»Auf unsere glückliche, kleine Familie!«
Wir hoben unsere Gläser und wiederholten den Ausspruch.
Eine glückliche, kleine Familie. Wie falsch diese Worte waren. Es fängt schon mal damit an, dass wir keineswegs eine kleine Familie waren. Wir hatten uns auf dem Hausboot meiner Schwester versammelt und waren allein bei diesem Essen schon zu viert. Ich und mein Mann und Lisa und ihr Mann. Unsere Kinder schliefen bereits. Sie hatten zwei und wir ebenfalls. Klein ist das für mich nicht. Vor allem, da ich wusste, dass ihre Familie eigentlich seine Verwandten waren. Was wirklich keine kleine Familie ergab.
Und dann war noch das Wort glücklich. Das waren wir tatsächlich nicht. Wir hatten uns zwar hier versammelt, um mal wieder einen gemeinsamen Abend zu verbringen, aber wie immer lag dabei eine gewisse Spannung in der Luft.
Kaum waren die Kinder zu Bett gegangen, herrschte eine gedrückte Stimmung. Also wurde der Champagner herausgeholt und komische Reden über unsere Verbundenheit gehalten.
Dass ich nicht lache. Ewig muss man meiner Schwester hinterherlaufen, um auch nur eine Antwort zu der eigenen Nachricht zu erhalten. Telefonisch war sie sowieso nie zu erreichen und Besuche wurden gerne einen Tag vorher abgesagt. Was das ganze also mit einer glücklichen, kleinen Familie soll, weiß ich nicht.
Danach sind wir jedoch relativ schnell auf unsere Zimmer gehuscht. Mein Mann war von der Seeluft schnell müde und konnte auch gut einschlafen, ich jedoch setzte mich an den Bettrand und dachte nach. Noch immer spukte mir der Satz in meinem Kopf herum, als ich ein lautes Krachen hörte. Ich sprang vom Bett und lief in die entsprechende Richtung. Es war im Esszimmer gewesen. Scheinbar war das Fenster zugefallen. Ich atmete ruhig aus und versuchte, mich zu beruhigen.
Doch dann kam meine Schwester hinter mir herein.
»Was ist passiert?,« fragte sie mich vorwurfsvoll.
Wütend blickte ich sie an. »Es war der Wind,« antwortete ich knapp und schloss das Fenster.
Gerade als sie patzig werden wollte, hörten wir erneut ein Krachen direkt neben uns. Wir zuckten zusammen und Lisa machte einen Sprung nach hinten.
Die Flasche neben ihr war heruntergerollt und kam nun auf mich zu.
»Ihr solltet die Dinge besser organisieren. Ein Hausboot ist eben doch was anderes,« warf ich ihr vor.
Sie öffnete ihren Mund, wurde jedoch erneut unterbrochen. Es prasselte laut und der Boden begann, unter uns stark zu schwanken.
»Es sollte heute Nacht klarer Himmel sein,« flüsterte Lisa.
Ich schüttelte nur den Kopf, war klar, dass Lisa wieder etwas durcheinandergebracht hatte. Ich hätte lieber selbst das Wochenende aussuchen sollen. Ich schlug vor, ihr zu helfen, das Hausboot sturmsicher zu machen. Widerwillig stimmte sie zu.
Gemeinsam arbeiteten wir uns vor. Wir mussten alle Fenster schließen, was sich teilweise als sehr schwierig herausstellte. Der Wind war so stark, als würde er gegen uns ankämpfen. Fluchend drückten wir die Fenster gemeinsam zu und wurden dabei von oben bis unten nass.
Es wunderte mich, dass keiner der anderen aufwachte. Als wir einen Blick in ihre Zimmer warfen, schliefen sie alle tief und fest. Ich gab meiner Kleinsten einen sanften Kuss und deckte sie weiter zu.
Es wurde immer kälter und ich erschauderte. Zitternd gingen wir an Deck. Ein Sonnenschirm rollte über den Boden, auf welchem das Wasser stand. Als ich ihn ergriff, wurde das Boot von einer Welle nach oben gerissen und ich wäre beinahe über Bord gegangen, wäre Lisa nicht gewesen.
Mit großen Augen schaute ich sie an. Sie hielt meinen Arm fest und schrie: »Gehen wir wieder rein. Unser Leben ist wichtiger.«
Ich nickte nur und wir kämpften uns wieder hinein.
Drinnen ließen wir uns zu Boden sinken und schauten ängstlich nach draußen.
»Sollten wir die Männer wecken?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf und meinte: »Sie können jetzt auch nichts mehr ausrichten. Wir hätten wieder ans Ufer fahren sollen. Wir haben nicht einmal ein Notrufsystem, wir sind komplett auf uns allein gestellt.«
Ich sah, dass sie in Panik war. Sie hatte Angst, dass der Sturm noch stärker werden könnte.
Ich versuchte, sie zu beruhigen: »Es wird alles gut werden. Weißt du noch, als wir Kinder waren und uns bei einem schlimmen Gewitter mit Mama im Keller versteckt haben?«
Sie nickte. Ich sah, wie sie zitterte und legte meine Hand auf ihre.
»Mama hat uns Geschichten vorgelesen, während wir warteten, dass das Haus über uns zusammenbrechen würde.«
Jetzt musste sie lächeln: »Du hast dir einen Helm aufgesetzt und Knieschoner angelegt.«
Während ein Donnern über uns erschallte, musste ich lachen: »Und du hast den Regenschirm mitgenommen und Dinky, deinen Affen.«
Sie machte einen Schmollmund und meinte: »Er hätte uns bestimmt geholfen.«
»Aber Mama war stets so tapfer. All die Jahre hat sie uns beschützt und hat sich keine Angst anmerken lassen.«
Lisa nickte.
Schweigend hörten wir dem Regen zu.
Lisa unterbrach plötzlich die Stille: »Wie kam es, dass wir uns auseinandergelebt haben?«
Ich dachte nach. Es gab sicherlich viele Gründe und die meisten kamen wohl von Lisa. Sie hatte sich von unserer gesamten Familie abgewandt und sich vollkommen der ihres Mannes gewidmet. Sie hatte sich wöchentlich mit seinen Schwestern getroffen und nur einmal im Monat mit mir telefoniert. Ich hatte sie vermisst und mich im Laufe der Zeit wiederum von ihr abgewandt. Ich konnte es nicht ertragen, die Bilder seiner Familie überall in ihrem Haus zu sehen. Ich hasste es, wenn ihre Kinder immer über ihre anderen Tanten sprachen und was sie alles Tolles mit ihnen erlebten, während ich nicht mal eine Stunde mit ihnen allein sein durfte.
Doch ich konnte ihr wohl nie verzeihen, dass sie unsere Eltern verstoßen hatte. Sie hatte komische Gründe, welche ich nie vollkommen verstehen konnte.
Ich betrachtete sie, wie sie vor mir saß. Sie sah aus wie ein armes Reh, welches sich vor dem Jäger fürchtete. Und plötzlich, da konnte ich ihr nicht mehr böse sein. Ich wollte wieder neu mit ihr anfangen und erwiderte deshalb: »Ich weiß es nicht. Lassen wir es hinter uns und versuchen es nochmal.«
Sie begann zu lächeln und nickte.
Wir hatten gar nicht bemerkt, wie der Sturm vorübergezogen war. Man hörte nur noch ein sanftes Nieseln. Wir standen auf und gingen gemeinsam wieder in unsere Zimmer. Kurz bevor sie ihre Zimmertür schloss, schenkte sie mir nochmal ein kleines Lächeln.
Ich wusste nicht, ob wir es wirklich schaffen würden, eine gute Beziehung zueinander aufzubauen, doch einen Versuch war es auf jeden Fall wert.