Ich sage immer, dass ich im Grunde drei Eltern hatte. Neben meiner wunderbaren Mutter und meinem wundervollen Vater hat mich noch eine dritte Person großgezogen, nämlich der Mann, der zu meinen Jugendfeuerwehrzeiten Jugendwart war. Da ich damals meine halbe Freizeit im Gerätehaus verbracht habe, ist das wohl auch kaum verwunderlich. Vieles von dem, was ich heute kann und weiß, beispielsweise, wie ein Gruppenführer zu denken hat („Immer erst einen Überblick über die Lage verschaffen, dann entscheiden. Wenn man es umgekehrt macht, artet das oft in sinnlosen Aktionismus aus“), habe ich von ihm gelernt. Sein Name war Ralf.
Ralf war ein großartiger Mensch. Geduldig, durchsetzungsstark, entschlossen, sowohl für seine Familie als auch für die Feuerwehr alles zu geben. Er hat im Rathaus gearbeitet, sodass er nie besonders weit weg war, wenn es zum Einsatz kam. Er war Zugführer, was bedeutet, er gehörte zum Kreis der Feuerwehrleute, aus denen in der Regel der Kommandant gewählt wird.
All die Jahre, die ich nicht mehr in meiner Heimatgemeinde wohnte, habe ich Kontakt zu ihm gehalten. Jedes Jahr schrieb ich ihm eine Weihnachtskarte, manchmal, wenn ich bei meinen Eltern war, besuchte ich ihn auch – wie in guten alten Zeiten, als ich noch Jugendfeuerwehrschriftführer war und mich jede Woche mit ihm traf, um den Bericht fürs Gemeindeblatt mit ihm abzustimmen. Ich hatte ihn sogar zur Hochzeit eingeladen, und ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr es mich freute, dass er tatsächlich unter den Gratulanten war, als wir als Eheleute ins Freie traten!
Als ich beschloss, wieder zurück „nach Hause“ zu ziehen, konnte ich es kaum erwarten, ihm davon zu erzählen. Er fehlte mir, und ich freute mich unglaublich darauf, mit ihm zusammen wieder Übungen und Einsätze zu fahren.
Doch während man Pläne schmiedet, kommt einem oft das Leben dazwischen. Bei mir kam das Leben in Form einer WhatsApp-Nachricht eines alten Jugendfeuerwehrkameraden – dass der meine Telefonnummer noch hatte, überraschte mich.
Und der Inhalt der Nachricht ließ für mich vieles zusammenbrechen.
„Ralf ist tot. Beerdigung ist am Dienstag in zwei Wochen.“
Wie ich erfuhr, arbeitete er nicht mehr im Rathaus in unserem Ortsteil, sondern in dem des Nachbarortsteils, wo er jeden Tag mit dem Roller hinfuhr. Irgendein Autofahrer hatte sich verfahren und beschlossen, dass ein kleiner Feldweg rechts am Straßenrand völlig ausreichte, um kurz zu wenden, nutzte die winzige Stelle und zog in einer engen 180°-Kurve nach links.
Genau auf Ralfs Roller.
Er starb noch an der Unfallstelle.
Natürlich war ich bei der Beerdigung. Ich fühlte mich schrecklich, weil ich nicht in der Lage war, ihm in Ausgehuniform die letzte Ehre zu erweisen. Ratlos stand ich vor meinem Kleiderschrank, bis mein Blick auf ein altes, ein sehr altes Jugendfeuerwehr-T-Shirt fiel. Das hätte ihm gefallen ...
Dennoch fühlte ich mich schrecklich. Die ganze Kirche war voller Menschen in Ausgehuniform – nicht nur unsere Wehr, viele Feuerwehrleute aus der ganzen Gegend waren gekommen.
Ich kannte niemanden.
Es war, als ob mit Ralf meine ganze Verbindung zur Feuerwehr gestorben wäre.
Auf dem Friedhof, nach der eigentlichen Beerdigung, hörte ich eine Stimme hinter mir. „Wie schön, dass du da bist!“ Ich konnte es kaum fassen – einer meiner ehemaligen Jugendfeuerwehrkameraden stand dort, in Ausgehuniform, mit Rangabzeichen, die eindeutig bewiesen, dass er die letzten 16 Jahre weiter bei der Wehr geblieben war. Es tat so unendlich gut, ihn zu sehen – und nach kurzer Zeit war ich von mindestens sechs Leuten umringt, die mich alle noch kannten, die sich alle freuten, mich zu sehen. Die mich ins Gerätehaus einluden, wo man noch auf Ralf anstoßen würde.
Der Umtrunk war wirklich schön. Es tat unglaublich gut, wieder unter Kameraden zu sein – mir wurde voll und ganz bewusst, was mir die letzten Jahre so sehr gefehlt hatte. Diese Kameradschaft, die hier gelebt wurde, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, war einfach wunderbar tröstend!
Bevor ich nach Hause ging, besuchte ich die Umkleide. Es dauerte nicht lange, bis ich Ralfs Spind fand. Seine Uniform hing noch darin, als könne er jederzeit wieder zum Einsatz erscheinen.
Ich kann das Gefühl gar nicht beschreiben, das mich dort erfasste. Seiner Uniform gegenüberzustehen war ein bisschen, als stünde ich seinem Geist gegenüber. Ich stand in der Umkleide vor seinem Spind und weinte, ließ meiner ganzen Trauer freien Lauf, schmiegte mich an einen Ärmel der Uniformjacke, dem greifbarsten Stück meines dritten Elternteils, das es für mich gab.
Ich war so froh, dass ich diese Chance hatte, Abschied zu nehmen. Es ging mir viel besser, als ich nach Hause zurückkehrte.
Diese Beerdigung war der Anfang meiner Rückkehr zur Feuerwehr. Lieber wäre mir, Ralf wäre noch bei uns, würde mit uns in den Einsatz fahren und an den Übungsabenden Kameradschaftspflege betreiben. Aber in gewissem Sinne hat sein Tod mich auch wieder zur Feuerwehr gebracht. Und dafür bin ich ihm unendlich dankbar.