Ein warmer Sonnenstrahl bahnte sich seinen Weg durch das dicke Blätterdach direkt auf mein Gesicht. Dieser Wald... So viele Gefühle klebten an den dicken Stämmen. Ich weiß noch genau, was ich vor all den Jahren hier gefühlt hatte, damals mit 16, als ich mich entschloss von Zuhause wegzulaufen. Kaum zu glauben, dass es schon zwölf Jahre her war. Ich erinnere mich an die Angst die ich hatte und meine Tränen, welche mir unaufhörlich über die Wangen liefen. Sie wurden mir von spitzen Ästen vom zarten Gesicht gerissen. Der Herbststurm, der damals wütete machte mir den Weg nicht unbedingt leichter. Wieso wollte ich also ausgerechnet in einer Nacht wie dieser gehen? Ich konnte einfach nicht mehr. Aber es war eine gute Entscheidung, denn nur deshalb konnte ich glücklich werden. Und dennoch musste ich zurück. Noch einmal alles klären. Seit all den Jahren versuchte ich jetzt schon mich zu überwinden und jetzt war ich kurz vor meinem Ziel. Mein Pferd wurde schneller. Langsam konnte ich die Erinnerungen, die an diesen Ort geknüpft waren, nicht mehr ertragen. Früher kam ich immer her, wenn ich es Zuhause nicht mehr ausgehalten hatte oder ich einfach meine Ruhe brauchte, was mit den Jahren immer öfter vorkam. Ich kannte mich, damals wie heute, genau unter dem riesigen Blätterdach aus. Es hatte sich so gut wie nichts verändert, was mich auch nicht sonderlich wunderte. Schon früher war hier nicht viel los. Manchmal kam ein Wanderer oder ein Pendler vorbei, der eine falsche Abzweigung genommen hatte. Und auch heute sah ich keine Menschenseele. Ich wollte auch erstmal keinen sehen, jedenfalls noch nicht. Das Ende des Waldes näherte sich und ich verlangsamte das Tempo meines Pferdes wieder. Ich stand auf einer viel benutzen Straße. Die rote Stadtmauer erinnerte mich wieder einmal an meine Kindheit, dieses Mal im positiven Sinne. Als ich noch jung war, war die Stadt gefüllt mit Heiterkeit und Gelächter. Mittlerweile stand ich vor den Stadttoren. Ich setzte die Kapuze meines blauen Umhangs ab, sodass mein Haar zum Vorschein kam. Ob mich wohl jemand erkennen würde? Wollte ich das überhaupt? Egal, ich setzte die Kapuze nicht mehr auf. In meinem tiefsten Inneren hoffte ich, vielleicht doch erkannt zu werden. Für einen Moment schloss ich meine grünen Augen und atmete tief durch, bevor ich in die Stadt ritt. Mir blieb fast mein Herz stehen als ich sah, was aus meiner Heimat geworden war. Während es früher an jeder Ecke Blumen und Menschen mit ihren Familien gab, herrschte nun eine beunruhigende Stille. An den Orten an denen die Kinder damals spielten, standen nun zwielichtige Gestalten und wo man die Familien gefunden hatte, sah man nun schreiende Babys in den Armen ihrer halb verhungerten Mütter. Es war wie ein Alptraum aus dem ich einfach nicht aufwachen konnte. Mein Mund wurde trocken und mein Hals schnürte sich zu. Mein Blick starr nach vorne gerichtet und die braunen Strähnen im Gesicht. Anstatt dass ich mir die Haare aus dem Gesicht wischte, nutzte ich sie als Sichtblockade und beschloss, die Kapuze doch wieder zu verwenden. Umso tiefer ich in die Stadt kam, desto nachdenklicher wurde ich. Doch für einen Rückzieher war es nun zu spät. Das Elend wurde weniger und der Gestank nach Abfällen und Fäkalien legte sich, bis ich endlich vor einem riesigen, mit goldenen Zacken versehenen Tor stand. Dahinter konnte man einen prächtigen Garten sehen und dann das Schloss. Ein riesiges, steinernes Schloss, das, anders als der vordere Teil der Stadt, zu glänzen schien. Doch das Tor war verschlossen und zwei Wächter versperrten mir den Weg. „Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“, fragte der Ältere mit fester Stimme. Mein Pferd stand schräg zu den Wachen, sodass ich meinen Kopf leicht zu ihnen drehen musste. Ich saß kerzengerade da, mein Gesicht, welches ich leicht eitel anhob, in der Kapuze versteckt. Diese setzte ich jedoch ab, sodass meine lockigen, langen Haare auf meinen Rücken fielen und mein immer noch zartes Gesicht zum Vorschein kam. Ich antwortete dabei mit den Worten: „Ich möchte zum König!“ Die Antwort kam überraschend sicher aus meiner Kehle. Ich blickte der Wache direkt in die Augen. „Das kann nicht sein“, murmelte der Ältere fassungslos. Ohne ein weiteres Wort öffnete sich das Tor und ich konnte passieren.
Der Kontrast zum äußeren Teil der Stadt war enorm. Die Rasenflächen, die sich über das gesamte, überaus große Gelände hinwegzogen, leuchteten in einem saftigen grün. Auf ihnen glänzten kleine Bäume mit frisch gewachsenen Blättern. Steinwege führten zu dem, auf einem kleinen Hügel liegenden, Schloss und brachten einen zum Eingang. In der Mitte der halbrunden, sowohl rechts als auch links verlaufenden Wege, reihten sich die farbenfrohsten Blumen die man sich nur vorstellen konnte. Wohin man auch sah erkannte man den Frühling. Ich wünschte mir ich hätte dieses Spiel aus Farben und Licht weiter beobachten können, doch die Zeit wurde knapp und ich wollte vorankommen. Während ich es die gesamte Zeit über geschafft hatte, meine Aufregung in Grenzen zu halten, begann sie nun mit rasanter Geschwindigkeit zu wachsen. Zwei weitere Diener öffneten mir die Tür. Beide waren noch jung. Zu jung um zu wissen wer ich war, anders als der Wächter am Tor. Der Eine nahm mir meinen Umhang ab, während der andere höflich fragte, wo ich hin wolle. Ich lächelte den sichtlich verunsicherten jungen Mann, den ich auf höchstens 19 Jahre schätzte, freundlich an und sagte ihm nur, dass ich den Weg kenne. Das war teilweise eine Lüge, denn obwohl ich mich natürlich im Schloss auskannte, wusste ich dennoch nicht, wo er sich gerade befand. Ich lief also ziellos durch die Gänge mit der Hoffnung, dass eine Antwort mich finden würde. Zu fragen war keine Option. Dafür war ich einfach zu Stolz. Die Gänge waren immer noch prachtvoll. Statuen, viele davon aus Marmor, schmückten sie. Portraits, unter anderem von der königlichen Familie, hingen an den Wänden. Topfpflanzen versuchten den Gang freundlicher wirken zu lassen. Vergebens. Sämtliche Fenster im Schloss waren mit dicken Vorhängen verhangen, wodurch sämtliche Räume keine andere Wahl hatten als düster zu wirken. Die Bilder lenkten mich so sehr ab, dass ich nicht einmal merkte, wer da gerade auf mich zukam. Zwei starke, aber auch warme Hände, packten mich von vorne an den Schultern und rissen mich somit aus meinen Gedanken. Ich erkannte das überaus vertraute Gesicht sofort wieder.