Er machte einen plötzlichen Schritt nach vorne, wagte sich an einem Ausfall und begann mit einer leichten Drehung des Handgelenks eine Umgehung. In der Luft schoben sich die Klingen aneinander vorbei, schabten kurz aneinander und Stahl klirrte. Dann, ohne dass Sinijar es vorhergesehen hätte, trafen sie sich in der Luft. Sofort bewegte er sich einige Schritte zurück, um seinem Gegner die Möglichkeit zu nehmen, selbst vorzustoßen. Dieser folgte ihm in regelmäßigen Schritten, das Gesicht immer noch freudig über die gelungene Parade verzogen. Und dass durfte er auch sein, denn bisher hatte er Sinjars Angriffe so erfolgreich zu nichte gemacht.
Gleichmäßig umkreisten sie sich, während über ihnen Eandelaths sanftes Licht den Platz erleuchtete und ihre schweißnassen Gesichter glänzen ließ. Du bist zu alt geworden, spottete die Stimme in ihm, so alt, dass selbst dieser Jungsporn deine Angriffe vorhersehen kann.
Knurrend hob Sinijar die Säbelklinge und verkürzte den Abstand zu seinem Gegner in einem geschickten Spiel immer mehr. Sein Gegner war ein vorsichtiger Kämpfer, es war selten, dass er selbst einen Angriff wagte, dafür war seine Verteidigung brilliant. Wenn er Glück hatte, würden die Beobachter dieses Verhalten als feige beurteilen und Sinijar dennoch den Sieg zusprechen. Aber Sinijar baute schon seit langem nicht mehr auf Glück, sondern nur auf sein eigenes Können.
Wieder wagte er sich an einem Angriff und wieder begann er auf der linken Flanke seines Gegners eine Umgehung, als wolle er die rechte Schulter treffen. Und wieder schien sein Gegner die Klinge zu erwarten, um sie zu parrieren. Nur dieses Mal war Sinijar vorbereitet. Im letzten Moment ließ er die Klinge hinabsinken, zielte schräg nach oben und stach zu. Auch die gegnerische Klinge sank in einer geschickten Bewegung hinab, kurz berührten sie sich, aber es gelang seinem Gegner nicht mehr, die Klinge vollständig abzuwehren. Die stumpfe Spitze traf auf das gefütterte Wams des Gegners.
Ohne etwas von der grimmigen Gegnugtuung zu zeigen, zog Sinijar die Klinge zurück und ging in eine Abwehrhaltung.
Eine Welle von Zorn schlug ihm entgegen, als sein Gegner in wilden, heftigen Schlägen immer wieder auf ihn einzuhieben versuchte. Die konzentrierte sorgfältige Eleganz der vorigen Minuten wich einem harten schnellen Kampf, in der sich ihre Rollen zu tauschen schienen. Nun war Sinijar der Verteidiger und sein Gegner der Angreifer. Gelassen parierte Sinijar die Angriffe und erzielte schließlich auf dieselbe Weise einen Treffer wie sein Gegner zuvor. Doch im Gegensatz zu ihm lernte der junge Mann nicht daraus. Seine Bewegungen wurden ausufernder, seine Schritte schneller, sein Atem keuchender. Er verausgabte sich. Mehrmals gelang es Sinijar, die Angriffe zu parieren und selbst Treffer zu erzielen. Schließlich erkannte eine Schwäche des Jungen und ging nun seinerseits voran. Mit schnellen kraftvollen Schritten trieb er seinen Gegner über den Platz, hob die Klinge zu geschickten Angriffen, die dieser nur schwerlich parieren konnte. Wieder einmal trafen sich ihre Klingen in der Luft zwischen ihnen und dann flog die Klinge des Gegners durch die Luft, während Sinijar ihm den Säbel gegen den Brust hielt. Erst jetzt gestattete er es sich, innezuhalten und einmal tief durchzuatmen.
"Es war ein guter Kampf", erklärte er mit rauer Stimme, die trocken wie Schmirgelpapier war
Sein Gegner entgegnete nichts, stattdessen verzog sich das Gesicht vor Verachtung. Leise fluchend trat der Junge zurück und hob seinen Säbel aus dem Sand des Platzes auf.
"Du hättest gar nicht gegen mich kämpfen dürfen, Pasjek."
Scheinbar gleichgültig ließ Sinijar die noch immer erhobene Klinge sinken und untersuchte den Stahl auf Scharten. "Und doch habe ich dich besiegt." Der Kampf hatte seiner Waffe nicht geschadet. Zufrieden ließ er den Stahl in die Scheide an seiner Seite gleiten.
"Es war ein unfairer Kampf", verkündete der Kantigarker lautstark, sodass auch die Beobachter am Rande des Kampfplatzes seine Worte vernehmen konnten.
Erst jetzt hob Sinijar den Kopf, denn von der Meinung der Zuhörer hing seine Zukunft ab. Seine Beine schmerzten von dem Lauf über den weichen Sand, dennoch bemühte er sich um eine gerade und aufrechte Haltung. Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn und befeuchtete mit der Zunge seine rissigen Lippen.
Es ist nicht Kialrehm, flüsterte er sich selbst immer wieder zu, als er seinem ehemaligen Gegner über den Platz zu den Beobachtern folgte. Nicht derselbe Mann, nicht dieselbe Situation. Die Angst in ihm sprach eine andere Sprache. Gleich einem hungrigen Wurm fraß sie sich in seine Gedanken und ließ ihn die Hand reflexartig auf den Knauf seines Säbels legen. Wirre Gedanken vergruben die Vernunft unter sich und zerstörten die konzentrierte Ruhe, die der Kampf in ihm geschaffen hatte.
Schritt für Schritt. Einen nach dem anderen.
Seine Beine fühlten sich an wie Blei, der Schweiß lief im nicht nur aufgrund der Anstrengung des Kampfes über den Rücken.
Ruhig, flüsterte er immer wieder, ruhig. Vergess es endlich, baue dir ein neues Leben.
Sinijar hob den Blick und sah dem Mann entgegen, der über sein Schicksal entscheiden würde.
Er saß außerhalb der kreisrunden Absperrung auf einem Teppich, der mit seinen bunten Farben und Formen neben der gleichtönigen Sandfläche fehl am Platz wirkte. Hinter ihm befanden sich zwei Männer, deren bunte Haarbänder sie als Offiziere auswiesen. Vier Soldaten umgaben das Rechteck, um den Fürsten von Kantigark vor allen Angreifern abzuschirmen, weitere standen in den Ecken des Innenhofes.
Der Hauptmann der Leibwache löste sich von dem Teppich und trat den beiden Kämpfern entgegen. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihnen, die Waffen abzulegen. Es missfiel Sinijar, die vertraute Waffe abzulegen und seine Schritte fühlten sich seltsam an, nachdem er sie in die Hände des Offiziers gelegt hatte. Fast war es, als ob er nackt wäre und nur mühsam konnte er den Blick von der Waffe in den Händen des Hauptmannes ablenken. Zu sehr erinnerte es ihn an eine andere Situation, wo seine Wehrlosigkeit fast zu seinem Tod geführt hätte. Doch im Gegensatz zu damals schwang der Offizier den Säbel nicht verächtlich sondern bewundernd durch die Luft. Anerkennend nickte er Sinijar zu, bevor er die Waffe seines Kontrahenten begutachtete und sie schließlich einem seiner Soldaten überreichte.
"Nennt eure Namen vor dem Fürsten von Kantigark", forderte er.
"Linareg von Kantigark", sprach sein Kontrahend sogleich und warf einen verächtlichen Blick zu Sinijar, der eindeutig nicht dem Adel entstammte.
"Sinijar", antwortete er schlicht, ohne ihn zu beachten.
"Du trägst den Namen eines Soldaten, Sinijar", sprach der Fürst, den Sinijar erst jetzt wirklich wahrnahm. Er hatte erwartet, dass seine Stimme so hell und harsch klingen würde wie die von Kialrehm, doch er hatte sich getäuscht. Der Fürst von Kantigark hatte eine dunkle, kräftige Stimme, die den ganzen Platz erfüllte. Es war die Stimme eines Mannes, der fähig war, große Heere zu befehligen, nicht die eines fordernden Kindes wie es der Fürstensohn gewesen war. "Wer hat dir diesen Namen verliehen?" Sinijar verstand, dass man Antirehm nicht widersprach. Er war ein Fürst und herrschte als solcher.
"Ich diente unter Fürst Resturehm von Hasuhar. Er gab mir den Namen eines Soldaten, als er mich zu einem Mitglied seiner Leibwache erhob", antwortete er wahrheitsgemäß. Den Kopf voller Erinnerungen an diesen Moment, der ihn zunächst so stolz gemacht und am Ende nur Leid gebracht hatte. Begang er hier denselben Fehler? Würde er sein Schicksal erneut an jemanden knüpfen, der es doch nur mit den Füßen trat? Vertraue niemals den Adeligen, hatte sein Vater ihn noch gewarnt, als er das Angebot Resturehms erhalten hatte.
Sinijar versuchte, den Fürsten einzuordnen, Merkmale zu finden, die ihn von Kialrehm und Resturehm unterschieden. Das Erste, was ihm auffiel, waren die Stiefel. Antirehm trug hohe abgerundete Stiefel aus dunklem Leder, die mit unauffälligen silbernen Schnallen geschlossen waren. Gegenteilig zu den spitzen nach obene gebogenen halbhohen Schuhen, die unter den Adeligen des Ostens momentan in Mode waren. Seine Kleidung war dem Stand, den er verkörperte, angemessen, doch nicht extravergant.
"Wie ist der Name, unter dem du geboren worden bist?"
Fast unmerklich zuckte der Krieger zusammen. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Manchmal erschien es ihm, als würde es diese Vergangenheit, die er mit diesem Namen verband, nicht mehr existieren, als wäre alles von dem einen Moment, wo der Säbel aus seiner Hand geschmettert und eine Klinge auf ihn gerichtet worden war, überlagert. Dieser eine Moment hatte ihm seine Vergangenheit gestohlen, nun war es Zeit immerhin die Gegenwart für sich zu erobern.
"Mein Name war Siniam." Die Worte hingen in der Luft und hinter ihm hörte er das verächtliche Schnauben des anderen Kriegers. In diesem Moment war es irrelevant. Es zählte nur der Blick, mit dem der Fürst ihn musterte. Würde er einem Mann, dessen Namenssuffix seine bäuerliche Herkunft verriet, zum Schutz seines Sohnes anstellen? Alles um sie herum schien zu schweigen, Geräusche, Gefühle und die Umgebung verschwammen unter dem durchdringenden Blick des Fürsten. Seltsamerweise wich auch die Angst - und für einen Moment selbst der Gedanke an sein einstiges Scheitern. Sinijar fühlte sich frei in diesem Moment, frei und friedlich, weil jemand ihn anstarrte. Du bist ein Narr, flüsterte die Stimme, Dein Vertrauen in einen Mann zu setzen, der dich doch wieder enttäuschen wird.
"Gebt mir den Säbel." Diese Worte durchbrachen den Moment und ließen Sinijar zusammenzucken. Stumm beobachtete er wie der Soldat den Säbel an den Fürsten weitergab. Das Gesicht des Mannes spiegelte sich in dem glänzenden Stahl, als Antirehm ihn aus der Scheide zog. Der Fürst erhob sich und stellte sich auf, um einige Kampfschritte auszuführen. Seinen Bewegungen fehlte es an Eleganz, aber sie waren pragmatisch und zielführend. Es war offensichtlich, dass er zwar nicht allzu oft kämpfte, es aber durchaus konnte, wenn er es musste.
Sinijar hatte bereits viele Gerüchte über diesen Fürst gehört, der von den einen als Held und den anderen als Narren verschrieen wurde und entschloss sich, dass er diesen Mann trotz seiner politischen kontroversen Haltungen akzeptierte. Er hatte Sinijar die Möglichkeit gegeben, seine Fähigkeiten zu beweisen und schämte sich zugleich nicht, selbst zu kämpfen, wie es zu viele Adelige taten, die ihre mit Gold und Edelsteinen verzierten Schwerter kaum den Kampf sehen ließen.
"Das ist eine gute Klinge", verkündete Antihrem, nachdem er seine kurze Vorführung beendet hatte. "Gut ausbalanciert und ungewöhnlich leicht in den Bewegungen. Woher ist sie?"
Sinijar hob den Blick und entgegnete mit fester Stimme: "Das ist eine lange Geschichte"
Ein Lächeln zog sich über die Züge des Fürsten. "Und ich bin mir sicher, dass du sie mir eines Tages erzählen wirst." Er reichte Sinijar die Klinge zurück.
Und als Sinijar den Griff um die Waffe schloss, die ihn schon solange begleitete, begriff er, dass jetzt irgendwie alles gut werden würde.
Hier in einer fremden Stadt wartete ein neues Leben auf ihn, eine neue Chance fern der Vergangenheit, die er nun dankbar ergriff. Der Tanz seines Lebens, der unter einem einzigen Schwerthieb geendet hatte, drehte sich fort und führte zu Orten, die er noch nicht erkennen konnte
"Es wird mir eine Ehre sein."
Und erst jetzt getraute er es sich, ebenfalls zu lächeln.