Dieser Text ist im Rahmen der Traumtag-/Valentinstagaktion von Marvin D. Graue entstanden. Ich durfte einen Text für Write with love (https://belletristica.com/de/users/4479-write-with-love#profile) schreiben. Die Vorgaben lauteten:
Modus: Valentinstag
Genre: Slice of Life, Fantasy oder Science Fiction
Stichwörter: Gedächtnisverlust, Begegnung in der Nacht, Hitze
Rating: P18, keine detaillierte Erotik
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Die Playlist pseudoitalienischer Musik, die aus den unter der Decke angebrachten Lautsprechern unaufdringlich das ganze Restaurant beschallt, wiederholt sich inzwischen zum zweiten Mal. Aus Erfahrung weiß ich, dass ihre Gesamtdauer ungefähr zwanzig Minuten beträgt – Yves verspätet sich also schon über eine halbe Stunde. Gut, er kommt nie pünktlich zu unseren Dates, doch diese Zeitspanne ist auffallend lang. Was mag ihn nur aufhalten?
Wie üblich wünschte ich, ich könnte ihn einfach anrufen und fragen. Aber das geht nicht, denn Yves besitzt kein Mobiltelefon. Eigentlich ist das eine der Eigenschaften, die ihn mir seit unserer ersten Begegnung so sympathisch macht: Er ist auffällig altmodisch, was sich nicht nur in seinen Kommunikationswegen zeigt. Seine Kleidung ist stets geschmackvoll, aber dezent, nie würde er unrasiert oder mit unordentlicher Frisur ins Lokal kommen, seine Ausdrucksweise und Wortwahl entspricht eher der eines sehr höflichen und respektvollen Mannes um die sechzig – obwohl er ganz klar gut dreißig Jahre jünger ist.
Mit einem Seufzen schaue ich erneut aufs Display meines Smartphones – nur, um die Uhrzeit zu überprüfen, versteht sich. 43 Minuten. So spät war er noch nie.
Was hat er wohl diesmal für eine Ausrede? Der Gedanke lässt mich schmunzeln. Ich mag die Geschichten, die er ganz offensichtlich erfindet, um sein Zuspätkommen zu entschuldigen. Allesamt klingen sie, als habe ich es mit einem Geheimagenten zu tun, der sich abends in Schale wirft und außerhalb seiner Rolle agiert, endlich mal Privatmann sein kann, wenn er eine Verabredung hat. Und wer weiß, vielleicht ist sogar was dran an der Theorie? Das Wenige, das er über seine Arbeit erzählt hat, klingt tatsächlich ein bisschen nach einem Thriller: Personenüberwachung, ausführliche Berichterstellung, Reports an geheimnisvolle Vorgesetzte „ganz weit oben“, was er stets in einem ausgesprochen verschwörerischen Tonfall sagt.
„Bitte verzeih mir die ungebührliche Verspätung!“
Sein Atem geht ein wenig schneller als sonst und seine Wangen sind leicht gerötet, während er sich das perfekt sitzende Hemd glattstreicht. Trotz der sommerlichen Hitze entstellen weder Falten noch Schweißflecken den hellen Stoff. Und wie immer wartet er, bis wir einander begrüßt haben, bevor er sich setzt.
„Was ist passiert?“, frage ich, schon gespannt auf die Erklärung.
Er lächelt. „Ein Vorfall bei der Arbeit führte dazu, dass eine Ausgangssperre über das Gelände verhängt wurde. Ich benötigte einige Zeit, um mich davonzuschleichen.“
„Was für ein Vorfall war das?“
Doch wie ich erwartet hatte, war das alles, was ich an Informationen erwarten durfte. „Ach, nichts, das dich beunruhigen müsste. Ich hoffe, dein Hunger hat dich nicht allzu sehr gequält?“
Diesmal ist es an mir, zu schmunzeln. Es ist unsere vierte Verabredung, und mein Hunger quält mich schon eine ganze Weile – jedoch nicht der nach Pizza oder Nudeln. Ich würde diesem geheimnisvollen Mann gerne endlich ein wenig näher kommen – vielleicht gelingt es mir heute ja, mir wenigstens einen Kuss zu stehlen? Ich habe keinesfalls den Eindruck, dass er dem abgeneigt wäre. Es scheint mir viel eher so, dass er darauf wartet, dass ich die Initiative ergreife – und genau das habe ich heute Abend vor.
Das Abendessen verläuft wie immer sehr angenehm. Wir unterhalten uns über unsere Hobbys, aktuelle politische Themen, sofern er davon gehört hat, was überraschend oft nicht der Fall ist, technische Neuerungen und unsere Leben im Allgemeinen. Er erstaunt mich mit der Information, dass er über zehn Geschwister hat, und lacht, als ich ihm eröffne, dass ich unsere Familie mit drei Kindern inzwischen schon fast als außergewöhnlich groß ansehe. Als ich ihn allerdings auf seine Großfamilie anspreche und nach weiteren Details frage, verändert sich seine offene, lockere Art jedoch wieder, und er gibt kaum etwas Preis. Doch er fasziniert mich viel zu sehr, als dass ich mich davon abschrecken lasse. Über sich selbst spricht er gerne mit mir und das soll mir fürs Erste genügen. Sollte es zwischen uns wirklich zu einer romantischen Beziehung kommen, bin ich schließlich an ihm interessiert, nicht an seiner Familie oder seinen Arbeitskollegen.
Üblicherweise verabschieden wir uns nach unseren Treffen direkt an der Tür des Restaurants. Doch da ich fest entschlossen bin, herauszufinden, ob er an einer Vertiefung unserer Bekanntschaft interessiert ist, habe ich heute etwas anderes vor.
„Hoffentlich regnet es nicht“, erwähne ich wie beiläufig. „Ich bin heute nicht mit dem Auto da und muss zu Fuß nach Hause laufen.“
Zwar hatte ich gehofft, dass er mir anbieten würde, mich zu begleiten, doch die Heftigkeit seiner Reaktion überrascht mich. „Auf keinen Fall! Du musst durch den Park, nicht wahr? Ich werde dich begleiten!“
Mein überraschter Gesichtsausdruck lässt ihn sofort ein wenig zurückrudern. „Nun, das ist natürlich nur ein Vorschlag. Wenn es dir lieber ist, lasse ich dir ein Taxi rufen. Ich wollte nicht aufdringlich sein.“
Ich ignoriere, was auch immer seine Sorge um mein Wohlergehen auslöst. Da er mir angeboten hat, mich zu begleiten, habe ich mein Ziel erreicht, und das ist das Einzige, das mich im Moment interessiert.
Der Weg bis zum Stadtpark ist genau, wie ich es mir erhofft hatte. Ein gemütlicher Spaziergang durch die frühe Nacht in der sommerlichen Stadt. Viele Menschen sind noch auf den Straßen, sitzen in Cafés, auf Treppen und Bänken, unterhalten sich, genießen das gute Wetter und die Abkühlung, die der Sonnenuntergang endlich mit sich bringt. Je näher wir dem Park kommen, desto ruhiger wird es, und der süße Geruch blühender Pflanzen wird immer deutlicher wahrnehmbar. Ein paar späte Vögel zwitschern schläfrig in den Bäumen, und ein sanfter Wind weht von irgendwo die Klänge leiser Musik heran. Die Atmosphäre ist perfekt für einen romantischen Spaziergang, und die Vertrautheit, die zwischen uns herrscht, macht mir Hoffnung, unsere Beziehung auf einer abgelegenen Parkbank endlich ein wenig intensivieren zu können.
Doch kaum haben wir den Park betreten, verändert sich Yves‘ bis dahin so entspannte Haltung. Er späht in die dunklen Zwischenräume der Bäume, sein Kopf ruckt beständig von einer Seite zur anderen und er stellt jede Kommunikation zwischen uns ein, um zu lauschen. Das einzig Positive ist, dass er meine Hand ergreift.
Nach zwei Minuten wird mir das Spiel zu blöd.
„Yves – was ist los?“
„Nichts. Ich bringe dich sicher nach Hause.“
Ich seufze genervt und bleibe stehen, sodass auch er wohl oder übel nicht weitergehen kann. Irritiert sucht er meinen Blick.
„Ganz ehrlich“, sage ich ernst, „Hast du Angst vor mir?“
Die Verblüffung in seinen Zügen beantwortet meine Frage, bevor er den Mund zu einer Antwort öffnet. „Nein! Ganz im Gegenteil, ich sorge mich um dich!“
„Aber wovor sollten wir uns hier denn fürchten? Es ist der Stadtpark, Yves – ich würde gerne ein wenig Zeit mir dir hier verbringen!“
Sein Lächeln wirkt gezwungen. „Gerne – vielleicht übermorgen? Jetzt sollten wir weitergehen.“
Ich entziehe ihm meine Hand und verschränke die Arme vor der Brust. „Ach komm schon – ich hatte mich wirklich auf einen schönen Abend nur mit dir hier im Park gefreut, und du tust so, als lauere uns hier irgendein Monster auf! Sei doch bitte einfach ehrlich und sag mir, wenn du kein Interesse an ...“ Ich schlucke und suche nach den richtigen Worten.
Doch bevor ich sie finde, tritt Yves einen Schritt auf mich zu. Das Lächeln, das seine Lippen umspielt, ist anders als üblich. Es macht seine Züge weicher, und Zuneigung liegt in seinem Blick, als er meinen Satz fortführt. „... dir habe? Oh doch, das habe ich. Und ich würde zu gerne ein wenig mit dir hier verweilen, glaub mir bitte. Aber heute ist schon wieder kein guter Zeitpunkt dafür.“
Die Hand, die er sanft an meine Wange legt, lässt meine Haut dort kribbeln, wo er sie berührt, und ich ignoriere seine Worte. Ich will nicht länger warten. Langsam, aber zielstrebig beuge ich mich ihm entgegen, bis unsere Lippen einander berühren, wir den so lang ersehnten zärtlichen ersten Kuss austauschen. Er ist angenehm warm und weich, und ich will mehr vom Gefühl seiner Haut an meiner.
„Nicht, bitte“, sagt er leise und hält meine Hand auf, die ich unter den kurzen Ärmel seines Hemdes schieben wollte.
Die Zurückweisung verunsichert mich, und beschämt ziehe ich meine Hand zurück, trete einen Schritt von ihm fort. „Entschuldige“, murmle ich verlegen. Ich fühle mich gleichzeitig ertappt und abgewiesen. Doch bevor ich mich von ihm abwenden kann, legt er eine Hand auf meiner Schulter und hält mich auf.
„Es gibt da etwas, das du wissen musst.“ Seine Stimme ist leise und eindringlich, sodass ich trotz meiner Scham in seine Augen blicke. Dass ich darin Angst erkenne, irritiert mich sehr.
„Ich bin nicht der, für den du mich hältst“, gesteht er. „Glaub mir, ich wollte es dir längst erzählen, habe es mehrfach sogar schon versucht, doch ... ich verstoße gegen alle Gesetze, wenn ich es tue. Und ich fürchte, dass du mich dann vielleicht nicht mehr willst.“
„Bist du ein Spion?“, höre ich mich selbst fragen. Doch die Überraschung über meine eigenen Worte wird von der über seine Antwort noch übertroffen: „Ja, vermutlich schon. Aber das ist es nicht, was ...“ Er zögert nur kurz, bis ihm zögerlich über die Lippen kommt, was mich sprachlos macht.
„Ich bin kein Mensch.“
Natürlich macht er sich über mich lustig. Es muss so sein. Ich blinzle.
„Du kannst nicht unter mein Hemd greifen, weil es kein Hemd ist“, versucht er sich an einer Erklärung. „Ich ... ich zeige es dir.“
Und vor meinen Augen verschwimmt der Hemdsärmel zu einer weißen, viskosen Masse, die sich dicht an den Arm schmiegt und zu nackter Haut verfestigt.
Ich starre die Stelle an. Ich muss mich geirrt haben. Eine optische Täuschung aufgrund der schummrigen Parkbeleuchtung. Der Schweiß, der mir plötzlich aus allen Poren dringt, muss von der Hitze des Tages kommen.
Blinzeln fällt mir schwer.
„Bitte“, fleht er, doch ich stolpere einen Schritt zurück, als er seine Hand nach mir ausstreckt.
„Wie hast du das gemacht?“, flüstere ich heiser, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
„Das ist keine Kleidung. Das bin alles ich. Meine Spezies ist, was ihr als Gestaltwandler bezeichnet.“
Er tritt behutsam einen Schritt in meine Richtung. „Bitte“, sagt er eindringlich. „Glaub mir – ich bin trotzdem ich! Eigentlich ändert das nichts zwischen uns!“
Ich kann mir ein ungläubiges, ersticktes Auflachen nicht verkneifen. „Was? Glaubst du das wirklich? Ich meine – was genau bist du?“
„Können wir das bitte bei dir zuhause besprechen?“
„Ich weiß nicht, ob ich dich reinlassen will!“ Meine Stimme klingt selbst in meinen Ohren ein wenig schrill. Und überhaupt – woher weiß er eigentlich, wo ich wohne?
„Dann vor deiner Haustür. Bitte! Lass uns den Park verlassen – wir könnten hier in Gefahr sein!“
Aber ich kann nur ungläubig den Kopf schütteln. „Warum – mögen Hunde deine Art nicht? Oder Fledermäuse? Hast du Angst vor Augenzeugen? Was genau machst du hier eigentlich?“ Seltsamerweise glaube ich seine Geschichte langsam doch.
Er seufzt und reibt sich mit den Händen über die Augen. Er wirkt so verdammt menschlich!
„Ich arbeite bei einer Behörde, die außerirdische Aktivitäten auf dem Planeten Erde genehmigt und überwacht“, setzt er zu einer Erklärung an.
Ich lache laut auf. „Die Men in Black?“ Natürlich habe ich den Film gesehen. Was für ein Quatsch!
Doch er nickt ernst. „Uns ist heute ein nicht genehmigter Außerirdischer entkommen. Bitte, lass uns gehen – er ist wirklich gefährlich!“
Ich weiß langsam nicht mehr, was ich denken soll, und wehre mich nicht, als Yves – wie heißt er wohl wirklich? – erneut nach meiner Hand greift und mich sanft, aber bestimmt mit sich zieht, zielstrebig auf die andere Seite des Parks zugeht.
Ein gefährliches Alien treibt sich hier herum? Mein Love Interest ist ein Gestaltwandler? Der Film war Realität?
Während Yves mich voranzieht, mustere ich die wenigen uns entgegenkommenden Menschen, immer auf der Suche nach der versteckten Kamera, die sich jetzt ganz sicher gleich offenbaren wird. Doch wir begegnen keinem lachenden Kamerateam. Der Jogger scheint nur ein Jogger, der alte Herr mit Hund nur ein alter Herr mit Hund, und die junge Frau, die auf ihr Smartphone schaut, eben nur –
Yves reißt mich zu Boden, bevor die Fangarme des Wesens mich erwischen.
Ich rapple mich so weit auf, dass ich ungläubig auf das starren kann, was sich da vor meinen Augen abspielt: Die Masse, die Yves sein muss, wogt um das Wesen, das unter der Kleidung der vermeintlichen Frau hervorgebrochen ist, umfließt gummiartige Arme, wird zu Fesseln, bis das Wesen wie ein Paket verschnürt im Staub des Parkwegs liegt, nur wenige Meter von mir entfernt. Die lilafarbenen Augen starren mich auf eine Art und Weise gierig an, die mir eiskalte Schauer über den Rücken jagt.
„Commander!“
Zwei Polizisten kommen eilig zu uns gelaufen. Mich ignorieren sie völlig, legen aber stabil aussehende Seile um das wütend zischende Alien, fesseln es damit ein zweites Mal.
Als sie es wieder auf die Beine ziehen, zumindest sehen die Dinger wie Beine aus, und einen Mantel um das Wesen legen, um es ein wenig zu verbergen, fließt eine viskose Flüssigkeit unter den Seilen hervor, tropft auf den Weg, sammelt sich zu einer Pfütze und schraubt sich in die Höhe, um Yves zu bilden.
Sein Hemd hat keine Falte und seine Frisur ist perfekt. Ich kann nicht aufhören, ihn anzustarren.
„Ist das Ihr Freund?“
Die beiden Polizisten schmunzeln, als Yves mir eine Hand reicht, um mich auf die Beine zu ziehen.
„Alles in Ordnung?“ Prüfend legt er mir die Hände auf die Schultern und sieht mir in die Augen.
Kaum hörbar flüstert er: „Es tut mir leid. Ich verspreche, ich mach es wieder gut. Bei unserem nächsten Date wird endlich nichts mehr dazwischenkommen, ganz bestimmt!“
Dann nimmt er von einem der Polizisten ein stiftförmiges Gerät entgegen, setzt sich eine Sonnenbrille auf, die er aus seiner Hemdtasche gefischt hat, und sieht mich wieder an. "Schau dir dieses Gerät an, bitte. Hast du so was schon mal gesehen?"
*Blitz*