Der Brief lag schwer in meinen Händen. Wer hatte mir wohl geschrieben? Ich drehte den Umschlag hin und her. Kein Absender. Vielleicht vergessen? War mir mit Sicherheit auch schon passiert. Jedenfalls freute ich mich über die Post. Dieses Jahr hatte seltsam begonnen. Ein noch unbekannter Virus hatte sich von China ausgehend, rasend schnell über die gesamte Erde verbreitet. Ausgehen war verboten, alle Restaurants, viele Geschäfte, sogar Friseure waren geschlossen. In Zeiten der modernen Kommunikationstechnik schrieb man sich WhatsApp oder schickte Sprachnachrichten. In Gedanken machte ich eine Notiz, meinen Großeltern einen Brief zu Ostern zu schreiben. Sie würden sich sicher darüber freuen, so wie ich mich über diesen Brief freute. Es war keine Rechnung, soviel stand fest. Meinen Namen und meine Adresse hatte jemand fein säuberlich in schwarzer Tinte auf der Vorderseite notiert. Es war eine verschnörkelte, altmodische Handschrift, die mir gänzlich unbekannt vorkam. Ein Brief meiner Großeltern? Einer entfernten Tante? Unwahrscheinlich. Wir waren keine große Familie. Die Briefmarke fiel mir ins Auge. Sie wirkte ebenso antik wie die Schrift und das altbackene Papier des Umschlags selbst. Nicht reinweiß und leuchtend, eher fleckig und dunkel wie Pergament. Ich schnupperte daran und ein köstlicher Duft nach Tinte und Papier stieg mir in die Nase. Der Poststempel fiel mir ins Auge, eng und leicht verschmiert, der 20. März. Das Datum des gestrigen Tages.
Sorgsam schloss ich den Briefkasten und die Haustür hinter mir ab und riss den Brief mit den Fingern gleich im Treppenhaus auf. Zwei dicke Bögen aus dem gleichen altmodisch anmutenden Pergamentpapier fielen mir in die Hände, beide eng beschrieben mit derselben verschnörkelten Schrift in enger schwarzer Tinte. Auf den ersten Blick gelang es mir kaum, ein Wort zu entziffern. Ich eilte die Stufen hinauf und schloss die Wohnungstür hinter mir. Die restliche Post, Prospekte und Werbekataloge, warf ich achtlos auf den Küchentisch - uninteressant.
Was stand da? Ich hatte eine Preis gewonnen. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Ich machte doch gar nicht bei Gewinnspielen mit. Das musste ein Irrtum sein und seit wann bekam man da eine Gewinnbenachrichtigung, die per Hand geschrieben war? Ich musste meinen Bruder anrufen, der sich bei solchen Sachen besser auskannte. Ein wenig ungläubig las ich weiter. Der Brief war nicht persönlich, aber auch nicht geschäftlich und er war zweifelsfrei an mich gerichtet. Hoch verehrtes Fräulein Stapf. So war ich mit Sicherheit noch nie angeschrieben worden. Ich hatte also etwas gewonnen. Einfach so. Skeptisch, aber dennoch neugierig, wendete ich mich den eng beschriebenen Seiten erneut zu. Das wurde ja immer besser!
In elf Tagen stand da, würde man mich abholen. Ich sollte bereit sein und mich in meine beste Festtagsgarderobe werfen. Man freue sich schon darauf, mich endlich persönlich kennenzulernen und könne es kaum erwarten. Ein unvergesslicher Abend stand mir bevor. Wie lustig. Ganz eindeutig erlaubte sich da jemand einen Scherz mit mir. Ich faltete den Briefbogen zusammen, schob ihn zurück in den Umschlag und machte mir eine geistige Notiz, am Abend meinen Bruder anzurufen. Ganz bestimmt, steckte er dahinter und wenn nicht, war er am ehesten die Person, die sich einen Reim darauf machen konnte. Ein wenig unheimlich war mir der Brief schon und so schob ich ihn ganz weit unten zwischen den Stapel an ungelesenen Zeitschriften und Werbekatalogen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er mich anglotzen würde, wenn ich ihn offen auf dem Küchentisch liegenließ. Ich schüttelte mich und das seltsame Gefühl verschwand.