Es war ein heißer, trockener Sommertag.
Er wusste nicht, wie lange er schon unterwegs war. Er wusste nur, dass er weg wollte, einfach weg. Er musste untertauchen, sich verstecken, irgendwo.
Er hatte keine Ahnung wo er war. Es war ihm auch egal, solange er nicht verfolgt wurde.
In der Ferne hörte er das leise Rauschen eines Flusses. Auch sein Pferd wurde darauf aufmerksam und schlug von alleine den Weg dorthin ein. Er ließ es gewähren. Beide brauchten dringend Wasser und wenigstens eine kurze Rast. Er spürte seinen eigenen Körper kaum noch, doch die Anspannung saß noch tief in seinen Muskeln. Seine Hände verkrampften sich noch immer um die Zügel, dabei galoppierten sie schon seit einer Weile nicht mehr.
Als sie den Fluss erreichten, schaffte er es kaum aus dem Sattel. Zu tief saß der Schock noch in seinen Gliedern. Doch als er endlich auf dem Boden stand, kam langsam alles Gefühl zurück. Er spürte wieder den Schmerz und kurz darauf auch die Müdigkeit. Als er aufgebrochen war, war es mitten in der Nacht gewesen. Nun stand die Sonne hoch am Himmel und brannte unbarmherzig auf sein Gesicht und seinen Nacken. Sein Pferd streckte längst den Kopf hinunter zum Wasser und saugte gierig die kalte Flüssigkeit ein. Er kniete sich daneben und schöpfte sich mit den Händen zuerst Wasser, um es zu trinken. Dann auch, um es sich über Gesicht und Kopf zu schütten. Doch bei der Berührung des Wassers auf seinem Gesicht zuckte er jäh zurück. Der Schmerz war mit einem Mal so stark, dass es für einen Moment ganz schwarz vor seinen Augen wurde. Keuchend verharrte er kurz, wartete, bis der Schmerz etwas abklingen würde. Doch viel änderte sich nicht.
Vorsichtig beugte er sich über das Wasser. Bisher hatte er noch keine Möglichkeit gehabt, sich seine Verletzung anzusehen. Doch das Wasser bewegte sich zu schnell und zu unruhig, um darin ein Spiegelbild erkennen zu können. Bei dem Gedanken an den Moment, durch den er sich die Narbe eingehandelt hatte, wurde ihm übel und alles in ihm zog sich wieder schmerzhaft zusammen. Wieder fragte er sich, wie er es geschafft hatte, zu überleben. Nein, dafür war jetzt keine Zeit. Für diese Gedanken war jetzt keine Zeit.
Erschöpft lehnte er sich zurück und überlegte, wie er am besten weitermachen sollte. Auch wenn es ihm schwer fiel, wieder auf die Beine zu kommen, hier konnte er nicht bleiben. Auch zu Rasten war hier zu riskant. Um ihn herum war außer dem Fluss nur freies Feld. Verfolger waren in der Ferne nicht zu sehen, doch würde hier jemand auftauchen, würde er sofort auffallen. Bevor er wirklich rasten konnte, sollte er einen Ort finden, an dem es sicherer war. Er ging zu seinem Pferd, das nur einige Schritte neben ihr zu grasen begann und nahm den Trinkschlauch aus einer der Satteltaschen, um ihn wieder aufzufüllen, bevor er wieder aufstieg, um weiterzureiten.
Nicht weit von hier sah er den Rand eines Waldes. Zwischen den Bäumen versteckt sollte es auf jeden Fall sicherer sein, als hier auf dem offenen Feld. Er trieb sein Pferd an schneller zu gehen, bis sie im Wald ankamen. Erst dort verlangsamte er den Gang wieder, damit das Tier durch keine der gefährlichen Wurzeln und anderen Unebenheiten im Boden ins Stolpern geriet. Schon nach den ersten paar Schritten in das Innere des Waldes war die Luft deutlich kühler. Im Schatten der Bäume zu reiten war viel angenehmer, als unter der prallen Sommersonne. Er wollte tiefer in das Innere des Waldes und hoffte dort irgendwo ein geeignetes Versteck zu finden, in dem sie eine Rast einlegen konnten.
Desto länger er so langsam unterwegs war, desto mehr Gedanken drängten sich in seinen Kopf. Die Erinnerungen, die er seit dem kurzen Halt am Fluss versuchte zu unterdrücken, wollten ihn nicht loslassen. Sein Kopf brannte, auch der Schmerz wurde wieder schlimmer. Die Erschöpfung zehrte an seinem Körper, er kämpfte mit seinem Bewusstsein. Langsam aber sicher verlor er die Kontrolle. Er musste dringend rasten, er sollte seine Wunde versorgen, doch er fühlte sich noch immer nicht sicher. Er wollte erst sicher sein, bevor er sich um etwas kümmern konnte. Erst sicher sein... Sicherheit...
Es war warm. Das Licht flackerte im Tanz der züngelnden Flammen des Feuers, das im Kamin entzündet war. Ein intensiver Duft nach frischen Gewürzen mischte sich in den Geruch von modrigem Holz.
Das waren die ersten Dinge, die er wahrnahm, als er langsam wieder zu sich kam. Danach fühlte er den Schmerz. Jeder noch so vorsichtige Atemzug stach wie ein Dolch in seine Lunge, als wäre das Atmen nicht schon schwer genug. Er versuchte sich zu bewegen, doch bis auf ein klägliches Zucken seiner Fingerspitzen schien es zunächst unmöglich.
Was war passiert? In seinem Kopf war der Schmerz am schlimmsten. Es pochte und hämmerte, als wolle sein Schädel zerspringen. Und sein Gesicht schien zu verbrennen. Einen klaren Gedanken zu fassen fiel ihm so schwer wie das Atmen. Wo war er? Sein Blick war vernebelt und nicht so weit wie sonst.
Er erkannte diesen Ort nicht wieder. Der Raum war klein und bis auf das Licht des Feuers dunkel. War es Nacht? Seine Augen brannten gereizt und zwangen ihn, sie wieder zu schließen. Er versuchte sich zu erinnern. Dann, einzelne Bilder. Schreie in seinem Kopf. Das Klirren von Klingen auf Klingen. Feuer, Soldaten. In seinem rauen Hals bildete sich langsam ein großer Klos. Er versuchte die Tränen, die er kommen spürte, zu unterdrücken.
Er hatte nicht gehört, wie der Raum betreten wurde.
“Ganz ruhig. Du bist in Sicherheit.” Durch das Pochen in seinem Kopf und den Lärm seiner Erinnerung, war es schwer, die zarte Stimme wahrzunehmen. Bei dem Versuch die Augen zu öffnen stach ihm ein heftiger Schmerz direkt ins Gesicht. Er sog scharf die Luft ein und biss sich auf die Unterlippe, versuchte ein Stöhnen zu unterdrücken.
"Beruhige dich. Ich weiß, du musst Schmerzen haben. Es ist alles in Ordnung. Du bist hier sicher. Ich kümmere mich um dich."
Nur mit Mühe gelang es ihm, die Worte zu verstehen. Sein Gesicht brannte wie Feuer, gleichzeitig fühlte es sich so an, als würde ihm jemand wieder und wieder mit einem Hammer den Schädel aufbrechen wollen. Je mehr er versuchte, sich zu konzentrieren und durch den Schmerz zu sehen, desto mehr begann sich alles in seinem Kopf zu drehen. Immer wieder die Bilder seiner Erinnerung, die Unfähigkeit sich zu bewegen, das bewusstseinsraubende Pochen in seinem Kopf... war das ein Alptraum?
Er spürte kaum, wie ihm der Kopf in den Nacken gezogen wurde. Erst als eine warme Flüssigkeit seine Lippen berührte und langsam seinen Hals hinunter rann, gelang es ihm, die Kontrolle über seinen Verstand wiederzuerlangen. Er erschrak unwillkürlich, verschluckte sich an der Brühe und spuckte die Hälfte davon wieder hinaus. Jemand half ihm sich weit genug aufzurichten, um die Flüssigkeit aus seinem Hals auszuhusten, bis seine Kehle wieder frei war. Dann wurde er wieder auf den Rücken gelegt und erneut wurde ihm etwas von der Brühe an die Lippen gehoben. Diesmal gelang es ihm, die Flüssigkeit bei sich zu behalten und hinunterzuschlucken.
"Alles gut. So ist es gut. Es sollte dir bald etwas besser gehen. Versuche dich auszuruhen. Hier bist du sicher. Entspanne dich."
Hatte die Person die ganze Zeit über mit ihm gesprochen? Die Stimme klang so ruhig und bestimmt. Die meiste Zeit wiederholte sie, was sie bereits gesagt hatte.
Langsam legte sich der Schmerz. Auch seine Gedanken wurden ruhiger, langsamer. Eine angenehme Stille breitete sich um ihn aus. Seine schmerzenden Glieder wurden weich und schwer, sein Atem ruhig und gleichmäßig. Vorsichtig versuchte er die Augen zu öffnen.
Durch die getrockneten Tränen in seinen Augen konnte er die Person zuerst nur schwer erkennen.
Vor ihm saß eine junge Frau, das sanfte Gesicht von weißem Haar umrahmt, die großen hellen Augen weit auf ihn gerichtet. Sie lehnte sich in den Stuhl zurück, als er versuchte, sich zu erheben. Obwohl von ihr keine Gefahr auszugehen schien, sammelte sich Anspannung in seinen Gliedern und er spürte deutlich, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. „Wo bin ich? Wer bist du?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, sah er sich weiter ihm Raum um. Sein Blick wurde langsam klarer. Er sah zu dem Kamin, in dem das Feuer munter prasselte, zu den zwei kleinen Fenstern an angrenzenden Wänden, hinter denen Dunkelheit lauerte. Es musste eine kleine Hütte sein, in der sie sich befanden. In dem Raum standen nicht nur das Bett, in dem er nun halbwegs aufrecht saß, sondern auch ein kleiner Tisch mit drei Stühlen, an der gegenüberliegenden Wand Kommoden und Regale, die befüllt waren mit Kräutern, die in Töpfen und Schalen wuchsen, sich teilweise in langen Strängen die Regale hinunterschlängelten. Auf dem Herd daneben stand ein Topf, aus dem es noch immer dampfte. Die Wände der Hütte waren allesamt aus Holz, an manchen Stellen sogar von innen mit Moos bewachsen. Wo war er nur? War er in der Hütte einer Hexe? War diese Frau vor ihm … eine Hexe?
„Ganz ruhig, ich versuche, dir zu helfen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“.
Als er ihre Stimme vernahm, wandte er den Blick wieder auf die junge Frau, die beschwichtigend ihre Hände hob und ihm ihre leeren Handflächen zeigte.
„Du solltest dich wohl besser wieder hinlegen. Du bist ganz blass.“
Er dachte nicht daran, sich wieder hinzulegen und ihr die Gewalt über ihn zu überlassen.
Doch sie hatte Recht. Ihm ging es ganz und gar nicht gut. Obwohl er sich dagegen wehrte, sein Körper gab ein weiteres Mal nach und er sackte zurück auf das Bett. Ein weiteres Mal wurde alles schwarz um ihn. Auf einmal fühlte er sich so leicht.