Ich musste von allen guten Geistern verlassen sein!
"Was war das?", fragte ich mein Gegenüber.
Der schaute erst mich an und blickte sich dann im Innern der Kutsche um. "Was denn?", fragte er, als seine Augen wieder auf mir zu ruhen kamen.
"Dieses Gefühl... dieser Schwindel... dieses..." Hilflos machte ich eine Geste, die meine Umgebung umfasste. Die Polster waren genauso weich, wie sie aussahen. Der Innenraum wirkte genauso edel wie es das Äußere der Kutsche verheißen hatte. Aber ich hatte nicht einsteigen wollen! Wie ein aufgescheuchtes Kaninchen schreckte ich aus der tiefen Polsterung empor.
"Halten sie sofort die Kutsche an!" Meine Worte übertönten das gleichmäßige Rumpeln.
"Aber Luise. Warum denn? So beruhige dich doch!"
"Das war ein mieser Trick! Sie haben irgendetwas versprüht, sodass mir schwindelig wurde. Sonst hätten sie mich nie hier reingekriegt!" Meine Stimme überschlug sich. Meine Finger legten sich auf den Türgriff. Ich zögerte. Bei voller Fahrt aus einer fahrenden Kutsche zu springen war vielleicht eine filmreife, aber vermutlich keine besonders gute Idee.
Ehe ich mich entscheiden konnte, schloss sich seine Hand um meinen Knöchel. Nicht fest, sondern sanft. "Warte! Ich kann deine Reaktion verstehen. Das alles ist sicherlich viel auf einmal. Aber es wird sich lohnen. Versprochen, Luise." Er redete sanft auf mich ein, aber ich ließ die Worte an mir abprallen und schüttelte seine Hand ab.
"Aber ich wollte nicht!" Ich fischte mein Handy aus der Tasche. "Anhalten oder ich rufe die Polizei", drohte ich.
Er warf einen Blick auf den Gegenstand in meiner Hand und kniff die Augen zusammen. "Wieso willst du die Polizei rufen? Sie werden dich nicht hören." Er schüttelte den Kopf und wirkte ratlos.
Ich drückte auf den Bildschirm und erstarrte. Warum ausgerechnet jetzt? Das konnte doch nicht wahr sein. Mein Handy war tot. Nichts leuchtete auf. Verdammt. In einer schnellen Bewegung zog ich den Vorhang des Fensters zur Seite, entschlossen gegen die Scheibe zu klopfen. Wir waren mitten in der Innenstadt, die Chancen, dass mich jemand bemerkte gut. Vielleicht ließ es sich sogar öffnen. Aber da war kein Griff. Und da waren keine moderne Glasfronten, Werbeplakate, viel zu eng gepflanzte Bäume. Geschäfte, Restaurants, Kinos, die jetzt verlassen und geschlossen da lagen. Da waren Backsteinhäuser, altmodisch anmutende Reklametafeln, davor die Auslagen verschiedenster Geschäfte. Aber kaum ein Fußgänger unterwegs. Verflixte Ausgangssperre. Noch etwas verwunderte mich.
"Wo sind die Autos?" Selbst jetzt waren die Straßen selten leer. Busse fuhren noch und eigentlich hätte es unmöglich sein müssen, hier so sorglos und in gleichbleibendem Tempo mit einer Kutsche entlangzufahren.
Der Schauspieler zog eine dunkle Augenbraue in die Höhe. "Autos?"
"Die Autos! Busse! Die Straßenbahn!" Ich schaute wieder ins Freie. "Wo sind die Schienen?" Mein Innerstes wurde von einem kalten Entsetzen gepackt. Da wo die Linie 1 der Stadtbahn verlief, war jetzt... nichts. Von einer Panik erfasst, pochte ich gegen die Scheibe.
"Luise, so beruhige dich. Es ist alles gut. Alles so, wie es sein sollte." Er beugte sich zu mir herüber, aber ich stieß ihn weg. Wandte mich der Scheibe zu und trommelte dagegen. Hoffte, dass sich die Dame zu mir umdrehen würde. Aber die war in ein Gespräch vertieft. Sie wäre auch nicht meine erste Wahl gewesen. Selbst von hinten wirkte ihr Kleid seltsam. Der graue Stoff wurde in der Mitte von einer Schürze geteilt. Der Rock seltsam ausladend und sie trug einen komischen Hut, mit hoch aufgetürmten Schleifen. Wer zog denn sowas an? Außer die Queen vielleicht beim jährlichen Pferderennen von Ascot. Mir kam eine Idee. "Fahren wir zu einem Pferderennen?", fragte ich wider alle Hoffnung und kicherte.
Mein Begleiter schien froh, dass ich mich wieder beruhigt und von der Scheibe abgelassen hatte. "Tut mir leid, um diese Jahreszeit und wegen der aktuellen Situation gibt es keine. Das können wir vielleicht ein anderes Mal nachholen."
Ich wandte mich wieder dem Fenster zu. "Wo sind wir?"
Draußen sah alles so anders aus. Die Fassaden der Häuser wirkten fremd. In diesem Stadtteil war ich noch nie gewesen. "Wohin fahren wir?"
"Wir sind in der Marktstraße und gleich da. Dort vorne", er zeigte auf ein dreistöckiges Haus mit ausladendem Dachgiebel und kunstvollen Verzierungen um die vielen Fenster. Es wirkte einladend und vor allem befand sich im Erdgeschoss keine Ladenzeile, sondern eine ebenso verschnörkelte Eingangstür aus Holz, zu der ein paar Stufen emporführten. Die Kutsche wurde langsamer und kam direkt vor dem Eingangsportal zum Stehen. "Und jetzt?", fragte ich meinen Begleiter.
Er griff nach der Türklinke. "Und jetzt, Fräulein Luise, habe ich die Ehre, dir deine Familie vorzustellen." Die Kutsche öffnete sich, er sprang hinaus und streckte mir seine Hand entgegen.