Für Leutnant zur See Jörgensen ist es entwürdigend, wie ein Stück Fleisch durch die Gänge der Piratenfestung geschleift zu werden. Widerstand ist zwecklos. Jene beiden Schergen, die ihn links und rechts fest umklammern, verstehen ihr Handwerk. Sie kennen jeden Kniff und begegnen Ungehorsam mit roher Gewalt. So fügt er sich in sein Schicksal und lässt die Dinge geschehen.
Die schweren Schritte seiner Wächter werden von eng stehenden Wänden zurück geworfen. Details kann Jörgensen durch den Stoff des Kartoffelsackes, der ihm über das Haupt gestülpt wurde, nicht erkennen. Es ist ihm gleich.
Eine Türe wird aufgesperrt. Der Gefangene erhält einen Schubs und stolpert mehrere Schritte nach vorn. Hinter ihm fällt die Tür ins Schloss und wird verriegelt.
Stille. Mit zitternder Hand entledigt sich der Offizier des Kartoffelsacks. Hektisch, als fürchte er einen Angriff aus dem Hinterhalt, blickt er sich um. Eine Zelle. Düster, eng und feucht. Tageslicht fällt durch eine vergitterte Öffnung in unerreichbarer Höhe. Altes Stroh auf nacktem Fels, ein schmutziger Eimer neben der Tür. Der Teil einer Längswand besteht aus rostigen Gitterstäben und ermöglicht den Blick in die Nachbarzelle. Sie scheint besetzt. Zumindest bewegt sich etwas im Halbdunkel. Jörgensen erkennt nichts Genaues, jedoch trifft ihn eine Wolke üblen Gestanks. Welch Unglücklicher mag hier vor sich hin vegetieren?
Obgleich er versucht, Autorität in die Stimme zu legen, vermag er nicht mehr als ein piepsiges "Wer da?" über die Lippen zu bringen.
Jene unförmige Masse aus Lumpen, Dreck und verfilztem Haar formt sich unter Ächzen und Stöhnen zu einem Mann. Mit unsicheren Bewegungen schlurft er zum Gitter und beäugt Jörgensen von oben bis unten.
"Ein Trugbild? Kein Trugbild! Offizier, wie mir scheint?"
Offiziere der Marine repräsentieren die Republik. Ihre Uniformen tragen sie aus Überzeugung und sind aufgrund immer währender Entscheidungsfreude und Führungsstärke leuchtendes Vorbild für die Untergebenen. Und gerade strahlt Jörgensen nichts von alldem aus. Mit dem letzten Bisschen Würde streicht er die Überreste seiner zerrissenen und mit Blut und Dreck besudelten Uniform glatt und stellt sich als das vor, was er ist: Leutnant zur See Jörgensen. Dritter Offizier auf dem Schiff der Linie Alltid.
"Alltid? Alltid. Schönes Schiff! Wunderschönes Schiff. Ein Deck. 30 Geschütze. Lang-Zehner allesamt. Habe sie einige Male gesehen. Einige Male. Von der Tystnad, wisst Ihr? Schönes Schiff! Zwei Decks. 30 Lang-Zehner und 16 von den Achtzehnern. Wunderschönes Schiff. Habe auf der Tystnad gedient. Erster Kanonier. Erster Kanonier Luntgaard von dem Schiff der Linie Tystnad."
Schlurfend nähert sich der Kanonier, dessen Alter Jörgensen unmöglich zu schätzen vermag, dem Gitter und umfasst es mit beiden Händen. Sein Gestank ist so atemberaubend, dass sich ein Würgen nicht unterdrücken lässt.
"Grässlich, grässlich. Grässliches Luftschiff! Groß und schwarz. Griff uns von achtern an. Von achtern! Aus der Dunkelheit heraus. Mit Macht und Wucht. Schiffe der Linie tragen achtern keine Waffen. Ich weiß es. Ihr wisst es, Herr Leutnant. Sie wissen es. Fürchterliches Geschützfeuer. So fürchterlich! Das Ruder ging dahin. Unser Heck brach auf. Ihre Salven. Sie gingen längs durch die Batteriedecks. Zerstörung! Mit Armbrüsten und Musketen schossen sie das Oberdeck frei. Dann kamen sie über uns. Kämpften uns nieder. Nahmen alles von Wert und sprengten, was von der Tystnad übrig blieb."
Der Leutnant versteht nur zu gut. Seinem Schiff, der Alltid, erging es ähnlich. Dennoch lächelt er, als er Luntgaard von seinen Erlebnissen berichtet.
"Euch wurde übel mitgespielt, Herr Leutnant! Wirklich übel. Zu viele Schläge auf den Kopf sind schlecht für das Gemüt. So schlecht!"
Doch weit gefehlt! Mit verschwörerischer Stimme erläutert Jörgensen ihre eigentliche Mission. Den Kampf mit dem schwarzen Luftschiff sollten sie suchen. Und alles, wirklich alles dokumentieren, ob nun von Belang oder nicht. Genau das taten sie. Kurz vor der Kaperung der Alltid befestigte er die Pergamente an den Fuß eines Falken und entließ ihn zurück zum Stützpunkt. Ganz gewiss wird die Admiralität mit diesem Wissen eine Strategie ausarbeiten und dem Treiben der Uveir für immer ein Ende bereiten. Immerhin beobachtete er die Ankunft des 3. Luftschiffgeschwaders kurz bevor sie den Flottenstützpunkt verließen.
Luntgaard staunt mit offenem Mund.
"Potzblitz. Potzblitz!"
Seine kräftige Stimme hallt von den Wänden wider. Sogleich rumort es draußen auf dem Gang. Schritte. Geklapper von Schlüsseln.
"Sie kommen. So muss es sein. Herr Leutnant, hört meinen Rat! Sagt ihnen alles, was sie wissen wollen. Alles. Alles! Wirklich alles. Doch verschweigt die Ankunft der Marine-Luftschiffe! In Sicherheit müssen sie sich wiegen. In Sicherheit. Versteht Ihr?"
Noch bevor Jörgensen in der Lage ist, etwas zu erwidern, betreten die beiden Wärter den Kerker.
"Nein, nein. Nein! Nicht richtig. Er ist es, den ihr wollt. Er! Ihr wollt den Leutnant von der Alltid. Der Alltid! Ihr holt den Falschen!"
Obgleich er sich mit Händen und Füßen wehrt, nützt es Luntgaard kein bisschen. Die beiden Schergen nehmen ihn zwischen sich und schleifen ihn wie einen Sack Kartoffeln aus der Zelle. Jörgensen indes bleibt allein zurück. Verwirrt und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Die Odyssee durch die verwinkelten Gänge des Verlieses endet, als Luntgaard seinen Widerstand einstellt. Mit beiden Füßen fest auf dem Boden richtet er sich zu voller Größe auf. Sofort gehen seine beiden Wärter auf Distanz. Ihre Haltung wird beinahe demütig. Einer der beiden kramt eine elegant geschwungene Lesepfeife hervor.
"Das, verehrter Norssken, ist eine famose Idee!"
Würziger Tabakduft vertreibt den fürchterlichen Gestank. Nachdenklich zupft sich der Mann, der sich Luntgaard nennt, falsches Haar vom Kopf und aus dem Gesicht.
"Unsere Nadelstiche zeigen Wirkung, Norssken. Nun kennen sie unsere Vorgehensweise und werden alles tun, um uns alsbald in den Sack zu stecken. Für uns gilt, auf die richtige Art und Weise darauf zu reagieren. Beruft den Kriegsrat ein! Doch gebt mir vorher noch etwas Zeit, um meine Würde wieder herzustellen."
"Ja, Kapitän! Was geschieht mit dem Gefangenen?"
"Leutnant zur See Jörgensen? Guter Mann. Loyal, wenngleich noch jung und glutgläubig. Wir sollten ihm seine Ehre lassen. Lasst ihn noch ein Weilchen schmoren. Verhört ihn dann. Nehmt ihn euch zur Brust, fügt ihm jedoch keine bleibende körperliche und geistige Schäden zu, wenn ich bitten darf! Zeigt kein übermäßiges Interesse an seinen Worten. Stellt fest, welche Dinge sie über uns heraus gefunden haben. Klar soweit?"
"Sehr wohl, Kapitän Skov!"
Die beiden Wärter treten ab. Kapitän Ulryk Skov bleibt sinnend zurück, bis er sich schließlich selbst einen Ruck gibt und genüsslich Pfeife rauchend die tiefen Keller verlässt.