Du bist Brenna Sundergeer.
Gegen Mittag ist es soweit: Nachdem ihr euch ein letztes Mal versichert habt, dass wenigstens eure Pferde für die nächsten Wochen gut versorgt sein werden, überquert ihr auf einer schmalen, rutschigen Planke den Abstand vom Steg zum Schiff. Es ist nicht deine erste Schiffsreise, doch das erste Mal, dass du dich auf die Mondsee begibst. Du passt deine Schritte dem unter dir schwankenden Deck an.
Die Schaluppe liegt tief im Wasser, das Deck ist wenige Meter breit. Ein paar zerlumpte Matrosen ziehen an den Segeln, während der schmierige Kapitän euer Reisegeld von Allyster entgegen nimmt. Du lässt deinen Blick über die Mannschaft wandern. Ausnahmslos sitzen sie mit leerem Blick an ihren Plätzen und bewegen sich nur, wenn sie einen unmittelbaren Befehl erhalten. Krankheit, Schmutz und schlecht behandelte Verletzungen offenbaren sich unter den zerfetzten und farblosen Resten ihrer Kleidung.
„Willkommen an Bord!“, haucht der steingesichtige Kapitän mit rauer Stimme nah an deinem Ohr. Du zuckst zusammen. „Folgt mir doch bitte!“
Er führt euch in den engen Schiffsbauch, der aus zwei großen Räumen besteht. Im hinteren Raum lagern die Waren, die die Schaluppe führt, in mehreren großen Kisten. Der vordere Raum ist ein gemeinschaftlicher Schlafraum, in dem mehrere gerade Säulen wie Baumstämme stehen. An ihnen lassen sich die Hängematten für die Nacht befestigen.
Ihr könnt eure Habseligkeiten an der Wand des großen Raumes verstauen, wo auch alle anderen ihr Zeug lagern.
„Ihr braucht keine Angst vor Dieben zu haben“, erklärt der Kapitän ungefragt. „Die Gesetze an Bord sind streng, und da die Diebe nirgendwohin können, wird an Bord nie etwas gestohlen.“
„Wir machen uns keine Sorgen“, sagt Allyster für seine Verhältnisse ungewöhnlich grob. Der Kapitän versteht den Wink und zieht sich zurück, sodass ihr in Ruhe eure Sachen auspacken könnte.
„Wie geht es dem Magen?“, fragst du.
„Momentan ist alles gut“, antwortet Allyster. „Warten wir ab, bis wir auf dem offenen Meer sind.“
Also lag sein unwirscher Tonfall nicht an der aufziehenden Seekrankheit. „Warum warst du nun so gemein zu dem Kerl?“, fragst du in gedämpftem Tonfall.
Allyster sieht auf und seufzt. „War es so offensichtlich? Das tut mir leid. Ich denke mal … ich kann ihn einfach nicht leiden.“
Du amüsierst dich im Stillen darüber, dass sogar der scheinbar unfehlbare Allyster ab und zu mal menschliche Facetten zeigt.
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Wenig später verlasst ihr den Schiffsbauch, in dem es unangenehm nach ungewaschenen Körpern und Pfeifenrauch riecht. An Bord ist die Luft frisch und kühl, was Allyster mit tiefem Durchatmen begrüßt. Das Meer erstreckt sich vor euch, eine endlose Fläche schaumgekrönter Wellen. Die Schaluppe wird schon an diesem recht ruhigen Tag heftig durchgeschüttelt.
„Ich frage mich, wie wir in dieser Nussschale den Ozean überqueren sollen!“, murmelt Allyster.
„Du bist von Kriegsschiffen verwöhnt“, tadelst du ihn grinsend. „Auch kleine Schiffe halten sich über Wasser.“
Aji kichert leise.
Allysters Blick ist finster. Er kann es so gar nicht leiden, wenn zur Abwechslung mal er von oben herab behandelt wird. „Sind dir die Ruderer aufgefallen?“
Du lässt den Blick über die Matrosen schweifen. „Ja. Was ist mit ihnen?“
Allyster seufzt. „Sie sind Zombies, Brenna. Tote Augen, schwankende Bewegungen, reagieren nur, wenn man ihnen befiehlt ... Ein Voodoo-Zauber, ein mächtiger noch dazu.“
Unvermittelt fühlt sich der Seewind eisig kalt an. Aji schnappt nach Luft und tritt näher zu euch.
Du starrst Allyster an. „Heißt das … der Kapitän ist ein Voodoomagier? Wird er uns töten?“
„Nein, ich denke nicht“, brummt Allyster. „Ich habe ihm vorsorglich den doppelten Preis gezahlt. Außerdem hätte er keinen Nutzen davon, uns zu verwandeln. Was soll er mit zusätzlichen Zombies? Das Schiff ist bestens besetzt.“
Dir läuft ein Schauer über den Rücken. „Wir werden mit den Zombies in einem Raum schlafen müssen! Sie werden uns auffressen!“
„Zombies essen keine Leute“, meint Allyster genervt. „Sie sind nichts weiter als menschliche Golems. Von Golems hast du doch wohl gehört?“
„Golems können auch Menschen töten!“, fährst du auf. „Wenn ihre Meister sie dazu bringen.“
„Genau, wenn ihre Meister es befehlen. Gebt dem Kapitän einfach keinen Anlass, uns zu töten, und alles ist gut.“
Du starrst den dunkelhäutigen Magier an, der sich gemächlich durch den Bart streicht. Ihr befindet euch auf einem Schiff voller Toten, dem wortwörtlichen Geisterschiff, und er sagt, ihr sollt euch keine Sorgen machen?
Selbst nach all den Jahren, die ihr zusammen reist, kann dich der Magier noch überraschen. Das mag aber auch daran liegen, dass ihr nie zuvor solch seltsame Orte wie in den Jenseitslanden besucht habt.
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Doch bald überkommt auch dich die Langeweile dieser Schiffsreise. An Bord gibt es nichts zu tun, außer vielleicht der unheimlichen Mannschaft aus dem Weg zu gehen. Noch ehe sich die Sonne senkt, stehst du am Bug und seufzt im Stillen, während du die Wellen vor dir nach irgendeinem markanten Punkt absuchst.
Du bist schon fast erleichtert, als der Kapitän zu dir tritt. „Wie gefällt dir die Fahrt?“
Du lässt den Blick über den grauhäutigen Mann wandern. „Gut.“
„Es scheint nicht deine erste Schiffsfahrt zu sein.“
Du überlegst, ob man das Boot wirklich als Schiff bezeichnen kann, nickst aber. „Ich war früher häufiger auf Schiffen unterwegs.“
Aus dem Augenwinkel entdeckst du zwei Gestalten, eine groß und dunkelhäutig, die andere klein und in einen Kapuzenumhang gehüllt. Allyster hat sich von seinem Stammplatz an der Reling losgelöst und kommt leicht auf Ajis Schulter gestützt zu euch.
„Ein Söldnerleben soll ja sehr aufregend sein“, schwärmt der Kapitän. „Ich wäre erfreut, von euren Abenteuern zu hören!“
„Es sind keine Abenteuer, sondern Aufträge“, gibst du pikiert zurück.
„Natürlich doch.“ Der Kapitän pflichtet dir schneller bei als eine Flagge sich dem Wind nachwendet.
„Wir haben viele Orte gesehen und Dinge erlebt, die anderen wohl nur im Abenteuer geschehen“, sagt Allyster besänftigend, der zu euch tritt. „Aber die meisten dieser Dinge wären zu grausam für ein gemütliches Gespräch.“
Der Kapitän lacht rau. „Als ob man in diesem Wind von Gemütlichkeit reden könnte!“
Er hebt sein unansehnliches Gesicht in den scharfen Seewind. Besagter Wind greift auch nach Ajis Kapuze und reißt sie vom Kopf des Kindes. Aji fährt zusammen, doch Allyster schüttelt leicht den Kopf, als Aji versucht, die Kapuze hastig wieder aufzusetzen.
Der Kapitän wendet den Kopf und wirkt nicht im mindesten überrascht über Ajis Haar- und Augenfarbe.
„Ich denke, eure Geschichten könnten mich durchaus interessieren“, sagt er.
Du merkst, dass sich eine Gänsehaut über deinen Körper zu ziehen beginnt. Dich beschleicht das unbestimmte Gefühl einer Bedrohung, als ob du dich vollkommen in der Gewalt des Kapitäns befindest. Der starrt Aji vielsagend an.
„Ich – ähm, es war ein Unfall“, stammelt der Junge und weicht dem Blick des Seefahrers aus.
„Er ist mein Lehrling“, springt Allyster ein. „Ein Zauber, der leider nach hinten losgegangen ist.“
„Natürlich doch.“ Der Seefahrer schnaubt abfällig. „Ihr mögt vielleicht die ganze Welt erblickt haben, doch ich habe auch tatsächlich hingesehen. Er ist ein Wandling, das erkenne ich zehn Meilen gegen die Sonne. Sie sind als Sklaven viel wert.“
Allyster schiebt sich vor Aji. „Er ist kein Wandling, was immer das sein soll! Und ein Sklave ist er schon gar nicht!“
Der Kapitän lacht, jedoch ist es kein humorvolles Lachen. Seine Augen bleiben starr und kalt wie die Augen eines toten Fisches. „Ich bin kein Sklavenhändler. Dem seid ihr entgangen. Aber ich bin jemand, der keine Lügen duldet. Ich will meine Gäste kennen, deswegen verratet mir auf der Stelle, was euer Ziel in diesen Gewässern ist.“
„Unsere Ziele sind unsere Sache!“, setzte Allyster an. Der Kapitän macht eine Handbewegung, als wollte er einen Schwertstreich gegen Allysters Hals führen. Der Zauberer öffnet den Mund, doch kein Wort dringt heraus. Du siehst, wie Allysters Augen sich weiten, als er verzweifelt versucht, Worte zu formen. Doch er bringt keinen Ton heraus.
Der Kapitän wendet sich lächelnd dir zu, als hätte er gerade nicht den mächtigsten Magier, den du kennst, verstummen lassen.
„Also? Welcher Auftrag führt euch in die Mondsee?“
Dein Blick huscht zu Allyster, doch der Magier kann dir nicht helfen. Was sollst du tun? Die Wahrheit sagen? Irgendwie bezweifelst du, dass der Kapitän eure Ziele unterstützen wird.
Aber kannst du eine Lüge wagen?
Du entscheidest dich …
- … für die Wahrheit. Lies weiter bei Kapitel 11.
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- … für eine Lüge. Lies weiter bei Kapitel 12.