Ich öffne den Umschlag mit zitternden Fingern. Sollte meine Eingebung recht behalten? Ich halte tatsächlich die Kündigung in meinen Händen. „Verdammt…“, entfährt es mir. Wie in Trance steige ich die Treppen empor und betrete meine Wohnung. Alice empfängt mich mit einem „Mau?“ „Ja, Alice… Die Kündigung ist da.“, sage ich zu ihr, wie als hätte ich verstanden, was sie meint. Aber das ist doch Quatsch, dass Tiere und Menschen miteinander reden, oder? Ich spreche oft mit Alice, erwarte aber nicht, dass sie versteht, was ich meine. In letzter Zeit bin ich mir aber nicht mehr so sicher.
Eine Träne tropft auf das Dokument, gefolgt von weiteren Tränen. Ich mochte den Job nicht, aber dennoch ist es ein sch… Gefühl, nicht gut genug gewesen zu sein, obwohl man alles gegeben hat. Ich rufe meine nun ehemalige Chefin an und frage sie, warum sie mich loswerden wollen. Meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren. So leise und verzweifelt. Sie sagt mir, dass ich nicht genug auf die Leute zugegangen bin. Das Stichwort ist Zusatzverkauf. Nachdem das Telefonat beendet ist und die Formalitäten geklärt sind, lege ich auf. Die Kündigung landet zerknüllt in einer Ecke des Raumes. Alice spielt normalerweise mit kleinen Papierkugeln, die ich ihr zuwerfe. Doch diesmal schmiegt sie sich an mich und schnurrt. Sie will mich trösten. In diesem Moment liebe ich meine Katze einfach nur. Noch mehr als sonst. Ich kraule sie hinter den Ohren und Alice genießt es.
Unschlüssig sitze ich auf meinem Bett und überlege, was ich tun soll. „Was geschehen soll, geschieht auch…“, ich wiederhole leise Julianas Worte. Sollte es tatsächlich vorherbestimmt sein? Welche Arbeit würde mich als nächstes erwarten? Ich hoffe sehr auf einen schöneren Job. Und plötzlich weiß ich, was ich tun muss. Ich rufe erneut bei meinem Hausarzt an und bitte um einen Termin. Ich habe das Gefühl, dass sich gerade alles verändert. Mein altes Leben bricht zusammen und verändert sich. Etwas Neues entsteht. Ich bekomme einen Termin für den nächsten Morgen, obwohl mein Arzt einen vollen Terminkalender hat. Scheinbar hat jemand abgesagt. Zufall?
Am nächsten Morgen sitze ich bei meinem Arzt und rede mir das erste Mal alles von der Seele. Ich wiederhole nicht nur, dass ich kräftemäßig am Ende bin, sondern gehe ins Detail. Die beendete Beziehung, der stressige Job, die Kündigung und die Existenzängste… Einfach alles was mich belastet sprudelt aus mir heraus. Mein Arzt hört mir aufmerksam zu und nickt hin und wieder. Er diagnostiziert mir eine leichte depressive Phase und schreibt mich vier Wochen krank. V i e r Wochen! Ich bedanke mich mit matter Stimme. In dieser Zeit wird sich hoffentlich klären, wie es mit mir weitergeht.
In den folgenden Tagen lese ich viel, nicht nur über die Hexensache. Auch ein paar alte Bücher und Manga, die ich mir schon lange mal wieder vorgenommen habe zu lesen. Ich fiebere mit jedem Tag mehr Julianas Besuch entgegen und male mir in Gedanken aus, wie sie aussehen könnte. Ich stelle mir eine etwas schrullige, junge Frau mit einer krummen Nase und schwarzen Haaren vor. So wie man sich Hexen eben vorstellt. Nur in jung.
Endlich ist der Tag gekommen. Hektisch räume ich die letzten herumliegenden Sachen auf und putze nochmal die Küche. Möchte Juliana lieber Tee oder Kaffee? Hätte ich sie doch nur gefragt! Aber dann halte ich inne und atme drei Mal tief durch. Ich will mich nicht so verrückt machen. Was sie trinken möchte, kann sie mir schließlich auch noch sagen, wenn sie da ist. Und wie als hat sie meine Gedanken gelesen, klingelt es an der Tür. Sie ist ein wenig zu spät, aber nur ein paar Minuten.
Ich öffne die Tür und tatsächlich hat sie schwarze Haare. Aber nur dieses Detail aus meiner Vorstellung stimmt, der Rest ist ganz anders, als ich gedacht habe. „Wow.“, entfährt es mir und mein Herz beginnt seltsam schnell zu klopfen. Juliana ist um die zwanzig und bildhübsch, mit ihren geflochtenen Zöpfen, den sanft geschwungenen, zartrosa Lippen und den blauen Augen. Keine krumme Nase und auch kein schrulliges Aussehen. Außerdem trägt sie ganz normale Anziehsachen. „Darf ich hereinkommen?“, fragt sie mich und lächelt freundlich.
„Ähm, klar. Tut mir leid.“, sage ich schnell und lasse sie eintreten. Dabei überlege ich, was mit mir los ist. Hat sie mich verzaubert?
„Möchtest du Kaffee oder Tee?“, rufe ich ihr auf dem Weg zur Küche zu. „Geh ruhig ins Wohzimmer… Die zweite Tür rechts.“
„Ich möchte einen Kaffee, Dankeschön.“
Im Augenwinkel sehe ich, wie Alice ihr ins Wohnzimmer folgt. Ich hoffe, dass die beiden sich verstehen. Mit einem Tablett auf dem sich zwei Kaffeetassen, Milch und Zucker befinden, betrete ich nun das Wohnzimmer. Meine Sorge ist unberechtigt, denn Alice lässt sich laut schnurrend über den Rücken streicheln. Ich lächle bei dem Anblick und freue mich, dass ich Juliana scheinbar vertrauen kann. Alice warnt mich, wenn etwas mit einer Person nicht stimmt. Das habe ich hin und wieder erlebt. Sie faucht dann die Personen an und ihr Fell stellt sich auf. Meist gehen diese Leute dann ganz von selber, nach kurzer Zeit.
Wir nippen an unseren Tassen und lächeln. Dann beginnt Juliana mit sanfter Stimme das Gespräch. „Möchtest du alles auf einmal wissen, oder lieber Schritt für Schritt dazulernen?“, fragt sie mich.
„Ähm, lieber Schritt für Schritt. Es war alles ein wenig viel in den letzten Tagen.“ Sie nickt verständnisvoll. „Das denke ich mir. Du siehst nämlich fertig aus.“
„Aber schon viel besser als vor wenigen Tagen noch. Da hätten die Kunden reiß aus genommen, wenn ich so hinter der Ladentheke gestanden hätte.“, witzele ich. Doch Juliana nickt nur und lächelt sanft. Ich bemerke, dass sich schon wieder Tränen in meinen Augen sammeln.
„Erzähl mir davon, wenn du möchtest.“ Und dann brechen die Dämme. Zum zweiten Mal erzähle ich schniefend ausführlich, was alles passiert ist. Danach geht es mir besser.
„Ist es okay für dich, wenn ich ein oder zwei Tage hier bleibe?“, fragt Juliana plötzlich. Ich überlege kurz und nicke dann. „Ich bin sowieso zuhause. Krankgeschrieben.“, schniefe ich und schnappe mir ein Taschentuch aus der Packung. Woher kommt die auf einmal?
„Das ist gut. Da kann ich dir einiges zeigen und beibringen. Ich habe nämlich viel vor.“, sie lächelt vielsagend und schaut zu ihrem Rucksack, der aus allen Nähten zu platzen scheint.
„Du siehst gar nicht aus, wie eine Hexe.“, sage ich und halte erschrocken die Hand vor den Mund. Hoffentlich habe ich sie mit meinem unbedachten Kommentar nicht beleidigt…? Juliana grinst jedoch. „Ich kann auch schlecht am helllichten Tag mit Besen und Umhang rumlaufen, oder?“, sagt sie lachend. Okay, das leuchtet mir ein.
„Soo, Minerva. Ich möchte dir gerne eine kleine Wohltat gönnen. Etwas, das gut zum Entspannen und Kraft tanken ist. Dazu musst du dich nur hinlegen, und die Augen schließen. Und ganz fest an das Folgende denken: Träume ich oder bin ich wach? Das sagst du dir immer wieder. Aber nur in deinem Kopf. Okay?“
„Alles klar…“, murmele ich. Soll ich einschlafen?
Ich mache, was sie mir gesagt hat. Tatsächlich bin ich von der Heulerei so geschafft, dass ich wirklich müde bin. Ich wiederhole den Satz immer wieder und merke, wie ich langsam immer schläfriger werde.
Doch dann geschieht etwas Unerwartetes. Mein Körper beginnt zu kribbeln, es ist ein merkwürdiges Gefühl. Wie als würde ein Körperteil „einschlafen“. Nur dass es mein ganzer Körper ist. Doch ich fühle mich sicher und geborgen, lasse es zu.
„Augen auf.“, sagt Juliana neben mir. Sie lächelt freundlich. Und steht neben ihrem liegenden Körper.
…!
„Nicht erschrecken.“, sagt sie schnell. „Wir schlafen nur. Dein Bewusstsein ist jetzt in deinem Traumkörper.“
„Okay…?“
„Komm mit raus.“, sie lacht und läuft dann beschwingt zur Tür. Alice und ich folgen ihr. „Träumt Alice auch?“, frage ich neugierig und noch etwas ungläubig.
„Ja, für Tiere ist es noch einfacher als für Menschen. Ich staune, dass es bei dir so schnell geklappt hat. Du bist gut!“, lobt sie mich. Mein Herz füllt sich mit Wärme.
Wir treten aus der Tür heraus, doch entgegen meiner Erwartungen stehen wir nicht im Treppenhaus, sondern auf einem Feldweg. Links und rechts des Weges stehen hohe Bäume, die sich sanft im Sommerwind wiegen. Es fühlt sich wunderbar und so leicht an, hier zu sein. Juliana gibt mir ein Zeichen, dass ich ihr folgen soll. Ich schaue mir die schöne Gegend genau an, versuche mir jedes Detail einzuprägen. Die Vögel zwitschern ein Lied in den Baumkronen.
Wir gehen eine Weile schweigsam einher, bis wir auf einer Wiese stehen. „Hier bin ich sehr gern. Es hilft mir, den Alltagsstress zu vergessen.“, sagt Juliana leise. Sie macht ein paar Handbewegungen und flüstert Worte, die ich nicht verstehe.
Die Wiese beginnt zu erblühen.
Überall recken Narzissen, Hyazinthen und Tulpen ihre zarten Köpfe aus dem Gras hervor und öffnen sich schließlich. Mit einem Mal umgibt uns ein betörender Duft. „Wie machst du das?“, frage ich atemlos.
„Weiße Magie. Das lernst du auch noch.“, sagt sie augenzwinkernd. Wir setzen uns ins Gras und ich genieße die Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Alice jagt einem Schmetterling hinterher. Es sieht aber nicht so aus, als würde sie ihn ernsthaft fangen wollen. Es ist friedlich und wundervoll hier.
„Und, geht es dir etwas besser?“, fragt Juliana mich.
„Hatte ich je Probleme?“, frage ich entspannt. Es geht mir so gut, dass ich tatsächlich überlege, was der Grund ist, aus dem wir hier sind.
„Es ist gut.“, meint Juliana zufrieden.
Wir schweigen eine ganze Weile, doch es ist eine angenehme Stille. Jede von uns genießt die Atmosphäre. „Möchtest du zurück?“, fragt Juliana irgendwann. Der Himmel leuchtet nun orangerot und hellblau. Die Sonne neigt sich dem Horizont entgegen, wie ich durch halbgeöffnete Augen feststelle.
„Nein. Hier ist es schön.“
„Doch, wir sollten jetzt zurück. Sonst kannst du heute nach nicht schlafen.“, meint Juliana.
„Wach auf.“
Ich öffne die Augen und finde mich auf meinem Sofa wieder. Mein Körper ist unangenehm schwer, nicht mehr so leicht wie in diesem… Traum?
„Was war das?“, frage ich verblüfft.
„Das war ein luizider Traum. Du hast das echt gut gemacht. Ich staune.“
„Was ist das?“ Diese Bezeichnung habe ich schon einmal gelesen, aber nicht weiter nachgeforscht, was es damit auf sich hat.
„Wir waren in der Traumwelt. Allerdings ist es uns möglich, den Traum bewusst zu steuern oder herbeizurufen. Unmagische Leute können das auch, nur ist es für sie viel schwerer.“, klärt die Schwarzhaarige mich auf.
„Wie cool… Es war echt schön da.“
„Es ist mein Lieblingsplatz.“, meint Juliana lächelnd.
Ich schaue auf die Uhr und erschrecke. „Wir waren wirklich drei Stunden weg?“
„Ja, die Zeit vergeht schnell, wenn man schläft.“ Sie lacht und ich kann nicht anders, als einzustimmen.
Den Abend verbringen wir ganz, wie sie sagt, unmagisch. Wir bestellen Essen beim Lieferdienst und schauen fern nebenbei. Doch mein Blick wandert immer wieder zu Juliana herüber. Von dem Fernsehprogramm bekomme ich nicht viel mit.