Du bist Allyster der Sehende.
„Wir sollen zu Verbrechern werden?“, fragst du entgeistert. „Geiseln nehmen? Seid ihr noch bei Trost? So tief dürfen wir nicht sinken!“
Karja, Brenna und auch Aji sehen dich einigermaßen überrascht an.
„Ich kann nicht fassen, dass ihr das überhaupt in Betracht zieht!“, knurrst du. „Wir brechen ein.“
„Aber die Schatzkammer ist gesichert!“, beharrt Karja jetzt. „Ich weiß nicht, wie wir unbemerkt einbrechen sollen!“
Du verschränkst die Arme vor der Brust: „Zuerst einmal bin ich Zauberer. Ich kann Schlösser knacken, ohne dass es mich viel Mühe kostet. Und Aji ist sehr geschickt mit einem Dietrich. Zur Not steht mir auch immer noch der weniger elegante Weg der brutalen Gewalt offen. Ich rede von Sprengsätzen, Feuerbällen, so was.“
„Ich denke, wir sollten so lange wie möglich unbemerkt bleiben“, sagt Karja zögerlich. „Aber für den Rückweg können wir etwas brutale Gewalt sicherlich gebrauchen.“
„Na schön. Was müssen wir sonst wissen?“
„Wir brauchen ein Bild der Lage vor Ort“, sagt Karja sofort. „Gleich morgen früh zeige ich euch, wo die Schatzkammer liegt.“
°°°
Am nächsten Morgen reißt Karja euch früh aus dem Schlaf.
„Ich dachte, an Land könnten wir ausschlafen!“, beschwert sich Aji.
„Wir sind nicht an Land“, stöhnst du leise. Dein Magen hasst die Bewegung der Holzplatten von Mittsee.
Nach einem kargen Frühstück begebt ihr euch in die Gassen der Stadt. Nur wenige Menschen sind schon auf den Straßen, die meisten von ihnen sind Betrunkene, die noch nicht nach Hause gelangt sind. In einigen schmalen Gassen sieht man die reglosen Körper von Menschen, die ihren Rausch ausschlafen – doch manche haben auch ein Messer im Rücken stecken. Dir läuft ein Schauer über den Rücken. Mittsee ist eindeutig eine Stadt der Gewalt. Niemand scheint sich groß zu kümmern. Ihr seht einige Hausbesitzer, die fluchend ihre Vorgärten aufräumen und die Leichen einfach ins Meer kippen.
Unter Mittsee muss es von Haien nur so wimmeln.
Ihr kommt an einer Vielzahl von unterschiedlichen Gebäuden vorbei, deren Architektur Einflüsse aus allen Winkeln der dir bekannten Welt aufweist - und noch einige Einflüsse, die du nicht zuordnen kannst. Die Piraten müssen aus aller Welt gekommen sein, ehe sie ihr Herz und ihre Seele dem Meer widmeten und für immer an die Mondsee gefesselt blieben.
Die Schatzkammer befindet sich am Rand der schwimmenden Stadt, wo sich auch ein reich verzierter Palast erhebt, ein himmelblaues Gebäude, golden verziert, mit Bildern von Fischen, Seeungeheuern und marinen Fabelwesen auf allen Wänden und golden gerahmten Fenstern, Verzierungen aus farbenfrohen Muscheln und einem extravaganten Garten vor dem Haus. Im Inneren des Palast muss es deiner Erfahrung nach noch weitere Gartenanlagen geben. Karja erzählt euch, dass es auch einen eigenen Hafen gibt, der stark gesichert ist.
Der Palast besitzt nur einen schmalen Zugangsweg, der von Piraten bewacht wird. Dahinter erstreckt sich eine Festung aus zwei breiten Ringen. Im Inneren Ring liegt der Palast, im Äußeren Ring Gebäude wie die Schatzkammer, mehrere Tempel, Banken und die Gebäude hochrangigen Adels.
Als man Karja erkennt, dürft ihr den Zugangsweg überqueren und den Äußeren Ring betreten. Die Schatzkammer befindet sich in einem großen, hässlichen Steingebäude ohne Fenster und mit nur einer Tür, die ins Innere führt. Dort, so berichtet Karja im Flüsterton, verbergen sich die Schätze von Mittsee in mehreren Zellen ähnlich wie in einem Gefängnis.
„Es müsste noch einen weiteren Zugang geben“, erzählt sie, während ihr so tut, als würdet ihr das stille Meer bewundern. Der Wind ist unangenehm stark und kalt und der Boden schaukelt unter euch. „Die Wachen bringen den ganzen Tag dort zu, nach den neuen Gesetzen zur Stadthygiene müssen sie aber einen Abort in Reichweite haben.“
„Stadthygiene?“, wiederholst du.
Karja nickt. „Wurde nach der letzten Seuche eingeführt. Hat offenbar geholfen.“
„Gut, es gibt also eine Toilette?“, fragst du.
„Ein Loch, das ins Meer führt“, berichtigt Karja. „Es muss im Gebäude sein. So könnten wir rein kommen, aber … ich weiß nicht, ob wir das unbemerkt tun können.“
„Vermutlich nicht“, brummt Brenna. „Wenn ich ein offenes Loch in meiner Schatzkammer hätte, würd ich da 'ne Wache aufstellen.“
„Klowache!“ Aji kichert.
Karja nickt. „Ich denke, eine Ablenkung wäre gut. Ein falscher Angriff auf die Schatzkammer, der die Wachen dazu bringt, nach draußen zu laufen.“
Du reibst dir nachdenklich das Kinn. „Trotzdem müsste es jemand von uns sein, der einen falschen Angriff durchführt. Das ist ein zu großes Risiko. Außerdem werden die Wachen sehr wahrscheinlich doppelt so aufmerksam sein, wenn es einen Angriff auf die Schatzkammer gab. Wir müssen eine andere Möglichkeit finden, die Wachen abzulenken.“
Brenna und Karja werfen dir frustrierte Blicke zu. Du lässt dich davon nicht beeindrucken, sondern studierst den Vorplatz der Schatzkammer sehr genau. Dass deine Begleiter unruhig werden, ignorierst du.
Der Klotz, der den Reichtum der Piratenkönige beherbergt, besitzt ein vorspringendes Dach, das von einigen plumpen Säulen getragen wird. Davor erstreckt sich ein großer, leerer Platz, der den Äußeren Ring dominiert – die Gebäude befinden sich am Rand des äußeren Festungsrings. Der Boden besteht aus schaukelnden Plattformen, die nur mit Metallketten aneinander gebunden sind.
„Mit einer kräftigen Explosion könnten wir den Boden aufreißen“, überlegst du laut. „Das wäre sicherlich eine Ablenkung.“
„Ja, aber wir können kein Dynamit in den Mengen in den Ring schleppen, die Wachen würden uns aufhalten.“ Karja schüttelt genervt den Kopf.
Du wirfst ihr einen hochmütigen Blick zu. „Ich brauche kein Dynamit.“
„Das stimmt“, wirft Brenna nun ein. „Allyster könnte den halben Vorplatz aufreißen, wenn er die Zeit bekommt, um sich vorzubereiten.“
„Die Idee gefällt mir nicht wirklich“, gibt Karja zu. „Ich hätte dich lieber mit in der Schatzkammer, Zauberer.“
Gerade, als du darauf etwas erwidern kannst, spürst du ein Rucken am Ärmel. Du senkst den Blick und bemerkst Aji, der versucht, deine Aufmerksamkeit zu erlangen.
„Nicht jetzt“, sagst du, da zieht der Junge mit einer verstohlenen Bewegung den Schöpferstein hervor. Du schnappst nach Luft und steckst dem Jungen den Stein sofort wieder unter das Hemd. „Bist du verrückt geworden?!“
„Ich könnte doch helfen“, sagt der Junge jetzt ernst und umklammert den Stein unter seinem Hemd. „Ich könnte sie ablenken.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage! Den Lockvogel zu spielen ist gefährlich, Aji!“
„Auch nicht gefährlicher, als sich in die Schatzkammer zu schleichen“, wirft Karja gleichmütig ein.
„Außerdem hat er recht.“ Nun fällt dir auch noch Brenna in den Rücken. „Der Stein ist mächtig. Eine Horde toter Piraten wäre sicherlich eine Ablenkung. Du könntest mit Karja in die Schatzkammer einbrechen, während ich auf Aji aufpasse. Was meinst du?“
„Nein!“, schimpfst du. „Der Junge kann den Stein nicht kontrollieren.“
„Scht!“, macht Karja und sieht sich nervös um. Du bist vor Wut viel zu laut geworden. Mit Mühe kannst du deine Emotionen beherrschen – wenn du die ganze Gruppe jetzt verrätst, ist euch auch nicht geholfen.
„Er kann die Alte Sprache nicht sprechen“, sagst du leiser. „Das ist gefährlicher als alle anderen Risiken zusammen.“
„Du kannst mir doch ein paar Sätze beibringen bis morgen“, bettelt Aji. „Nur so viel, wie ich wissen muss. Bitte!“
„Du hast keine Ahnung, worum du da bittest!“, knurrst du den Jungen an.
„Du willst also dabei bleiben, dass du den Platz explodieren lässt?“, fragt Karja jetzt spöttisch. „Was, wenn sie dich gefangen nehmen? Oder schlimmer noch, wenn wir in der Schatzkammer auf versperrte Türen stoßen und wieder zurückmüssen, ohne dir helfen zu können? Ich will dich in der Schatzkammer haben, Zauberer. Oder hast du Angst davor, durch eine Toilette schwimmen zu müssen?“
Jeder Widerspruch bleibt dir im Hals stecken, denn ein Schauer läuft dir über den Rücken. Deine Instinkte, geschärft durch die Magie, die du schon so viele Jahre nutzt, sind etwas, worauf du dich immer verlassen kannst. Jetzt sagt dir dein sechster Sinn, dass Karja euch etwas verheimlicht. Weiß sie mehr über die Schatzkammern, als sie zugeben will? Oder über die Wachen? Auf jeden Fall gibt es einen unausgesprochenen Grund, warum sie gegen deinen Plan ist. Die Frage ist: Kannst du ihr vertrauen?
Um dein Wissen nicht zu verraten, entscheidest du dich, Karja nicht darauf anzusprechen. Immerhin bekommst du nicht das Gefühl, dass sie euch in eine tödliche Falle locken will. Sie will euch beschützen, doch ob es ihr um die ganze Gruppe geht oder nur um einen Teil, kannst du nicht in ihr lesen. Doch auch du willst jemanden beschützen: Wo also ist Aji sicherer – in der Schatzkammer oder auf dem Vorplatz?
Du …
- … beharrst auf deinem Plan, selbst für Ablenkung zu sorgen. Lies weiter bei Kapitel 22.
[https://belletristica.com/de/books/20829/chapter/22922]
- … lenkst ein und lässt Aji für Ablenkung sorgen. Lies weiter bei Kapitel 23.