Meine Finger fühlten sich eiskalt an, als ich das Bündel in meinem Armen hielt und näher zu der Frau kam. Es gab eine Menge Geschichten über die Dame, die hier saß und fast unsichtbare Fäden spann.
Obwohl es so kalt war, blühten schneeweiße Blüten, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte, rings um den Silbersee, an dessen Ufer wir uns befanden.
Nervös trat ich näher und streifte die Kapuze meines Mantels ab, der mich vor ihrem Blick verbarg, als ich meinte: »Bist du die Frau vom Hollerstrauch?«
Schweigend sah sie auf. Haare wie Seide bedeckten die eine Hälfte ihres Gesichts und ließen auf der anderen eine ältere Frau erkennen, bevor sie langsam mit ihrer melodiösen Stimme sagte: »Eine Frau, die mir entkam, sucht mich freiwillig auf?«
Ich nickte zaghaft und kniete mich mit klopfenden Herzen auf die mit Reif überzogene Wiese. Alles war still und wie Nebelschleier hingen Schwaden einer unbekannten Kraft in der Luft, welche anscheinend das Material lieferten, für die Fäden der Alten.
»Ich bin die Frau mit den vielen Namen und den vielen Gesichtern. Aber was tust du hier bei mir in dem Reich am Ende der Welt?«, sagte sie gedankenverloren, wieder mit den Augen auf ihre Handarbeit gerichtet.
Einen Schlag lang setzte mein Herz aus und fester klammerten meine klammen Finger den Stoff in meinen Händen, als ich fragte: »Wisst ihr, wer ich bin?«
»Du bist eine der Jungfern, die der alte Vater vom Tode errettete und mir deshalb vorenthielt. Die meisten sagen, hierher kommen all jene, die nicht als aufrechte Männer starben. Aber das ist falsch. Dies ist nur einer von vielen Orten, an denen man enden kann.«
»Dann weißt du auch«, setzte ich an und wusste, dass es ihr nicht um wissen, sondern um die Bitte selbst ging, »Ich bin ihretwegen hier.«
Sanft neigte ich den Kopf und streckte leblose Bündel in meinen Armen nach vorn.
»Leben kann nur gegen Leben getauscht werden«, sagte die Alte leise und warf einen kurzen Blick auf das kalkweiße Gesicht des Mädchens, bevor sie hinzusetzte, »Und die die ihr Leben verloren, können keines erschaffen. Glaub mir. Ich verstehe das Leid dieses Kindes.«
Die Taubheit, welche die Kälte schon die ganze Zeit auslöste, ergriff mich noch mehr, was meine Verzweiflung nur noch stärker machte. Es war mein Fehler gewesen und sie, die nicht einmal einen Namen trug, sollte nun dafür büßen.
Plötzlich stemmte die Alte sich hoch und winkte einen der Nebelschleier zu sich. Wie als wäre sie aus dem Boden gewachsen, stand die schattenhafte Gestalt eines Mädchens vor uns und knickste ehrfürchtig vor der Spinnerin, welche sich inzwischen an den Strauch gewandt hatte, der neben uns stand.
Die Äste wirkten nun, wo ich ihn genau betrachtete noch sonderbarer als alles andere hier. Die einen standen noch in Knospen, die nächsten in voller Frucht, andere waren kahl wie im Winter und die anderen voller Blüten und grüner Triebe. Ganz, als wüsste er nicht, welche Jahreszeit nun war.
»Das Leben erfolgt nach einem klaren Ablauf. Wir werden geboren, wachsen heran, zeugen Nachwuchs und scheiden dahin. So war es immer und so wird es immer sein. Dieser Ort hier sorgt dafür, dass die Seelen vom Ende wieder an den Anfang reisen können, wenn sie dieses Lebens nicht überdrüssig sind«, meinte sie und pflückte sich ein paar Beeren, um sie zu zerdrücken.
Roter Saft, welches so unwirklich schien in dieser Welt aus unzähligen weißen Farbtönen, blieb an ihren Fingern hängen und perlte herab.
Ich wusste, was sie mir sagen wollte. Hatte ich mich doch diesem Zyklus entzogen und den Tod vor dem Gründen einer Familie gewählt. Leise schluchzend kauerte ich mich zusammen, mein totgeborenes Kind in den Armen.
»Ich sollte es nicht tun, aber habe Mitleid mit dir. Deshalb werde ich unter einer einzigen Bedingung das Mädchen retten«, sagte sie kühl und schaute mich das erste Mal direkt an.
Nun sah ich, was den meisten verborgen blieb. Die zweite Hälfte ihres Gesichts war eisblau und etwa genauso jung wie ich, bevor mich der Göttervater zu sich holte. Furcht und Hoffnung wetteiferten in meiner Brust, als ich ungelenk aufstand und sagte: »Du willst mein Leben? Ich werde alles tun, nur um meinem Mädchen eine Chance zu geben.«
»Versprich nicht vorschnell. Ich will nicht nur dein Leben. Ich möchte, dass du für jetzt und auf ewig bei mir bleibst. Keine Wiedergeburt für dich. Das Leben allein hier ist trist. Ich möchte eine Gesellschafterin, die mir bei meiner Arbeit hilft. Das ist mehr Strafe, als du vielleicht bereit sein solltest zu tragen. Hast du dich vor dem Tod doch bereits einmal versteckt unter diesem Walkürenmantel.«
Ich schüttelte den Kopf und drückte den reglosen Leib meines Kindes an meine Brust. Ein letztes Mal wollte ich sie halten. Dann schaute ich der Herrin von Helheim ins Gesicht und übergab dem Geistermädchen mein Kind, als ich flüsterte: »Danke Frau Holler!«
Sie dagegen nahm den Mantel von meinen Schultern und wickelte das Mädchen darin ein. Zerdrückte eine Beere des Holderbusches über ihrer Stirn und flüsterte: »Liv!«