Als ich durch die Straßen, der Stadt ging, in der meine Karriere begann, überfiel mich sofort ein Gefühl von Wehmut. So viel hatte sich seit dem Tag getan und ich war nicht mehr das unbedarfte Mädchen von damals.
Ein trüber Tag im November verschlug mich zufällig hier her. Wobei zufällig nicht ganz stimmte. Die schmalen Altstadtgässchen und das typische, mitteleuropäische Flair zog schon seit Jahren die Menschen unserer Branche hier her. Für mich ging der Weg genau umgekehrt.
Plötzlich streifte mein Blick nicht nur die schönen Sandsteinfassaden mit den markanten Ladenschildern und Wohnhausfronten. Es war ein kleiner Junger von höchstens sechs Jahren, der sich von der Hand seiner Mutter losgerissen hatte, um einem Ball nachzujagen. Lächelnd stoppte ein junger Mann mit dem Fuß das Spielzeug und kickte ihn, ohne die schweren Bäckerkisten wegzustellen, zu dem Kind zurück, nachdem er sagte: »Fang!«
Ich sah, wie die Mutter entschuldigend sich bei dem Mann bedankte, ihren Sohn wieder an die Hand nahm und in meine Richtung eilte.
Kurz setzte mein Herz aus. Dieses Gesicht, diese Augen und diese Sommersprossen, welche nur von einer Brille halb verdeckt wurden, kannte ich genau.
Lysann war ihr Name und dann musste das Kind Tobias sein. Zuletzt hatte ich ein Bild von ihm gesehen, als er etwa ein Jahr war.
Einen Augenblick lang blieb alles stehen. Sie sah mich direkt an, aber erkannte mich dennoch nicht. Dabei könnte heute alles so anders sein.
»Das darf doch nicht wahr sein«, fluchte Lysann mit Tränen in den Augen.
Ich lehnte mich an die kühle Fliesenwand unseres Mädchenklos und versuchte die Tränen zurückzudrängen. Dieser Tag war hochgradig beschissen.
»Wie konnte er das nur machen?«, fluchte Lysann weiter und ich spürte, dass sie jeden Moment anfangen würde, alles kurz und klein zu schlagen. Ich dagegen war einfach niedergeschlagen und wollte nur, dass dieser Albtraum einfach ein Ende fand.
Seufzend stemmte ich mich nach oben und sah kurz aufs Waschbecken, als ich sie festhielt und zornig sagte: »Komm runter oder ich schaller dir eine, dass du die Engel singen hörst.«
Geschockt sah sie mich an, als hätte ich etwas absolut Unmögliches gesagt. Dann aber lachte sie nahezu hysterisch auf und meinte: »Wir sollten uns trotzdem fertigmachen. In etwa 20 Minuten geht der Vorhang auf und ich habe noch nicht einmal das Kostüm an.«
Ich nickte und schaute auf das Kleid vor mir. Wie ich ausgerechnet zur Zweitbesetzung der Hauptrolle unseres Schultheaterstücks gekommen war, wusste ich nicht. Aber irgendwie kam es dazu und ich war die letzten Wochen des Schuljahres mehr beschäftigt, den umfangreichen Text zu lernen, als für die Schule zu arbeiten. Da war es einfach nur Glück, dass sich mein Notenschnitt nicht signifikant verschlechtert hatte. Wenn ich bedachte, dass ich damit meinen Studienplatz für Physik vielleicht verspielte, wurde mir ganz mulmig. Gleichzeitig war mir aber auch klar, dass heute zunehmend mehr darauf geachtet wurde, dass die künftigen Studenten auch noch außerschulische Aktivitäten betrieben. Deshalb war ich im Theaterkurs gelandet. In der Hoffnung nur ein paar Stunden in der Woche an Bühnenbildern mitzuarbeiten oder vielleicht mal eine Nebenrolle zu spielen.
Lysann hatte sich inzwischen angezogen und würde in der Neuinterpretation von Romeo und Julia, die tragische Heldin spielen. Aber das war weniger das Problem. Eher unser Romeo, der in Wirklichkeit Steve hieß, welcher aus irgendeinem Grund dieses Stück überleben sollte.
Ich durfte jetzt nicht weinen, auch wenn mir danach zu Mute war. Immerhin waren wir Freundinnen seit so langer Zeit und das hier durfte unser Verhältnis trügen.
Plötzlich umarmte sie mich und meinte: »Egal was heute passiert. Wir bleiben für immer Freunde. Versprochen?«
Ich nickte und schluckte trocken, als endlich der Timer meines Handys abgelaufen war und ich Lysann mit zitternden Fingern ihren Schwangerschaftstest reichte. Erst danach griff ich zu dem zweiten Test und fand einen Strich darauf.
Erleichtert atmete ich auf und lehnte mich wieder an die Wand. Es war ein großer Fehler gewesen, der zum Glück ohne Folgen blieb. Ich würde es ihr nicht beichten müssen, was zwischen mir und dem Jungen passiert war, mit dem sie schon seit zwei Jahren ein Paar war. Sowohl auf als auch hinter der Bühne.
Plötzlich hörte ich ein Schluchzen. Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus und ich sah sie an. Tränen ruinierten gerade ihr Make-up, als sie mir ihren Teststreifen gab und in einer Kabine verschwand. Die Geräusche, die darauf folgten, als ich das Plus sah, lösten sogar in mir einen Würgereiz aus. Auch wenn ich nicht schwanger war. Anders als sie.
Es dauerte einen Moment, bis sie mit komplett verweinter Stimme sagte: »Ich kann da heute nicht rausgehen. Hast du den Text drauf?«
Ich nickte nur und was darauf passierte, konnte ich nicht mehr sagen. Ich erinnere mich nur dumpf daran, dass sie ihr Kostüm mir gab, wir zusammen zu unserem Lehrer gingen und ihm sagten, dass sie nicht auf die Bühne konnte und innerhalb von weniger als 5 Minuten stand ich auf der Bühne. Der Text, den ich auswendig kannte, rollte mühelos über meine Lippen, aber ich fühlte mich leer. Etwas, was vielleicht gut zur Rolle einer verzweifelten Tochter aus gutem Haus passte, die in einem goldenen Käfig saß.
Erst, als die Szene begann, in der ich das erste Mal ihn sah, flammte etwas auf. War es paradox oder einfach Schicksal, dass unsere erste Begegnung darin bestand, dass ich unserem Romeo dabei sah, wie er wild mit einer Nebenrolle herumknutschte, die eine enge Vertraute von mir sein sollte? Ich wusste es nicht.
Doch statt, wie vorgesehen die Szene verliebt zu spielen, tat ich es aggressiv und mit so viel Anspannung, dass niemand meinen minimal abgeänderten, neuen Text bemerkte oder vielleicht sogar besser fand.
Am Ende der Szene loderte mein Zorn so hoch, dass ich ihm eine Ohrfeige verpasste und er mich herumzog und mir einen vorsichtigen Kuss gab. Etwas, was ich später mit einer zweiten Ohrfeige quittieren würde. Ich hatte genug. Die Realität, die sich mit dieser Fiktion vermischte, war einfach zu viel für mich heute und entfachte etwas in mir, was ich nie gekannt hatte. Darstellerisches Talent.
Viel später erfuhr ich erst, dass ein Talentscout für Lysann da gewesen war. Dass er mir ihr Angebot unterbreitete und ich, anders als geplant, nach meinem Abschluss auf eine Schauspielschule gehen konnte, was ich annahm. Lysann dagegen bekam ein Kind. Etwas was auch mir an dem Punkt hätte so einfach passieren können.
»Antonia?«, sprach mich eine Stimme neben mir an.
Ich befand mich in einem kleinen Café und ein Mitarbeiter des Filmteams aus Italien, mit dem ich aktuell arbeitete, sprach mich an. Ich starrte auf meinen Melissentee und fragte mich noch: »Was wäre, wenn es anders gekommen wäre.«