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Gewählt wurde Prompt 2.
Während ich aufspringe, zupfe ich die Träger meines Cocktailkleids zurecht. Ja, sie hatte gesagt, dass es nichts großes werden würde, aber dann war ich doch so nervös, dass ich mich schon allein zur Beruhigung meiner Nerven schick gemacht habe. Leider hatte ich nur noch dieses Kleid von meinem Abiball, und ansonsten meine typischen, schwarzen Schlabberklamotten. Ich wollte mich eigentlich nur ein bisschen hübsch machen, jetzt sehe ich aus, als würde ich einen Antrag oder so erwarten. Auf dem Weg zur Wohnungstür bereue ich meine Entscheidung.
Allerdings nur so lange, bis ich im Flur stehe und auf die weiße Tür starre. Mit einem Mal sind meine Beine erstarrt. Meine Knie wackeln.
Ich schließe die Augen und mache meine Atemübung. Einatmen. ausatmen. Dabei jedes Mal bis fünf zählen. Verdammt, es ist jetzt ein Jahr her!
Aber die Erinnerung lässt sich nicht mehr zurückdrängen. Plötzlich ist es wieder der erste Februar in meiner neuen Wohnung. Gerade fertig mit dem Einzug, will ich mich mit meiner Schwester treffen und ein Eislokal in meiner neuen Umgebung aufsuchen. Freudig öffne ich die Tür und stutze, als ich zwei uniformierten Männern gegenüberstehe. Ich trage ein buntes Sommerkleid und bin mitten im Satz. Ich wollte meiner Schwester sagen, dass ich noch ein paar Minuten brauche, weil meine Handtasche mit dem Portemonnaie irgendwo im Umzugschaos verschwunden ist.
Einer der Polizisten öffnet den Mund, doch statt Worten kommt ein Klopfen heraus. Irritiert blinzele ich ihn an.
"Anja?", fragt der andere Polizist.
Sie kennen meinen Namen. Ich weiß, dass etwas passiert ist.
Moment. Sie haben mich doch als 'Frau Scherer' angesprochen.
"Anja? Bist du da?"
Ich starre auf die Tür. Geschlossen. Jemand klopft. Dann schrillt die Klingel ein zweites Mal.
Hastig drücke ich die Klinke herunter und reiße die Tür auf.
"Anja!", ruft Lydia überrascht aus. "Wow, du siehst unglaublich aus, Süße!"
Ich blicke an mir herunter. "Du findest nicht, dass es zu viel ist?"
Meine neue Freundin strahlt. "Auf gar keinen Fall!"
Ihr Lächeln erinnert mich an Martha. Überhaupt erinnert sie mich in so vielem an Martha. Als sie auf dem Trödel plötzlich vor mir stand, hatte ich für einen Moment sogar geglaubt, meine Schwester zu sehen. Blonde Haare, groß gewachsen, ein geblümtes Kleid ... und sie fragte nach dem Buch, das ich gerade in den letzten Karton packte, während mein Vater, Tom und Jason den Wagen bereits beluden. Es war Marthas Lieblingsbuch gewesen und das sah man ihm an, denn meine kleine Schwester hatte die schlechte Angewohnheit, Bücher über den Rücken zu knicken und tausend Eselsohren an Seiten zu machen, wenn ihr ein Satz darauf gefiel. Wie oft ich sie dafür ausgeschimpft hatte!
"Ich liebe das Buch", hatte Lydia gesagt, mit diesem Lächeln, das so sehr wie Marthas aussah. "Aber ich habe mein Exemplar leider verloren, als ich umziehen musste. Wie viel möchtest du dafür?"
Ich hatte es ihr geschenkt. Der Trödel war vorbei und das bedeutete, dass man eigentlich nichts mehr verkaufen sollte. Das hätte mich aber nicht gestört, doch es fühlte sich falsch an, für Marthas altes, zerfleddertes, gutes Buch noch etwas zu verlangen.
"Bist du dann soweit?", fragt Lydia. "Oder habe ich dich bei irgendwas unterbrochen?"
Ich spüre, wie meine Ohren rot werden. Diese dauernden Schwächeanfälle sind mir peinlich, also schüttele ich schnell den Kopf. Was soll ich denn auch sonst tun? Lydia direkt bei unserem zweiten Treffen die Geschichte um meine tote Zwillingsschwester auf den Hals binden? Und damit die ganze Stimmung ruinieren? Nein, heute möchte ich Spaß haben.
"Sagst du mir jetzt endlich, wohin wir gehen?", frage ich neugierig.
"Nein. Nur so viel: Du bist eventuell ein bisschen overdressed, aber ich denke, am Valentinstag fällst du damit nicht auf."
"Ich kann auch eben ..."
"Kommt nicht in Frage!", ruft Lydia aus und hakt sich bei mir unter. "Es macht doch Spaß, sich mal aufzutakeln. Genießen wir es!"
Ich lasse mich von ihr nach draußen ziehen. Die Sonne ist bereits ungewöhnlich kräftig und warm. Trotzdem zittere ich etwas.
Wann bin ich das letzte Mal ausgegangen? Mal überlegen: Nach Marthas Tod habe ich alle Kleider bis auf dieses weggeworfen und mich bisher nicht daran gestört, nur noch schwarze Kapuzenpullover zu besitzen.
Also so lange schon ...
Während ich grübele, führt Lydia mich zielstrebig durch die Straßen, die ich damals mit meiner Schwester erkunden wollte.
"Guck mal, der Laden da: Da kann man lustige Sachen kaufen. Elchköpfe aus Plüsch, die an die Wand kommen oder Scherzartikel. Warst du da mal drin?"
"Nein." Ich schüttele den Kopf. Seit ihr hier wohne, war ich eigentlich nur mal im Supermarkt. Nur mit Lydia war ich dann auch mal im Kino und in einem Café. Gott, was muss sie nur von mir denken?
Doch sie stört sich nicht an meiner Unwissenheit. "Der Park da drüben ist im Sommer schön. Man kann Schwäne füttern. Und da drüben machen sie einen herrlichen Kakao, perfekt für Wintertage. Ganz ehrlich, ich liebe dieses Viertel."
"Wohnst du hier?", frage ich, um auch etwas zum Gespräch beizutragen. Eigentlich genieße ich es nur, ihr zuzuhören. Sie ist so lebensfroh, und das scheint irgendwie auf mich abzufärben.
"Nein, aber ich bin oft hier", antwortet Lydia. Sie bliebt stehen. "Wir sind da."
Ich hebe den Blick und hätte am liebsten geflucht. Wir stehen vor genau der Eisdiele, in die ich damals vor einem Jahr mit Martha wollte. Meine Beine fangen wieder an, zu zittern. Ich muss mich an Lydia festhalten.
Zu meinem Erstaunen merkt sie nichts davon, sondern zieht mich schnurstracks über die Schwelle. Ein Chaos von Gefühlen tobt in mir. Angst und Panik, weil ich genau weiß, dass ich langsam die Beherrschung verliere. Trauer, weil die ganze Geschichte mit Martha wieder hochkommt. Dankbarkeit, dass Lydia mich endlich in den Laden schleppt, denn ohne sie hätte ich es bestimmt niemals geschafft. Nur weiß ich nicht, ob ich schon bereit bin.
Lydia bringt mich in den hinteren Teil und bugsiert mich auf eine Sitzbank an einem runden Tisch, dann quetscht sie sich neben mich. Ich kriege kaum mit, was als nächstes passiert, weil ich mich nur auf meinen Atem konzentriere. Auf der Karte wähle ich einfach blindlings irgendetwas aus, was mir ins Auge fällt.
Wenig später stehen zwei Becher vor uns.
"Willst du nicht probieren? Das Eis hier soll wirklich gut sein", sagt Lydia auffordernd.
Ich nehme den Löffel und schaufel Schokosoße in meinen Mund. Die Süße verdrängt den Kloß in meinem Hals und ich stelle fest, dass ich ja doch schlucken kann.
Lydia lacht herzlich. "Siehst du? So schlimm war es doch gar nicht!"
Also hat sie meine Panikattacke doch bemerkt. Ich seufze leise. Wann bin ich nur so kaputt geworden?
Mit jedem Löffel bekomme ich mehr Appetit und probiere eine Kugel nach der anderen. Liegt es daran, dass ich so lange kein Eis mehr hatte, oder schmeckt Erdbeere hier wirklich nach Erdbeeren und Schokolade wirklich nach cremiger Schokolade? Das Eis ist einfach köstlich.
Ich habe meinen Becher halb leer, als ich merke, dass Lydia mich einfach nur ansieht und ihr eigenes Eis noch gar nicht angerührt hat. Wie schnell habe ich denn bitte geschlungen? Dabei will ich vor Lydia wirklich keinen schlechten Eindruck machen. Nach Marthas Tod ist der Kontakt zu meinen anderen Freunden eingerostet, ich denke, ich brauche jetzt jemanden wie sie. Und nie zuvor habe ich mich mit einem Menschen außer meiner Schwester so gut verstanden.
"Lecker, oder nicht?", fragt Lydia leise. "Ich sehe schon, du genießt jeden Bissen."
Genießen? Ich rühre vorsichtig durch die Soße.
"Iss ruhig. Es ist schön, dich wieder lächeln zu sehen."
Ich sehe Lydia erschrocken an.
Nur, dass Lydia mir gar nicht mehr gegenüber sitzt. Und auch ihr Eisbecher ist fort.
Was zur Hölle ...? Mein Atem wird sofort schneller. Habe ich nicht mitbekommen, dass sie gegangen ist? Oder habe ich sie mir komplett eingebildet? Meine Hände zittern, sodass der Löffel im Glas klappert.
"Das kommt jetzt plump rüber", sagt einer der beiden Polizisten in meiner Eingangstür, "aber was macht ein schönes Mädchen wie du am Valentinstag ganz alleine hier?"
Ich blinzele. Ein Mann steht neben meinem Tisch. Er sieht gar nicht so schlecht aus. Vor dem Bauch trägt er eine Schürze mit dem Logo des Eisladens, die er jedoch gerade ablegt. "Das soll kein Vorwurf sein." Er lächelt. "Ich wollte nur fragen, ob mir dir alles in Ordnung ist."
Ich will etwas sagen. Nur was? Weder ein 'Ja, mir geht es gut' noch ein 'Nein, überhaupt nicht' wollen über meine Lippen.
"Ich habe gerade Pause. Stört es dich, wenn ich mich zu dir setze?"
Ich schüttele den Kopf und deute hilflos auf den Stuhl mir gegenüber. Am liebsten würde ich heulen. Nein, auf gar keinen Fall möchte ich jetzt alleine sein! Ich habe Angst davor.
Der Kellner scheint das zu ahnen, doch er ist auch taktvoll genug, mich nicht darauf anzusprechen, was mit mir nicht stimmt.
"Ich heiße Lars", sagt er und reicht mir die Hand. "Und du?"
"Anja." Meine Stimme wird ruhiger, sobald ich seinen selbstbewussten Griff erwidere. Irgendetwas tief in mir fühlt sich besser.