Der Herbst ist da.
Er ist voll Herabfallen. Voller Sättigung. Voller Verstummen. Voller Wind und Schals, die beide über Haut streichen. Der eine zuweilen kriecht auch unter die Kleidung. Der andere versucht den ersten davon abzuhalten. Glitzerpfützenplatschen und das Knacken von Nussschalen sind sein Klang. Und er ist voller Farben: Kastanienbraun. Laubgold. Und Eichhörnchenrot.
Apropos...
„Alter, der wievielte Zapfen ist das bei dir?“
Das rostrote Eichhörnchen beugte sich nach vorn, um über den dicken Ast sehen zu können auf dem es saß. Dann seufzte es. Unten saß das größere Grauhörnchen, das sich Flap nannte und krakeelte zu ihm hinauf.
„Komm schon, gib was ab, Flip!“
FLIP! Dem roten Eichhörnchen, das nicht Flip hieß, platzte der Kragen.
„Ich heiße nicht Flip!“, schrie es und feuerte den Kiefernzapfen nach unten. Ein gedämpftes Pfump verriet, dass er sein Ziel getroffen hatte. Ebenso wie das „Äaitsch!“ von Flap.
Flap, Flap! Jetzt fing er auch schon so an. Dieser Grauling mit seinen Menschenanwandlungen. Namen! So etwas gab es im Tierreich nicht. Aber seit das Junge der Menschen aus dem ersten Stock im Haus gegenüber, sprechen und anschließend (!!!) zu denken begonnen hatte, verpasste es sämtlichen Viechern in der Nachbarschaft Namen. Es gab sicher fünf eurasische Eichhörnchen in der Gegend, aber das kleine Weibchen schaffte es nicht, sie zu unterscheiden. Nur das große Grauhörnchen, der nervige Einwanderer, den erkannte sie. Er war Flap. Und der Rest von ihnen war Flip.
„Du spinnst wohl!“, keckerte der Grauling von unten. Der Rote hüpfte vor und sauste den Stamm kopfüber hinunter. Zwei Sprunglängen von Flap entfernt, verharrte er... Da, schon wieder: Flap! Ach, sei's drum. Wenn der Schnorrer drauf bestand, war er eben Flap.
„Du spinnst! Es ist Reifezeit. Es gibt Zapfen, Eicheln und Bucheckern in Hülle und Fülle, aber du schnorrst herum!“, blaffte das Rothörnchen und spürte, wie sein buschiger Schweif aufgeregt herumzuckte, als sei er ein Stimmungsbarometer.
„Schmeißen die Menschen keine Walnüsse mehr, oder was ist dein Problem?“, keifte der Rote weiter und warf einen kurzen Blick zu der gigantischen senkrechten Wand hinter der Wiese. Es war einer dieser Baue der Menschen, in denen sie zu Dutzenden wohnten. Und in dem hiesigen Fall, öfter mal die ein oder andere Nuss von den kleinen Freiluftkäfigen warfen, auf denen sie kunterbunte Blumen und andere unleckere Pflanzen wachsen ließen.
Flap grummelte vor sich hin, raste aufgebracht hin und her. Der Zapfen lag unberührt am Boden.
„Von wegen werfen. Die einzelnen Nüsschen. Ich weiß wo ihr Lager ist!“, motzte er nach oben und das Rothörnchen wackelte mit den bepinselten Öhrchen. Zapfensamen und Eicheln waren ja in Ordnung, aber ein Nusslager!? Das klang furchtbar schleckerleckig.
„Ein Nusslager der Menschen? Wo?“, platzte es aus ihm raus, bevor er sich erinnerte, dass er ja sauer auf das Grauhörnchen war. Flap kicherte keckernd.
„Erst musst du dich entschuldigen“, forderte er und der Rote zischte beim Luftholen. Das war ja klar gewesen. Mit einer Wuselbewegung war er herum und zischte den Baum wieder hinauf. Hockte sich auf seinen Ast und stellte seinen Schwanz wie einen flauschigen Schutzwall auf. Dann murrte er zu sich selbst: „Der spinnt ja.“
Stille.
„Ich hab dich nicht verstanden!“, kreischte es von unten.
Das Rothörnchen kratzte sich das Fell. Das konnte der Grauling voll vergessen. Er atmete tief ein, um den Ärger hinunterzuatmen, der seinen ganzen erregten Eichhörnchenkörper in Aufruhr versetzte.
Doch in diesem Moment traf in einen frische Bö direkt auf die Nase. Klarer Herbstwind fuhr in seine Kehle und ließ ihn nach Luft ringen. Das sonnenuntergangfarbene Laub um ihn herum raschelte. Als würde es flüstern.
Was auch immer es ihm einflüsterte, es war wohl die Sprache der Tiere. Oder der Bäume. Oder des Herbstes. Jedenfalls verstand der Rote es.
Das Eichhörnchen seufzte erneut. Tief und theatralisch. „Also gut." Dann schwang es herum und sauste den Stamm hinab.
Flap, der sich inzwischen auf die offene Wiese begeben hatte, die Baumreihe und Haus voneinander trennte, fuhr aufgeregt herum und setzte sich auf die Hinterpfoten. „Wer da?“ Sein Schnäuzchen vibrierte verschreckt.
„Öhm“, begann der Rote und begann verschämt eine Kuhle in das feuchte Gras zu scharren. Seine Krallen fetzten Gras davon, kratzten über die Erde.
Flap wartete.
„Also gut, Entschuldigung für die Kopfnuss... äh Zapfen. Wo sind jetzt die Walnüsse?“, brummelte Flip und richtete sich hektisch auf.
Was auch immer Eichhörnchen tun, sie grinsen nicht, deshalb blieb Flip... pardon, dem roten Eichhörnchen ein triumphales Grinsen erspart. Stattdessen schnüffelte Flap kurz in die Luft, wiegte den Oberkörper hin und her und hüpfte dann los. Hintereinander, als würden sie sich jagen, rasten sie auf eines der Freiluftgefängnisse, alias Balkon zu, das im Erdgeschoss lag.
Unterhalb der Umzäunung alias Balkongeländer, blieben sie hocken und lauschten. Nichts. Na klar, bei diesem Wetter blieben die Menschen in ihren kastenförmigen Kobeln. Flap nickte und gemeinsam kletterten sie über die Planken des Geländers hinauf und sprangen auf die Fließen.
„Tada!“, machte Flap und deutete auf einen Tisch, auf dem, abgesehen von einem Stofftuch, ein ganzer Haufen Walnüsse lag. Hübsch ausgebreitet, als wären sie für sie angerichtet.
Es klirrte, als das Rothörnchen zwischen Nüssen und Windlichtern landete. Es knackte leise, als die erste Schale zwischen seinen Zähnen aufbrach. Es folgte ein zweites Knacken und dann hörte man nur noch leises Knuspern.
Ob die Bewohnerin der Wohnung es auch gehört hatte? Wohl nicht, denn sonst hätte es sie früher, als eine halbe Stunde später, hinausgetrieben, um die zum Trocknen ausgelegten Walnüsse einzusammeln. Die Eichhörnchen ergriffen die Flucht und hinterließen außer leeren Schalen genau drei Nüsse.
„Verdammt, wir waren fast mit dem Vergraben fertig“, kicherte Flap.
Der Rote, der nicht Flip hieß, sprang neben ihm her. „Vergiss bloß nicht, dass mindestens acht im Blumenkübel stecken, sonst wachsen da nächstes Jahr ne Menge Walnussbäume.“