichten, die sie gelesen hat, die Träume, die sie haben und kommen dabei dem Berg immer näher.
Bald steigt der Boden unter ihren Füßen an, die Bewachsung wird spärlicher und die klare Wintersonne beleuchtet ihren Pfad. Weiß glänzt der Schnee an den Rändern ihres Pfades, der sich immer weiter in die Höhe windet.
„Wir laufen also hinauf, holen etwas Wasser aus der Quelle und weichen dabei dem Drachen aus?“, vergewissert sich Elias. „Haben wir einen Plan?“
„Einen Plan?“ Ava grinst vergnügt. Für sie scheint das ein wunderbares Abenteuer zu sein, so wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag in einem Augenblick.
Auch Elias verspürt eine gespannte Erwartung. Jetzt wird er sich endlich beweisen können und vielleicht kann er sogar Ava beeindrucken. Wobei es eigentlich sie ist, die den Ton angibt und diesen Auftrag angenommen hat. Bisher war sie viel mutiger als er. Egal. Wenn sie dem Drachen begegnet, wird er der Heldenhafte sein.
Der Pfad wird steiler und es gelingt Elias nur mit Mühe nicht zu keuchen, während sie laufen. Felsen heben sich links und rechts von ihnen in die Höhe, der Pfad windet sich zwischen ihnen hinauf und an ihnen vorbei, unter ihnen erstreckt sich ein gähnender Abgrund. Zu seinem Glück hat Elias keine Angst vor der Höhe, stattdessen genießt er den weitläufigen Ausblick, der sich ihm bietet. Dunkle Wälder, ein breiter Fluss, der tosend in die Tiefe stürzt und weite Wiesen, auf denen sich kleine Punkte hin und her bewegen.
Bald schon wird der Fokus der beiden von dem beansprucht, was vor ihnen liegt, denn den höchsten Punkt des Gipfels haben sie fast erreicht und der Weg wird weitaus weniger steil.
„Hörst du das?“
Nun weiß der Junge sofort, was seine neue Freundin gehört hat: Ein tiefes Seufzen und eine grollende Stimme. Er greift an sich herunter und bemerkt, dass er keine Waffe bei sich trägt. Schnell sucht sich Elias einen Stock vom Boden, der ihm stabil erscheint und umfasst ihn mit beiden Händen.
„Bereit?“ Ava ist stehengeblieben und wartet auf ihn.
Entschlossen nickt Elias. „Ja!“
Seite an Seite schleichen sie den Pfad weiter entlang. Nun sind sie an der Kuppe angekommen. Eine weite, große Fläche erstreckt sich vor ihnen. Es ist ein Labyrinth von Felsen, deren einzige Farbe Grau ist. Das ein oder andere Grasbüschel wächst zwischen den Fugen, aber es sind nur wenige.
Elias nimmt sich vor, nicht zu zögern und tritt zwischen die Felsen. Ava folgt ihm. Zu beiden Seiten ragen die Felsen auf. Ein Erwachsener könnte vielleicht hinübersehen, aber für die Kinder macht das keinen Unterschied. Die strahlende Wintersonne wirft Schatten auf die Felsen.
„WER SEID IHR?“ Elias zuckt zusammen und hebt seinen Stock schützend vor sich und Ava. Er sieht sich um. „WER WAGT ES, MEIN REICH ZU BETRETEN?“
„Komm.“ Seine neue Freundin packt ihn am Arm und zieht ihn langsam mit sich weiter nach vorne. „Ich glaube, er weiß nicht, wo genau wir sind.“
„ICH WEIß ES GENAU!“, donnert die Stimme.
„Aber wir wissen nicht, wo du bist“, ruft Elias tapfer. Vor jemandem davonzulaufen, der jetzt schon weiß, wo sie sind, erscheint ihm sinnlos. Seltsamerweise hat er kaum Angst. Ein wenig natürlich, aber nicht so sehr, wie er eigentlich haben soll. Vielleicht weil er weiß, dass das seine Geschichte ist und dass er dazu bestimmt ist, die Medizin für den sterbenden König zu finden. Er und Ava.
„Kommt zu mir, dann wisst ihr es.“ Das Donnern in der Stimme ist verschwunden, stattdessen ist sie fast normal. Eine Stimme, die Emotionen wie Enttäuschung und Müdigkeit spiegelt.
Die Felsen weichen zurück und bereiten einer kreisrunden Fläche Platz. Es scheint, als ob es mehrere dieser Pfade zwischen den Felsen geben würde, die alle sternförmig auf den Mittelpunkt zulaufen. Den exakten Mittelpunkt bildet ein mit weißen Steinen eingefasster Teich, dessen Wasser dunkel schimmert und der ebenso kreisrund ist. Golden spiegeln sich die Schuppen des Wesens, das sich um die Quelle gerollt hat, im Wasser. Der Drache ist eine beeindruckende Gestalt. Sein gewaltiger Kopf wendet sich den beiden Kindern zu, die mächtigen Zähne – so groß wie die Hand von Elias’ Vater – strahlen ihnen in einem glänzenden Weiß entgegen. Ein mächtiger Kamm aus grauen Zacken schaut zwischen den Ohren hervor, die den Neuankömmlingen zugedreht sind. Die Augen haben die Farbe hellen Golds. Elias kann sein Spiegelbild in den Seen aus Gold erkennen.
„Ihr seid Menschen“, stellt der Drache fest. Er legt den schweren Kopf auf seine Pranken und starrt den Kindern so entgegen. Es hat erneut begonnen zu schneien, doch das prächtige Weiß schmilzt, kaum dass es das Gold berührt.
„Haben sie euch geschickt?“
Ava löst sich aus Elias’ Schatten und tritt zögernd einen Schritt vor. Sie muss ihre Mütze verloren haben, denn nun fallen die dunklen Locken offen in ihr Gesicht.
„Hat wer uns geschickt?“, fragt sie. Elias steht ein Stück hinter ihr und kann die angespannte Haltung ihres Körpers gehen und dennoch ist sie vorangegangen. Er nimmt seinen Mut zusammen und tritt neben sie. Seite und Seite stehen sie einem Ungeheuer entgegen, dass es eigentlich gar nicht geben dürfte. Und Elias ist mutig, er ist stark und fühlt sich viel besser als er es in einem Computerspiel hätte sein können.
„Der Wald!“ Anklagend prustet der Drache Luft aus. „Sie wollen das Wasser stehlen.“ Schnee wird aufgewirbelt, als der Schwanz des Drachen auf den Boden peitscht.
Der mächtige Kopf ruckt hoch. „Ich bin der Wächter der Quelle!“
„Und vor wem bewachst du die Quelle?“ Elias senkt den Stab. Gegen einen Drachen ist das sowieso eine armselige Waffe. Mit einem Klacken prallt sie auf den Boden.
„Vor allen, die das Wasser stehlen wollen.“ Wieder spürt Elias den anklagenden Blick des Drachen.
„Aber wir wollen dein Wasser nicht stehlen“, beruhigt Ava ihn mit ruhiger Stimme.
Wieder peitscht der Schwanz des Drachen Schnee auf. „Und doch rieche ich den Harz der Bäume an euch.“
Dagegen kann man wirklich nichts sagen. „Wir haben sie getroffen“, gibt Elias zu. „Aber wir sind aus freiem Willen hier.“
„Lügen! Lügen!“, summt der Drache. Seine Stimme ähnelt dabei auf sonderbare Weise dem der Bäume.
„Ihr König ist krank“, berichtet Ava, „Sie haben uns gebeten, ihnen zu helfen.“ Ihre Stimme klingt fest und Elias ist stolz auf seine neue Freundin. Sie ist so viel mutiger als die Mädchen in seiner Klasse – und auch deutlich hübscher. Zweites traut er sich aber nicht ihr zu sagen.
Der Drache hebt den Kopf und eine mächtige Wellenbewegung geht dabei durch seinen Leib. Die Schuppen rasseln, als sie aufeinander klacken.
„Solche Lügen“, knurrt ihr Gegenüber zornig, „Es ist doch immer dasselbe mit ihnen. Nie kann man ihnen trauen, nie teilen sie mit anderen.“ Der letzte Satz hallte in Elias’ Gedanken nach. Er spürte, dass die Bäume und der Drache einen Streit miteinander hatten, auch wenn er nicht wusste, woraus dieser bestand. Und der Drache fühlte sich beleidigt, weil sie etwas hatten, was er nicht besaß, weshalb er ihnen das Wasser der Quelle verweigerte.
Er stößt Ava mit dem Ellenbogen in die Seite. „Die Gaben!“, wispert er.
Sie ignoriert ihn und spricht einige Worte mit dem Drachen. Wieder stößt er in ihre Seite, woraufhin sie ihm einen empörten Blick schenkt. „Die Gaben“, meint er etwas lauter in der Hoffnung, dass sie ihn versteht.
Der Kopf des Gegenübers dreht sich zu ihm.
„Welche Gaben?“
Elias neigt den Kopf. „Um dem Wächter der Quelle Gunst zu erweisen, haben uns die Bäume Gaben übergeben, die wir ihm darbieten sollen.“
Der Drache zeigt seine mächtigen Zähne und neigt den Kopf wie ein Pendel hin und her.
„Ihr habt Gaben? Für mich?“
Endlich versteht Ava. „Oh ja“, erklärt sie und öffnet ihre Tasche. Äpfel und Nüsse nimmt sie heraus und stapelt sie zu einem kleinen Haufen. Es erscheint eine armselige Gabe zu sein, aber Elias weiß, dass sie genau die richtige ist.
„Es ist ihr Dank“, erklärt er und neigt den Kopf. Der Kopf des Drachen schießt nach vorne und schwebt über dem Dargebrachten. Dampf steigt von den Schuppen auf, so aufgeregt ist das Wesen. Der erste Apfel wird von seinen mächtigen Zähnen zermalmt.
„Hm.“ Genießerisch schließt er die Augen. „Nehmt euch von dem Wasser“, brummt er.
Elias nickt Ava zu, dann schleichen sie an dem Drachen vorbei, der immer noch genüsslich den Wintervorrat der Bäume verzehrt. Sie finden eine kleine Lücke, die der Drache ihnen freimacht, indem er seinen Schwanz fortbewegt. Neben der Quelle stehen mehrere Krüge, von denen sie einen füllen. Klares Quellwasser schwappt in dem durchsichtigen Krug. Darin spiegeln sich der Drache, die Kinder und die Umgebung in bunten und vielfältigen Farben.
„Komm.“ Elias fasst Ava am Ärmel und zieht sie fort. Fort von der Quelle und den Drachen, der immer noch mit seiner Mahlzeit beschäftigt ist. Er ist nicht gierig, sondern frisst jedes Stück einzeln. Aus den Augenwinkeln sieht der Junge wie seine Begleiterin ihm vorsichtig über die Schuppen streichelt. Dieser Drache, erkennt er, ist nicht böse, sondern einfach nur einsam und hat genau diesen Liebesbeweis benötigt, um glücklich zu sein.
„Leb wohl“, flüstert er, als er sich noch einmal ein letztes Mal umwendet, bevor er in das Labyrinth tritt. Dann verliert sich auch das letzte Blitzen Gold aus seinem Blickwinkel.
Schweigend machen sich Ava und Elias auf den Rückweg. In seinen Händen trägt Elias die kostbare Flüssigkeit. Sorgfältig achtet er darauf, nichts davon zu verschütten. Seine Begleiterin geht voraus und achtet auf den Weg, während er ihr langsam folgt.
Fast ein wenig traurig ist der Junge, als sie wieder den Wald betreten und der Stelle, wo sie sich von den Bäumen getrennt haben, immer näher kommen. Auf eine unbestimmte Art und Weise hat er das Gefühl, dass ihr Abenteuer sich nun dem Ende zuneigt. Aber zu seiner Freude ist da Ava. Ava, die lacht und neben ihm „Stille Nacht“ summt. Ihre Freude ist ansteckend und bald singt er dieses wunderschöne Weihnachtslied mit ihr.
„Wir haben es geschafft.“ Sie lächelt und berührt ihn sanft am Arm.
„Ja“, flüstert er stolz. „Wir haben es gemeinsam geschafft.“
Eine Tatsache, die die Bäume anscheinend kaum fassen können, als sie die beiden Kinder mit wispernden Stimmen begrüßen. Stolz hebt Elias den Krug hoch und reicht es der alten Buche, die ihn in einer Höhlung in seinem Stamm bewahrt.
„Eine Unmöglichkeit“, singen sie, „Mutige Menschenkinder! Mutig! Mutig.“
„Das war überhaupt nicht schwer“, lacht Elias, „Der Drache war gar nicht gefährlich. Er wollte nur etwas Gemeinschaft und etwas von euren Vorräten haben, weil sie ihm so gut schmecken.“
Die Fichte wiegt ihren langen Nadeläste hin und her. „Ja, so etwas. Der Drache! Der Drache! Ein Irrtum.“
Ava lächelt. „Ich glaube, ihr könnt ihn häufiger besuchen kommen. Er ist ganz schön einsam da oben und freut sich über jenen Besucher.“
„Wir wollen das tun“, singen sie. Mit ihren schlanken Baumkörpern tanzen sie um die beiden Kinder herum. Dunkles Gehölz mischt sich mit weißem Birkenholz, grüne Nadeln mit kahlem Geäst. „Danke, danke“, summen sie, während sie in ihrem Tanz immer schneller werden. Elias versucht, einzelnen Bäumen in ihren Bewegungen zu folgen, doch bald stellt er fest, dass das unmöglich ist. Ihm wird schwindlig bei so vielen Bewegungen.
„Elias?“ Er spürt Avas besorgtes Aufrufen und will ihr noch etwas sagen. Doch dann sinkt er zu Boden und der Wald und ihr Gesicht lösen sich zu einer unendlichen Schwärze auf.
„Elias?“ Jemand ruft ihn. Elias schlägt die Augen auf und blickt in das besorgte Gesicht seiner Mutter. „Oh Schatz!“ Sie legt die Hand auf seine Wange und blinzelt die Tränen fort, die ihr über die Wangen laufen. „Wir dachten schon, wir…“ Sie bricht ab und schnieft. Elias’ Vater legt ihr eine Hand auf die Schulter und blickt ebenfalls auf seinen Sohn herab. „Wir haben uns einfach Sorgen gemacht, mein Sohn. Wie geht es dir?“
„Gut, denke ich“, murmelt Elias. Sein Kopf schmerzt, aber ansonsten scheint alles in Ordnung zu sein. Mit der Hilfe seines Vaters setzt er sich auf. Noch immer befindet er sich in dem Wald, in dem er mit seinen Eltern Spazierengehen gewesen ist. Und doch ist etwas anders. Der Wind hätte Ava vermutlich gesagt. Ava!
„War da ein Mädchen? Habt ihr ein Mädchen gesehen? Es war mit mir beisammen.“ Sein Vater schüttelt besorgt den Kopf. „Da war kein Mädchen, Elias. Du bist gestürzt, als du vorgegangen bist. Wir haben dich hier gefunden.“
„Vielleicht hast du ja von dem Mädchen geträumt, Schatz.“ Seine Mutter streicht ihm den Schnee aus dem Haar.
„Nein.“ Elias schüttelt den Kopf. „Nein, es war kein Traum.“
„Was hältst du davon, wenn wir erst einmal nachhause gehen? Im Warmen kannst du viel besser darüber nachdenken als hier im Kalten.“
„Ihr habt euch diesen Spaziergang doch gewünscht“, knurrt Elias, folgt aber der Bitte seiner Mutter und steht auf.
Im Schnee sieht er noch seine Spuren und da, da ist die Birke, auf der Ava gesessen hat. Mit den Blicken folgt er dem Stamm bis zu der Astgabel. Doch sie ist leer. Seine Freundin ist verschwunden.
„Können wir vorher zum Berg gehen?“, fragt er seinen Vater.
„Hier gibt es keinen Berg, Elias.“ Sein Vater lächelt schwach und besorgt. „Wir sind mitten im Wald. Und deine Mutter hat Recht. Wir sollten wirklich nach Hause gehen.“
Wie betäubt folgt Elias seinen Eltern über den schmalen Trampelpfad zurück zu ihrem Haus, das inmitten eines kleinen Dorfes steht. Missmutig klopft der Junge sich die Füße auf der Matte ab und betrachtet den Schnee, der sich von seinen Stiefeln löst. Die neue Schneehose ist ganz schön eingematscht, was seine Mutter, wenn sie nicht so besorgt gewesen wäre, bestimmt zu einem Kommentar verleitet hätte. Nun jedoch schweigt sie und fragt ihren Sohn immer wieder, wie es ihm denn geht.
„Gut“, antwortet er ihr zum wiederholten Mal, während er sich aus der Schneehose schält.
„Warte Mama. Ich habe noch etwas vergessen. Darf ich kurz hinaus?“
Seine Mutter, die soeben die Tür schließen will, mustert ihn. „Aber nur kurz.“
Elias wirft ihr einen dankbaren Blick zu, dann schlüpft er an ihr vorbei bis in den Hintergarten. Hier stehen die Mülltonnen. Kurz sieht sich Elias um, ob ihn jemand beobachtet, dann greift er in die Papiertonne und kramt jenes Buch hervor, das seine Eltern ihm geschenkt haben. Der Einband ist ein wenig verknickt, aber ansonsten ist ihm nichts zugestoßen. Die schönsten Märchen und Sagen steht darauf. Über dem Titel ist das Bild eines goldenen Drachen abgebildet, dessen langer Körper sich um einen mit weißen Steinen eingefassten Brunnen schlingt. Wie verzaubert streicht Elias über die Zeichnung, wirbelt eine Wolke grauen Staubs davon und legt den Zeigefinger und Daumen, auf die beiden Gestalten, die vor dem Drachen stehen. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen.
„Elias!“ Seine Mutter ruft nach ihm.
Er folgt ihren Rufen ins Haus, doch jetzt ist er nicht länger traurig, sondern tut es mit einem Lächeln.
Und am nächsten Morgen schlüpft er, als seine Eltern noch schlafen, hinaus. In der einen Hand hält er einen Apfel und in der anderen das Buch mit dem goldenen Drachen. Er läuft, bis er den für sich perfekten Platz zum Lesen gefunden hat. Dort macht er es sich bequem – und ist nicht erstaunt, als er wenig später leise Schritte vernimmt.
Breit grinsend sieht Elias aus der Astgabel herab.
„Was stehst du denn da unten im Schnee rum?“, ruft er ihr entgegen.
Sie grinst. „Ich warte auf eine Geschichte.“
Zwar klettert er nicht ganz so elegant wie Ava den Baum hinab, aber er ist ziemlich beeindruckt von seinen Fähigkeiten.
„Und die sollst du bekommen.“
Er lächelt sie an und bläst den Staub fort, der sich über das Bild mit dem Drachen gelegt hat.
Er braucht keine 23, 25, oder 26,5 Feinde in irgendwelchen Computerspielen besiegen. Er hat etwas viel Wichtiges besiegt.
Denn Elias liest.
Ohne Angst.
Ohne zu stottern.
Und voller Freude.