Er saß am Kopfende des Tisches und war gerade dabei sein Frühstücksei zu köpfen, als der Butler mit einem Silbertablett hereinkam.
"Sir", sprach er mit seiner leicht hochnäsig klingenden Stimme.
"Es kam ein Brief für Sie an."
Ohne den Blick zu heben, winkte er den Butler zu sich. Sorgfältig tupfte er sich den Mund mit einer Stoffserviette ab und griff dann nach dem Brief.
"Vielen Dank, James."
Ein schelmisches Grinsen glitt über sein Gesicht, als er daran dachte, wie viel Zeit es ihn gekostet hatte einen vom Charakter her kühlen Butler mit dem Namen James zu finden. Aber die Suche hatte sich gelohnt.
Er nahm den Brieföffner, der neben dem Brief auf dem Tablett gelegen hatte - James vergaß eben nie seine Sachen perfekt zu machen - und riss den Umschlag sauber auf. Darin fand er ein altes Stück Pergament. Stirnrunzelnd drehte er den Briefumschlag um und sah ihn sich genauer an, doch außer einer Briefmarke mit dem Poststempel vom gestrigen Tag und seiner Anschrift in einer verschnörkelten, altmodischen Schrift konnte er keine Informationen über den Absender finden. Nachdenklich überlegte er, ob dies eine weitere Schnapsidee der Clanoberhäupter sein könnte. Die alten Knacker hatten ein Händchen für uralt Sachen.
Widerwillig öffnete er das Pergament und begann zu lesen:
Sehr geehrter Herr von de Ghul,
wir gratulieren Ihnen zum Gewinn unseres Preisausschreibens. Es erwartet Sie ein denkwürdiger Abend mit einem prächtigen, speziell für sie zubereitetem Überraschungsessen.
Wie versprochen, sind Gastgeber und der Ort des Geschehens noch geheim und werden erst im Laufe des Abends offenbart.
Ein Chauffeur wird Sie am 01.04.2020 um 17.00 Uhr standesgemäß abholen.
Wir bitten um angemessene Kleidung und Pünktlichkeit.
Dieses Ereignis wird für Sie unvergesslich werden.
Es war eindeutig nicht das, was er erwartet hatte. Aber immer noch besser als ein weiteres, todlangweiliges Clantreffen. Dennoch war er irritiert.
"James. Habe ich in letzter Zeit an irgendeinem Preisausschreiben teilgenommen?"
"Nicht dass ich wüsste, Sir."
"Tja, da wären wir schon mal zu zweit", murmelte er in Gedanken vertieft.
Welch ein ominöses Schreiben er da doch bekommen hatte. Menschen ließen sich immer so lustige Sachen einfallen. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem schiefen Grinsen.
"James, häng bitte meinen Anzug zum Lüften raus. Ich werde zu einem Abendessen erwartet."
Wenig überrascht fragte der Butler: "Welcher darf es denn sein, Sir?" Er würde ihn nicht auf die mögliche Gefahr hinweisen. Nach all den Dienstjahren hatte er gelernt, dass sein Arbeitgeber, einmal begeistert von einer Idee, diese nicht mehr losließ. Und dass er jemand war, mit dem man besser nicht seine Scherze trieb. Das Ergebnis könnte sonst überaus unangenehm ausfallen.
"Hmm, ich denke, mein schwarzer Anzug mit dem dunkelroten Hemd wäre eine gute Wahl. Aber ohne Fliege oder Krawatte. Wir wollen da ja nicht zu High-Class auftauchen."
"Wie Sie wünschen, Sir. Ich werde es sofort an die Bediensteten weitergeben."
Geräuschlos verließ der Butler den Raum und schloss die Tür mit einem leisen Klicken. Zufrieden lehnte sich sein Chef im Stuhl zurück und konnte das schelmische Lächeln nicht verbergen. Er wünschte, der Tag des Überraschungsessens würde schneller kommen.
"Wie sehe ich aus?"
Mit ausgebreiteten Armen lief er auf die ältere Frau zu, die gerade eine der frisch gewaschenen Gardinen des Anwesens bügelte.
"Sehr gut, Sir", antwortete sie lächelnd.
"Vielen Dank, die Dame!" Er zeigte eine tiefe Verbeugung und lief mit einem verschmitzten Grinsen an der nun leicht kichernden Frau vorbei nach draußen. Mit einer Hand in der Hosentasche, schlenderte er zur wartenden Limousine und nickte seinem Butler zum Abschied noch kurz zu. Dann saß er auch schon in dem Gefährt und ließ sich zu seinem Zielort kutschieren. Gut gelaunt beobachtete er die vorbei ziehende Landschaft und, nach einigen Minuten Fahrt, war auch schon das Ziel in Sicht. Ein altes Schloss, dessen Standort ein wenig abseits war von seinem Dorf. Soweit er wusste, war es schon seit Ewigkeiten nicht mehr bewohnt und seinem Verfall überlassen worden.
"Das Ganze wird ja immer interessanter", murmelte er leise.
Abrupt hielt das Auto vor dem Eingang des Gebäudes an und mit einem mürrischen Gebrumme, scheuchte der Fahrer ihn nach draußen. Kaum war die Tür geschlossen, trat der Chauffeur aufs Gaspedal und raste davon. Amüsiert sah er zu, wie das Auto immer kleiner wurde und lief dann durch den Eingang, fröhlich ein Lied summend, dass ihm eben eingefallen war: " One way ticket, one way ticket, one way ticket, one way ticket, one way ticket, one way ticket to the bluuuuues."
Drinnen wurde er direkt von einem Mann in einem recht schicken Anzug empfangen. Er wirkte sehr kompetent, doch bei näherem Hinsehen konnte man einige abgenutzte Stellen erkennen und maßgeschneidert war das Kleidungsstück ebenfalls ganz bestimmt nicht.
"Wie schön, dass Sie es sicher zu uns geschafft haben. Bitte folgen Sie mir, das Essen erwartet Sie schon."
Der Mann lächelte ihm breit zu und lief dann die Treppe nach oben. Mit den Händen in den Hosentaschen seufzte er mitleidig und folgte seinem Führer. Das ihm eben gezeigte Lächeln sah so unheimlich aus, jeder Mensch hätte es sich wahrscheinlich anders überlegt und wäre wieder gegangen. Irgendwie hatte er Mitleid mit diesen Volltrotteln.
Oben angekommen betraten sie einen recht großen Raum mit Kamin, in dem ein nettes kleines Feuer prasselte und ein riesiger Tisch stand. Ähnlich wie auch bei ihm Zuhause hatte man das Kopfende bereits mit Besteck, Gläsern und Tellern eingedeckt.
"Setzen Sie sich doch. Die Gerichte werden gleich serviert."
Wieder dieses hinterhältige Lächeln, aber er störte sich nicht daran und setzte sich auf den alten Holzstuhl. Obwohl die Polster mit der Zeit schon etwas abgenutzt waren, konnte man sich über den Sitzkomfort nicht beschweren. Erst recht, wenn die Armlehnen genau die perfekte Position für ihn hatten, um seinen Kopf mit dem Arm abstützen zu können, ohne sich das Genick dabei brechen zu müssen. Eine Zeit lang saß er so da, mit den Fingern der freien Hand eine Melodie klopfend und überlegend, ob es wohl jemand merken würde, wenn er den Stuhl einfach mitgehen ließ. Als sich die Tür zu einem Nachbarraum öffnete und der Mann von zuvor mit noch einer weiteren Person Tabletts zum Tisch trug. Immer mehr wurde hinaus getragen und irgendwann waren sechs Servierglocken um ihn herum aufgestellt. Neugierig zog er eine Augenbraue hoch und fragte sich, was ihn wohl zu Essen erwarten würde. Die beiden Männer tauschten einen Blick aus und begannen die Gloschen nach und nach zu entfernen. Als endlich auch die Letzte weg war, bot sich dem Gast ein unerwarteter Anblick.
"Tja, das ist wahrlich ein Überraschungsessen."
Erneut sah er sich die Speisen an. Spätestens jetzt dürfte wohl auch dem Letzten klar geworden sein, dass diese ganze Veranstaltung nur ein Schwindel war.
"Ich hatte auf jeden Fall nicht mit einem komplett vegetarischen Menü gerechnet. Und dann hat man auch noch, tja wie nenne ich das, sehr erfolgreich versucht den Naturzustand zu belassen?"
Wenig begeistert betrachtete er die verschiedenen Gemüsesorten, welche ungekocht, ungeschält und teilweise nicht einmal gewaschen vor ihm lagen. Auch sonst war er kein großer Pflanzenesser, er liebte Fleisch, in allen Varianten und am liebsten frisch und blutig, aber dieses Angebot widerte ihn gerade zu an. Während er noch das Möchtegern-Essen vor sich musterte, näherten sich die Männer ihm und zogen zwei sehr scharf aussehende Messer. Wenige Sekunden später spürte er die kalten Metalle an seinem Hals.
"Hehe, das ging ja leichter als erwartet. Hätte nie gedacht, dass dieser Geldsack so dumm sein würde", spottete der Gauner im schlechten Anzug.
"Hier", der Zweite warf ihm ein Papier vor die Nase. "Unterschreiben."
"Und was ist das bitte?"
Der Erste antwortete: "Ihr Testament! Darin werden Sie uns ihr komplettes Vermögen vermachen!"
Breit grinste er ihn an und der bedrohte Herr konnte sich eine hochgezogene Augenbraue nicht verkneifen.
"Ich fühle mich aber noch recht gut und hatte auch nicht vor in nächster Zeit zu sterben."
"Bist du wirklich so dumm oder tust du nur so?", fragte ihn der zweite Mann. Er bückte sich etwas nach unten und zischte ihm zu: "Noch vor dem Ende dieses Abends wirst du Tod sein, das garantiere ich dir!"
Ruhig sah der Angesprochene ihn an.
"Ist dem so? Ich bin neugierig, wie ihr das machen wollte."
Er griff nach den Handgelenken der beiden Angreifer und drückte, ohne große Mühen, die Messerklingen von sich weg. Überrascht versuchten die beiden gegen seinen Griff anzukämpfen, aber es war umsonst. Sie konnten nichts gegen ihn ausrichten.
"Warum müsst ihr auch so was dummes tun? Hättet ihr mir zumindest etwas Gutes zu Essen vorbereitet, wäre ich ein wenig freundlicher gestimmt, aber jetzt bin ich nicht nur enttäuscht, sondern fühle mich auch noch ziemlich hintergangen. Und hungrig. Verdammt hungrig."
Er sah die beiden Männer an, welche immer noch verzweifelt versuchten frei zu kommen und verzog die Lippen zu einem so breiten Grinsen, dass man seine Zähne sehen konnte. Den Männern lief ein kalter Schauer über den Rücken.
"Hmm, zumindest Letzterem kann man ja Abhilfe schaffen…"
Genüsslich leckte er den letzten Oberschenkelknochen ab und warf ihn achtlos hinter sich.
"Aaah, das war gut!"
Er legte die Füße auf die Tischplatte und rieb sich den vollen Bauch. Was für ein Glück, dass seine Rasse so einen großen Magen hatte. Es wäre schade gewesen, etwas wegschmeißen zu müssen. Zufrieden blickte er in das Kaminfeuer und grinste.
"Mit einem hatten sie zumindest recht. Es war wirklich ein unvergessliches Ereignis mit einem sehr überraschenden Essen."