Prompt Ablenkung
Jörn knurrte leise, als es an der Tür klopfte. Manchmal ließ sich sein inneres Tier einfach nicht unterdrücken.
Wer störte ihn um diese Uhrzeit?
Er selbst war seit einigen Jahren Inhaber und Chef einer Securityfirma. Konkret bedeutete das, dass er geeignete Männer und Frauen sowohl ausbildete wie auch vermittelte. Dank seinen Instinkten fiel es ihm leicht einzuschätzen, ob eine Person, die vor ihm stand, in ihr Team passte oder nicht. Zwar konnte auch ein Telefonat einige Hinweise darüber geben - letztlich war aber das persönliche Gespräch ausschlaggebend.
Dabei galt es natürlich, die Besonderheiten seiner Mitarbeiter zu berücksichtigen. Werwölfe waren perfekt für nächtliches Arbeiten, sofern sie nicht mit dem Vollmond zusammenfiel. Daher benötigte er auch 'wolfsfreies' Personal. Hier galt es wiederum, dies in den Schichtplänen entsprechend zu berücksichtigen. Gut, dass Eva, seine Sekretärin und Herz seiner Organisation, den Mondkalender immer im Auge behielt und es noch nie zu Problemen diesbezüglich gekommen war. Es galt hier, den guten Ruf seines Unternehmens und das Geheimnis der Werwölfe zu wahren.
Es war bereits spät und nach Feierabend. Kein Arbeitnehmer mit Sondergenehmigung dürfte sich noch auf dem Firmengelände aufhalten. Demnach könnte es sich nur um eine Person mit 'VIP'- Status handeln, die dort draußen vor der Tür stand und in diesem Moment erneut gegen das Holz pochte. Nun bereits deutlich ungeduldiger als zuvor.
Verdammt noch mal!
„Herein!", rief Jörn ungehalten und zögerte nicht, seine Stimme mit dem typischen Alpha-Timbre zu verstärken. Vielleicht nicht die feine Art, den Gesprächspartner von vornherein einzuschüchtern, aber die Arbeit, die er hier am Computer fertigzustellen musste, war hochkompliziert und die Störung riss ihn mitten aus der Konzentration.
Schwungvoll wurde die Türe aufgestoßen.
„Guten Abend, Jörn. Glaubst du tatsächlich, mich so beeindrucken zu können? Oder suchst du Streit?"
„Tobias! Ich wusste nicht, dass du es bist!" Sein Ausbilder war einer der wenigen Alphas in seinem Angestellten- und Bekanntenkreis und damit natürlich gegen jegliche Beeinflussung durch dominantes Gehabe immun.
„Ich komme wohl ungelegen, wenn du so den Alpha raushängst, oder?", fragte sein Besucher neugierig.
„Ja!", war die knappe Antwort. "Aber da nun mal da bist - was gibt es?"
„Ich würde dich nicht stören, wenn es nicht wichtig wäre. Wir haben einen neuen Fall von unkontrollierter Werwolf-Verbreitung!"
„Was sagst du da?!" Jörns Miene würde angespannt. Die Arbeit war vergessen. "Wieder ein amoklaufender Werwolf?"
„Ja. Diesmal nicht ganz so weit weg. Der Neuwerwolf ist in Freiburg aufgetaucht."
„Dann wütet ein Wahnsinniger also diesmal bei uns im Schwarzwald", seufzte der Firmenchef. „Was ist passiert?"
„Ein dreißigjähriger Verkäufer", erklärte Tobias. "Sein werwolftypisches Verhalten wurde als beginnender Wahnsinn interpretiert."
Jörn nickte. Menschen, die nicht als Werwölfe geboren wurden, sondern durch einen Biss dazu gemacht wurden, hatten ohne Unterstützung in der Regel Probleme mit ihrer Wesensänderung und fielen durch ihr seltsames Verhalten auf.
„Wo ist er jetzt?", fragte er beunruhigt.
„Keine Sorge, alles geregelt.“ Tobias konnte ein selbstgerechtes Grinsen nicht unterdrücken. „Es gibt jemanden, der mir einen Gefallen schuldig ist. Er wird ihn auf die richtige Spur bringen.“
„Aber er hat doch sicher Aufsehen erregt?“ Jörn war noch nicht überzeugt. „Die örtliche Presse, was ist damit?“
Das Grinsen seines Besuchers wurde noch breiter und hatte mittlerweile etwas Wölfisches an sich. „Du hat vergessen, dass ich entsprechende Connections habe. Davon abgesehen, ist der örtliche Polizeipräsident …“
„Auch einer von uns, ich weiß“, unterbrach der Firmenchef ungeduldig. So sehr er seinen Ausbilder mochte, war es doch wichtig, seinen Übermut zu bremsen und ihn in die Schranken zu weisen. Schließlich war er immer noch der Boss, Alpha hin oder her. „Dann kann ich die Sache also als erledigt betrachten?“
„Das kannst du!“
„Gut!“ Jörn überlegte einen Moment. Wie sollten sie weiter vorgehen?
Diese besorgniserregenden Ereignisse lenkten ihn zu sehr von seinen eigenen Aufgaben hier ab. Andererseits waren sie zu wichtig, um ihnen nicht intensiv nachzugehen. Er konnte und durfte sie nicht ignorieren.
Tobias schien dazu der richtige Mann zu sein.
„Hör zu!“ Jörn blickte seinem Gesprächspartner fest in die Augen. „Wir müssen der Sache auf den Grund gehen. Forsche nach, befrage Zeugen, nutze deine Kontakte. Unauffällig, natürlich. Wir müssen diesem wahnsinnigen Werwolf auf die Spur kommen, bevor er neues Unheil anrichtet.“
Der Ausbilder hob überrascht die Augenbrauen. „Du fragst mich? Den Mann, der neben dir als einziger in deiner Firma rund um die Uhr zu tun hat?“
„Emil wird deinen Job übernehmen. Bis wir den Verrückten gefunden haben.“
Tobias zögerte kurz, dann nickte er. „Er hat natürlich nicht meine Klasse, aber für eine gewisse Zeit wird es gehen. Einverstanden, ich finde dir DEINEN Werwolf.“
„Dann sind wir uns einig.“
Weitere Worte waren nicht notwendig. Jörn starrte wieder auf seinen Bildschirm – obwohl er wusste, dass er sich auf diese Arbeit nicht mehr würde konzentrieren können – und zeigte seinem Besucher dadurch, dass er ihr Gespräch als beendet betrachtete.
Tobias wartete noch einen Moment, ehe er sich wieder in Richtung Türe begab. Schließlich kannte er seinen Chef und dessen Eigenheiten zu genüge.
Er hatte gerade die Klinke hinuntergedrückt, als Jörns Stimme an sein Ohr drang: „Solltest du versagen und es unserem Wolf gelingt, ein weiteres Opfer zu beißen – dann wirst du für dessen Ausbildung sorgen, mein Freund.“