Während sie die Worte des Briefes liest, wird ihre Stimme immer leiser. Bis sie ganz verstummt.
Doch noch davor verlässt Hans-Georg als erster das Dampfbad.
Als Antje sich schließlich wegdreht, den Blick noch immer auf das Papier gesenkt, zupft Marianne Alexander am Ärmel und verpasst Esther einen Knuff mit dem Ellbogen. Widerstrebend lassen sich die zwei von ihrer älteren Schwester aus dem dämpfigen Raum dirigieren. Petra dreht den Schlüssel des Geheimtresors zwischen den Fingern und folgt ihnen schweigend. Doch als sie noch einmal einen Blick über die Schulter wirf, sieht sie Antje auf einer der Steinbänke zusammensinken. Ihre Wangen schimmern feucht. Oder ist das Dampf?
Dann betritt sie hinter ihren Geschwistern den kleinen Umkleideraum. Alexander protestiert gerade, während er mit dem Knoten seines Frotteegürtels kämpft: „Ich wollte doch nur wissen, was sonst noch drin stand.“
Petra schaut durch den Raum, auf der Suche nach Hans-Georg und zieht die Stirn zusammen, als sie ihn nicht entdeckt.
Esther verdreht die Augen und wirft mit einem von Mariannes Schuhen nach Alex.
„Hey, das ist meiner!“, beschwert sich die Älteste und nimmt ihn von Alex entgegen, der ihn grinsend aufgefangen hat. Dann erklärt sie in seine Richtung: „Hast du nicht gemerkt, dass das was Persönliches war?“
„Persönlich? Aber wir...“
Alexanders Stimme verstummt mit dem Zuschlagen der Tür, als Petra hindurch schlüpft und die Treppe ins Erdgeschoss hinaufspringt.
Noch während sie oben ankommt und die Kellertür aufstößt, ruft sie: „Hans-Georg!?“ Hastig schaut sie nach links und rechts und entdeckt schließlich seinen breiten Rücken am Empfang. Er zögert in dieser Sekunde, doch dann setzt er sich in Bewegung. Weg von ihr, Richtung Ausgang.
„Stehenbleiben!“, befiehlt Petra in einem Tonfall, den sie früher für eine ungezogene Ostara verwendet hat.
Es wirkt. Er verharrt. Dreht sich um. Ganz langsam. Die Lippen hat er zusammengepresst, seine Augen weichen ihr aus. „Was ist?“
Sein Blick fällt auf ihre bloßen Füße und den Bademantel, den sie noch immer trägt, doch er spart sich einen Kommentar und verschränkt nur die Arme. Petra zieht den weißen Frotteestoff enger um sich und holt keuchend Luft. Dann reckt sie ihr Kinn: „Das frage ich dich: Was ist los mit dir? Wo willst du hin?“
Als Antwort starrt er an ihr vorbei und erklärt ins Leere: „Einfach raus. Wir sind hier doch fertig.“ Seine Worte fallen zu Boden wie Steine. Schwer und bedeutungslos. Doch dann verfinstern sich seine Augen und er sieht wieder zu Petra: „Unser Job ist erledigt. Antje hat jetzt alles, was sie wollte.“ Den Reichtum. Das, worum es ihr immer ging.
Er spricht seine letzten Gedanken nicht aus, doch sie stecken in seiner Kehle fest, wie ein Apfelstück, das ihn langsam erstickt. Er schluckt. Und der enttäuschte, frustrierte Teil von ihm, wünscht sich, dass der Diamant nicht ihr zugesprochen wird. Sofort steigt Hitze in seine Wangen.
Petra schnappt nach Luft. Allerdings diesmal nicht, wegen der Rennerei, sondern, weil ihr keine Erwiderung einfällt. Weil ihr Bruder so kalt durch sie hindurch starrt, dass es sie fröstelt. Dann wendet er sich ab.
„Wie meinst du das?“, stößt sie hervor, um zu verhindern, dass er sich aus dem Staub macht, bevor sie ihn überreden kann. Aber das scheint im Moment unmöglich.
Mit geballten Fäusten fährt Hans-Georg herum. Er presst seine Finger zusammen, um zu verhindern, dass sie verräterisch zittern.
„Ich meine, dass ihr Recht hattet. Von Anfang an. Ich hätte ihr nicht trauen dürfen. Ich hab mich täuschen lassen, von...“ Er verstummt abrupt.
Petra ist wie versteinert. Dieses Zugeständnis hat sie nicht erwartet. Sie runzelt die Stirn und versucht zu verstehen: Es ist doch alles in Ordnung gewesen, oder? Antje hat ihnen die Vorgänge erklärt und die Polizei würde alles Weitere klären. Aber offenbar ist da noch etwas... etwas, nur zwischen Antje und Hans-Georg.
Um nicht noch einmal die gleiche Frage zu stellen, wie zuvor, beginnt sie anders: „Aber was...“
„Lass es einfach Petra, okay? Ich weiß, du meinst es gut...“, unterbricht sie ihr Bruder.
Mit einem Mal ist die Anspannung verpufft. Seine Schultern sacken herab wie seine Mundwinkel.
Eine Gänsehaut kriecht über Petras Nacken. Ihr sonst so energischer Bruder wirkt aufgewühlt und müde zugleich, als er weiterspricht: „Ihr habt nicht gehört, was ich gehört habe. Ihr wart nicht dabei, als sie mich überreden wollte, euch einfach zu vergessen und mit ihr zusammen nach dem Diamanten zu suchen.“
Er holt Luft. Seine Gedanken führen den Satz lautlos fort: Und als sie erkannte, dass ich nicht der war, für den sie mich hielt. Sie mir sagte, ich kenne sie nicht wirklich. Sie wieder die Antje von früher wurde: Gierig und fremd.
Und keines der Worte, das sie später erklärend und versöhnlich angeführt hat, können ihn dies vergessen machen. Er durchschaut längst nicht mehr, was von alldem, was sie zu ihm gesagt hat, gelogen war. Doch die Wahrheit dieser gegenseitigen Fremdheit, ist so klar, dass er sich am liebsten selbst ohrfeigen möchte. Für seine Blindheit. Seine Dummheit. Dass er jemals geglaubt hat, sie zu kennen.
Er muss gehen. Jetzt. Schon dreht er sich um, bewegt sich bewusst vorsichtig auf die Tür zu. Petra scheint endlich aufzugeben.
Doch als nächstes hört er ihre verwirrte Stimme, die feststellt: „Also ich hab nichts verstanden. Ich weiß nur, dass Antje im Keller sitzt mit dem Brief ihres toten Vaters in der Hand und weint. Allein.“
Einen Moment scheint das Hotel den Atem anzuhalten.
Der Raum stillzustehen.
Und Hans-Georg blinzelt.
Er dreht den Kopf. „Sie weint?“
Und dann stechen die Worte Antjes erneut zu. Er erinnert sich: Du kennst mich nicht.
Er presst die Lippen zusammen. Zwingt sich zu einem ausdruckslosen Gesicht.
„Dann geh sie doch trösten.“
Sein eigener Tonfall jagt Schauer über seinen Rücken. Er klingt falsch. Hans-Georg schließt kurz die Augen und sieht dann wieder zu Petra. Etwas zieht ihn zurück ins Dampfbad. Doch ein anderer Teil von ihm, zerrt ihn zur Ausgangstür. Fort von diesem Gefühlswirrwarr, das ihm viel zu viel ist. Viel zu kompliziert.
Petra wirft die Arme in die Luft. „Du weißt, dass ich das sofort machen würde, wenn es was bringen würde. Aber wir wissen beide, wer sie jetzt trösten kann.“
Sie verzieht die Lippen und dann zuckt ein Grinsen darüber: „Ein Tipp: Jesus meine ich in diesem Fall mal nicht.“
Hans-Georg verdreht die Augen. „Ach was. Der wäre sicher besser geeignet“, stichelt er zurück und kann zum ersten Mal seit Minuten wieder frei atmen. Weil er weiß, dass seine Schwester Recht hat. Auch, wenn es ihm nicht gefällt. Der Sog zur Kellertür verstärkt sich.
Seufzend stapft er los und Petra weicht grinsend zur Seite aus.
Sie verkneift sich in letzter Sekunde einen Kommentar und sieht Hans-Georg nach. Als die Tür sich öffnet und wieder schließt, stiehlt sich ein Luftzug um ihre nackten Füße.
„Och nö“, stöhnt sie. Dass sie ja auch noch mal runter muss, hatte sie völlig vergessen.
Als Hans-Georg durch die Edelstahltür in den Nebel tritt, schlägt ihm Hitze entgegen. Und seine eigene Stimme, als er fragt: „Antje?“
In dem kleinen Umkleideraum ist sie nicht gewesen, doch auch jetzt sieht er sie nicht. Kunststück, bei der Benebelung hier. Dafür hört er Schritte und im nächsten Moment taucht ihr Gesicht aus dem Dunst vor ihm auf.
Sie mustert ihn nur kurz, dann drückt sie sich an ihm vorbei durch die Tür. Und das Bedürfnis sie einfach gehen zu lassen, steigt in Hans-Georg auf. Er atmet den Dampf ein und merkt erst jetzt, dass er voll bekleidet ist und seine Sachen bereits anfangen, an ihm zu kleben.
Grummelnd folgt er Antje.
Sie sitzt auf einer der Bänke vor den hohen Schließfächern und hält noch immer den Brief in den Händen. Ein genauerer Blick verrät, dass die versteckte Botschaft wieder verblasst ist. Dennoch starrt sie auf die, nun wieder, blanke Rückseite des Briefes.
Es dauert eine Weile, bis Hans-Georg ihr ins Gesicht sehen kann. Spuren von Tränen entdeckt er keine. Ihr Gesicht ist gerötet und schimmert, aber so sahen sie alle aus, als sie aus dem Dampfbad kamen. Ob da Trauer in ihrem Blick liegt? Er kann es nicht sagen. Das ist Petras Fachgebiet.
„Ähm…“, beginnt er stammelnd. „Ist… ist alles okay?“
Da schaut sie überrascht auf. Hat sie ihn gar nicht bemerkt? Sie lächelt schief. Es wirkt unaufrichtig. Doch vermutlich misstraut er mittlerweile jeder ihrer Gesten. Allem an ihr.
Sie murmelt etwas: „Er sagt,... ich wäre sein wertvollster Schatz“.
Hans-Georg will schon nachfragen, ob er sie richtig verstanden hat, doch da geht ein Ruck durch sie. Ihre Schultern straffen sich, ihr Blick wird klar und ihre Hände falten den Zettel sorgfältig zusammen. Er verschwindet in ihrer Bademanteltasche.
„Ich meine... Ist die Polizei schon da?“, korrigiert sie geschäftsmäßig und schlüpft in ihre Ballerinas.
Hans-Georg schüttelt stumm den Kopf. Was macht er hier? Es scheint nicht so, als ob Antje Trost bräuchte. Im Gegenteil. Sie wirft die Haare zurück und richtet sich kerzengerade auf. Dann nimmt sie die Tür zur Treppe ins Visier.
Da ist es genug.
„War eigentlich alles gelogen?“
„Was?“ Sie wirbelt zu ihm herum. Die Augen groß vor Erschrecken. Hans-Georg ist selbst überrascht von seinem harschen Tonfall. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Langsam wiederholt er: „War alles gelogen?“
Antje schüttelt den Kopf: „Was meinst du? Ich habe nicht gelogen… Ich hab es doch erklärt, nur als sie bereits vor der Tür standen, das war…“
„Das meine ich nicht“, unterbricht er sie. Und er meint auch nicht, dass sie eine Flucht erfunden hat, oder, dass sie ihm den Brief ihres Vaters nicht geben wollte, bevor sie ihn in seiner Tasche verschwinden ließ. Diese Dinge betreffen alle ihren 'Fall'. Und der ist abgeschlossen. Es geht nur noch um sie beide.
„Du hast so viel erzählt. Von Familie und Identität und Vertrauen. War irgendwas davon wahr?“ Er kann den Vorwurf nicht aus seiner Stimme verbannen.
Antje öffnet den Mund. Schließt ihn wieder. Schüttelt den Kopf. Erst dann beteuert sie: „Das war nicht gelogen! Ich hab dir vertraut.“
Sie lässt die Hälfte seiner Worte unter den Tisch fallen. Na gut. Selbst den Rest würde Hans-Georg so gern glauben. Ein Teil von ihm möchte diese Antwort annehmen und nicken. Es gut sein lassen. Aber da ist so viel mehr.
Als er nicht antwortet, ballt sie die Fäuste: „Ich hab dir vertraut. Sonst hätte ich dich doch nie um Hilfe gebeten. Du warst der einzige, den ich hatte!“ Sie ist laut. Empört.
Er hat keine Ahnung, ob es gespielt ist.
Hans-Georg sieht zur Seite und schluckt. Einfach alles glüht in ihm. Kopf, Herz, Bauch. Nichts ist mehr klar, sondern vernebelt wie das Dampfbad.
Er weiß, dass er ihr eine Antwort schuldet, also zwingt er seine Lippen auseinander: „Dann haben wir ein sehr unterschiedliches Verständnis von Vertrauen.“
Es wird wieder still, während sie blinzelt und den Kopf zurückzieht. Seine eigenen Worte ziehen ihn runter. Trotzdem kann er nicht mehr aufhören: „Wenn du mir vertraut hättest, hättest du mir alles gesagt. Früher. Nicht erst, als du schon geholfen hattest, meine Geschwister einzusperren. Und du hättest mir nichts über eine ausgedachte Flucht erzählt, sondern das, was du vorhin uns allen gesagt hast. Mir. Vorher. Bevor die Umstände dich dazu gezwungen haben. Freiwillig, weißt du?! Das wäre Vertrauen gewesen.“
Erst als er verstummt, merkt er, wie laut er geworden ist. Antje atmet schwer und ist zur Bank zurückgewichen. Sie sinkt darauf nieder und starrt zu Boden. Vermutlich sollte er jetzt nach Tränen suchen, aber das ist das Ding der Mädels. Er hat dafür weder Blick noch Sinn. Gern würde er jetzt über sich selbst lachen, aber sein Hals ist zu trocken. Und dann lacht er doch krächzend auf, weil er sich gerade erinnert hat.
Antje hebt den Kopf.
„Ich bin so ein Idiot. Du hast es mir ja von Anfang an gesagt: Ich sollte niemandem vertrauen. Niemandem.“
Das letzte Wort schnürt ihm beinahe die Luft ab, aber auf Antje hat es eine andere Wirkung. Sie kneift die Augen zusammen und springt auf. Ihre Hand fährt anklagend auf ihn zu.
„Ach und was ist mit dir? Mr Superheld?! Du hast mir doch vorgemacht, du wärst ein Held. Das bist du nicht. Ist das keine Lüge? Nennst du das Vertrauen, du... du Heiliger!?“
Jetzt ist es Hans-Georg, der zurückweicht. Weil ihre Stimme vor Wut zittert und sie mit der Hand durch den Raum zwischen ihnen schneidet. Weil er jetzt nicht mehr leugnen kann, dass ihre Augen feucht schimmern. Aber am meisten, weil sie ihn trifft. Obwohl er sich längst entschuldigt hat, längst eingesehen, dass es ein Fehler war. Erst jetzt wird ihm klar, was sein Handeln mit Antje gemacht hat.
Held.
So ein dämliches Wort für ihn. So hat er sich niemals gesehen. Auch nicht seine Geschwister und ihn als Gesamtheit. Nur Einer ist für ihn wirklich ein Held, aber das versteht sie nicht. Hilft nicht. Scham reißt seine Seele auf wie eine kaum verheilte Wunde. Er hat sich zu ihrem Helden stilisiert. Und falsche Erwartungen geweckt.
Er.
Sie hat Recht.
Hätte er ihr vertraut, hätte er nicht vor ihr prahlen müssen, wie ein Poser.
Sie haben telefoniert. Sich Briefe geschrieben. Jahrelang. Und doch waren sie vielleicht nie echt zueinander. Nie?
Nie ganz.
„Antje...“, fängt er an, ohne zu wissen, wo er eigentlich anfangen soll.
Sie ist längst an der Tür, hat sie aufgerissen und ihre Schritte klackern über den Boden. Ihr Duft hängt noch in der Luft. Hans-Georg schüttelt seine Erstarrung ab, fängt die Tür im Zufallen auf und quetscht sich hindurch. Doch Antje ist nicht weggerannt, wie er dachte. Sie steht auf den unteren Stufen der Kellertreppe, halb abgewandt und die Arme um sich geschlungen.
„Was?“
Eine letzte Chance, geht es Hans-Georg durch den Kopf. Für sie beide.
Er schiebt die Gedanken beiseite, an Gier und Täuschung. An Fehler und Lügen.
„Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Das alles... mit uns... ist völlig schief gelaufen.“
Es ist dämmrig hier unten. Viel ist von ihrem Gesicht nicht zu erkennen. Aber, dass sie spöttisch den Kopf schief legt, ist unverkennbar. Ein Kloß vom Ausmaß eines Tennisballs und mit gleicher Pelzigkeit steckt plötzlich in seiner Kehle fest. Trotzdem platzt es aus ihm hinaus: „Du hast Recht. Ich kenne dich nicht. Du kennst mich nicht. Super. Wir haben's total verbockt.“
Diesmal bringt ihn diese Wahrheit zum Auflachen. Einen Moment hängt der hilflose Laut in der Luft.
Da löst Antje die Arme und wirft sie übertrieben in die Höhe. Und dann lacht sie auch. Und nicht nur Hans-Georgs Halsverstopfung löst sich in diesem Moment.
In diesen Sekunden sind beide einfach echt.
Anders ist es nicht zu erklären, dass sie ihn gegen die Schulter boxt, als er auf sie zutritt.
Dass sie sich nicht wehrt, als er sie in den Arm nimmt.
Eigentlich sollte sie vermutlich jetzt etwas sagen, aber da ist nur ein einsamer Schluchzer an seiner Schulter, den er hört und spürt.
Hilflos hält er still und seine Arme auf ihrem Rücken versteifen sich. Er schickt ein verzweifeltes Stoßgebet los, mit der Frage, was er jetzt tun soll.
Und die Antwort kommt klar.
Er spricht sie vorsichtig aus:
„Hey... Ich bin für dich da.“