Prompt 1: Ich warte auf einen Besucher
Wir haben den 14. Februar.
Ungeduldig blicke ich aus dem Fenster. Wo bleibt er nur?
Wir kennen uns kaum. Aber er hat mir eine Überraschung versprochen. Aus diesem Grund bin ich so aufgeregt. Ich bin schlicht neugierig, was er sich ausgedacht hat.
Getroffen haben wir uns das erste Mal vor zwei Wochen. Ich hatte zusammen mit einigen Freunden einen der begehrten Stände des jährlichen Hallenflohmarkts ergattert und wir waren gerade dabei, nach Ende der Veranstaltung unseren übrigen Krempel wieder zu verstauen, als er mich ansprach und Interesse an einem alten Buch äußerte, welches ich gerade in der Hand hielt.
„Ein seltsamer Käufer, der erst kommt, wenn alles vorbei ist“, dachte ich mir noch, trotzdem wurden wir uns rasch einig. Unser Gespräch verlief so angenehm, dass ich ihm meine Telefonnummer gab, was sonst überhaupt nicht meine Art ist.
Letzten Samstag waren wir abends zusammen im Kino und anschließend noch kurz im angrenzenden Lokal. Er litt wohl an einer Magenverstimmung, wie er entschuldigend bemerkte, daher trank er nur ein stilles Wasser und wir verabschiedeten uns bald wieder. So habe ich nicht viel von ihm erfahren.
Ob er mir heute mehr erzählen wird?
Als ich gerade darüber nachdenke, klingelt es an meiner Türe …
Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel und fahre mir durch die Haare, bevor ich aufmache.
Da steht er. Lässig gegen den Türrahmen gelehnt, schwarze Lederjacke, das dunkle Haar ordentlich gekämmt und lächelt mich an.
Er streckt mir einen Strauß rote Rosen entgegen. Ich bitte ihn in meine Wohnung, was sonst gar nicht meiner Art entspricht. Er bringt einen Schwall nasskalter Luft von draußen mit herein und der Duft der Rosen erfüllt meinen Flur.
Während ich die Blumen in eine Vase stelle, biete ich ihm etwas zu trinken an. Die Einladung zu Kaffee oder Tee schlägt er aus und bittet um ein Glas stilles Wasser.
"Geht es dir nicht gut?", frage ich. Er winkt ab. Es sei nur die Aufregung. Er freue sich mich zu sehen, beteuert er. Trotzdem rührt er das Glas kaum an.
Erst jetzt fällt mir auf, dass er noch etwas in seiner Hand hält. Ein rechteckiger, flacher Gegenstand, der in grünes Geschenkpapier eingepackt wurde. Er registriert meinen Blick und räuspert sich.
"Ich habe dir doch noch eine Überraschung versprochen."
Er überreicht mir das Geschenk und ich murmele meinen Dank. Dann öffne ich die Schleife und löse vorsichtig den Tesafilm.
Es ist nicht schwer. Was wohl darin ist?
Ein altes Buch kommt zum Vorschein. Ich stutze. "Aber das ist doch -"
Weiter komme ich nicht, denn er unterbricht mich.
" - es ist etwas ganz Besonderes."
Es ist das Buch, welches er mir vor zwei Wochen auf dem Flohmarkt abgekauft hat. Alt und unscheinbar. Nicht einmal ein Titel steht auf dem verblichenen Einband. Ich habe es nie gelesen. Die altdeutsche Schrift hat mich abgeschreckt. Keine Ahnung, worum es darin geht oder wie es überhaupt in meinen Besitz gelangt ist. Ich wollte es bereits entsorgen, als ich es doch aus einer Laune heraus, auf den Stapel der zu verkaufenden Bücher gelegt habe. Auf Flohmärkten fanden sich Käufer für die seltsamsten Dinge. Und Gegenstände wegzuwerfen, vor allem Bücher, erschien mir beinahe unmöglich.
Ratlos betrachte ich den Einband. Ich habe ihn eigentlich fragen wollen, warum er das Buch gekauft hat. War es nur, um mich kennenzulernen oder hat er wirklich eine Verwendung dafür. Diese Frage hat sich nun erübrigt. Erlaubt er sich einen Scherz mit mir? Bei meinem Glück entpuppt sich mein Besucher als verrückter Spinner oder weitaus schlimmeres.
"Was soll daran so besonders sein?"
"Das siehst du gleich. Schlag es auf", verlangt er.
Ich folge seiner Aufforderung und öffne willkürlich eine Seite in der Mite.
Zuerst passiert nichts. Ich will den Blick schon heben und ihm zu verstehen geben, dass ich das nicht lustig finde - schließlich ist heute Valentinstag und nicht der 1. April - da passiert etwas mit den Buchstaben. Die schnörkelige Schrift verschwimmt vor meinen Augen und mit einem Mal kann ich klar und deutlich lesen, was dort geschrieben steht.
Ich blinzel. Das ist doch verrückt. Der Inhalt ergibt kaum einen Sinn: Rot blühende Blumen an einem Tag der Liebe geschenkt, sind eine starke Zutat für einen Liebeszauber.
Jetzt schaue ich ihn mit großen Augen an. Was ist das für ein Trick?
Er lacht. "Du kannst es jetzt lesen. Stimmt's?"
"Was hast du damit gemacht?"
"Es war versiegelt. Ein Schutzzauber. Deine Großmutter hat dir nie gesagt, wer du wirklich bist, oder?"
Wie? Was? Ich schüttel irritiert den Kopf. Das geht zu weit. Was hat meine Großmutter damit zu tun?
Er bemerkt meine Verstimmung.
"Entschuldige. Ich werde es dir erklären. Das ist nicht irgendein altes Buch, sondern ein Zauberbuch, seit Generationen in den Händen deiner Familie. Du hättest fast einen großen Fehler begangen, es wegzugeben. Dein Glück, dass ich es sofort erkannt habe und ich derjenige war, der es entdeckt hat. In den falschen Händen hätte es großen Schaden angerichtet."
Ich verstehe immer weniger von seiner Erklärung. Meine Großmutter ist vor einigen Jahren verstorben. Noch immer fehlt sie mir sehr, aber an Zauberei zu glauben, liegt mir fern. Ich glaube noch nicht einmal an Sternzeichen und Horoskope. Von ihm würde ich mir keinen weiteren Unsinn anhören. Also tue ich das, was ich immer tue, wenn ich ratlos bin und Hilfe brauche: Ich wende mich an ein Buch. Meine Finger fahren zwischen zwei Seiten und mein Blick fliegt über die Zeilen, die ich auch an dieser Stelle problemlos entziffern kann.
Liebe Sophie,
ich hoffe, dass Du eines Tages in der Lage sein wirst, diese Buchstaben zu lesen, denn sie bergen ein großes Geheimnis und es wird Deine Aufgabe sein, dieses zu beschützen.
Noch bist du zu jung, aber ich freue mich schon darauf, Dir alles zu erklären, was du über unsere Familie und über die Fähigkeiten wissen musst, die den Frauen unserer Familie zu eigen sind.
Sophie, meine liebe Enkeltochter, es gibt auf dieser Welt weitaus mehr Dinge, als die, die man mit dem bloßen Auge erkennen kann.
In den Händen hältst Du den Zugang zu einer Welt voller Wunder.
Nutze ihn weise.
Ich schluckte. Die verschlungenen Buchstaben gehörten meiner Großmutter.
"Was bedeutet das?"
"Du hast die Macht der Magie, so wie deine Mutter und Großmutter vor dir. Das Buch in deinen Händen ist eine uralte Sammlung von Zaubersprüchen und Beschwörungsformeln. Aber bevor deine Großmutter dich einweisen konnte, wurde sie umgebracht. Es war die Aufgabe meines Großvaters, sie zu beschützen, so wie es jetzt meine Aufgabe ist, dich zu beschützen, denn die Hüterinnen der Macht befinden sich in großer Gefahr. Und ich verspreche dir, ich werde diese Aufgabe besser erfüllen, als mein Vater und Großvater vor mir."
Er schaut mich aus seinen dunklen, unergründlichen Augen an und ich spüre, dass es die Wahrheit ist, die er sagt.
Ich glaube ihm, auch wenn seine Antwort mindestens zehn weitere Fragen aufgeworfen hat. Aber so wie es aussieht, haben wir noch viel Zeit, uns darüber zu unterhalten.
Ich weiß, dass es auf dieser Welt Dinge gibt, die man nur schwer in Worte fassen und die man nur mit dem Herzen begreifen kann.
Das, was ich heute erlebe, ist eines davon.