Einen kleinen Harzer zu finden, meine liebe Celi, ist unmöglich. Nun wirst du zurecht fragen, warum ich den seltsamen Wesen überhaupt ein Kapitel in diesem Buch widme, wenn sie dir ohnehin nie begegnen. Nun, einen Harzer zu finden ist zwar unmöglich - von einem gefunden zu werden, allerdings nicht. Ich weiß, dein alter Onkel Umbuntus spricht schon wieder in Rätseln, doch lass mich kurz erklären.
Einst, und in diesem Fall liegt dieses Einst schon viele hundert Jahre in der Vergangenheit, lebten die Harzer unter uns. Also nicht unter uns, im Keller, nein, direkt unter den Menschen. Sie sind nur daumengroß, musst du wissen, daher fiele es auch heute kaum auf, wenn sich in unseren Wohnungen immer noch Harzer einnisteten. Doch diese Partnerschaft ist längst Geschichte, was unendlich schade ist, schließlich haben davon beide Seiten profitiert. Es gibt viele Gründe, warum sie die Städte der Menschen heute meiden. Einer davon ist, dass es dort kaum noch genug Bäume gibt. Ein ungünstiger Umstand für Wesen, die ausschließlich von Baumharz leben. Du weißt schon, Harz, jener dickflüssige Saft, welcher aus der Rinde tropft, wenn man sie ankratzt. Früher ein sehr begehrter Rohstoff, heute – zum Glück für die Bäume – kaum noch gefragt. Seitdem man entdeckt hat, dass Leim aus Knochen deutlich besser klebt, braucht niemand mehr Harz. Und kleine Harzer.
Als sich ihr König, Leobarz der Zweite, schließlich auch noch mit der mächtigen Händlergilde von AbleTon überwarf, rief er tief enttäuscht all seine Untertanen zusammen. In einer der größten Völkerwanderungen, welche die Lande jemals gesehen haben, verließen sie die Gebiete der Menschen. Wohin? Liebe Celi, das kann dir niemand genau sagen, nicht einmal ich. Einige behaupten nach Westen, in die undurchdringlichen Lindenwälder. Andere schwören Stein und Bein, die Winzlinge hätten sich in den Leidenden Bergen, nördlich von Miosma, ein neues, kleines Reich aufgebaut. Gut möglich, dass sie sogar im Tasswein-Tann hausen, oder im Skuggenwald – obwohl, das bezweifle ich, vergiss das wieder, dort wirst du sie sicher nicht antreffen. Dieser alte Forst ist tot, seitdem der verrückte Alchemist im Moosturm aus und ein geht. Meide den Skuggenwald, Celi, das ist kein Ort für dich. Für niemanden.
Seit jenen Tagen sind die kleinen Harzer langsam aus unserer Kultur verschwunden, aus unseren Erinnerungen und aus unserem Herzen. Heute kennt kaum noch jemand diese winzigen Wesen mit dem hübschen, weißen Fell. Ja, sie sind nicht nur so groß, oder besser klein, wie eine Kirschmaus. Auch ihr ganzer Körper, bis auf das menschenähnliche Gesicht, ist von ebenso flauschigem Pelz bedeckt. Davon sieht man allerdings nicht viel, da kleine Harzer immer sehr gut und üppig geschneiderte Kleidung tragen. Wunderschöne Trachten, bis aufs kleinste Knopfloch genau definiert, für jedes Alter, jeden Beruf, jeden Stand. Ein dreiundachtzigjähriger Schöpfer aus dem Hause der Spinnen trägt zum Beispiel einen grünen Hut mit drei goldenen Perlen bestickt. Dazu ein dunkelblaues Sakko – die Farbe der Schöpfer – und eine lange, Hose aus Spinnenseide.
Da es der Sinn dieses Buches ist, dich auf alle möglichen Wesen vorzubereiten, die dir auf deinen Reisen begegnen könnten, stellt sich natürlich die Frage: was tun, wenn du einen Harzer triffst? Die Antwort ist ganz einfach – nicht anschreien! Denn aus irgendeinem irrwegigen Grund, tun sie das. Irgendwann muss sich die verrückte Theorie unter den Harzern festgesetzt haben, dass sie nur von Menschen verstanden werden, wenn sie jedes Wort wie von Sinnen, aus voller Kehle heraus brüllen. Was natürlich Unsinn ist, man versteht ihre erstaunlich klaren, dunklen Stimmen aus zwei, drei Schritt Entfernung immer noch ausgezeichnet. Trotzdem ist man versucht, der schönen, menschlichen Tradition folgend, zurückzuschreien, wenn man angeschrien wird. Mach das nicht, es gipfelt in einem ohrenbetäubenden Ozean aus Lärm, aus dem es schlussendlich kaum noch ein klares Wort an die Oberfläche schafft. Es ist durchaus möglich, mit ihnen ganz wunderbare, tiefgründige, leise Gespräche zu führen, so wie es die Menschen früher taten. Allem vorausgesetzt natürlich, sie wollen mit dir reden.
Und genau da, Celi, liegt der Grund, warum du vermutlich nie einen von den kleinen Baumritzern zu Gesicht bekommen wirst. Warum diese Zeilen fast nur verschwendetes Papier sind, einzig dazu bestimmt, daran zu erinnern, was uns verloren ging. Sie wollen nicht mit uns reden. Nicht mehr. Und sie wollen auch nicht mehr gefunden werden. Doch ein wenig Hoffnung gibt es. Wie schon gesagt, einen kleinen Harzer zu finden, ist unmöglich – von ihnen gefunden zu werden, allerdings nicht. Auch heute noch gibt es sehr seltene, verbürgte Begegnungen mit ihnen. Doch in unsere Städte trauen sie sich seit unendlichen Jahren nicht mehr. Oder besser, noch nicht wieder?
Falls dies jemals geschieht und sie dort auftauchen, wird es das Ende der jahrhundertelangen Eiszeit zwischen ihrer und unserer Kultur einläuten. Wenn sie eines fernen Tages wieder menschliche Gesellschaft und Gespräche suchen, sollten wir sie mit offen Armen und Ohren empfangen. Für sie ist unsere immer kleiner und enger werdende Welt noch ganz groß, riesig, unermesslich, voller Schätze und Wunder. Die Harzer betrachten sie aus einer Warte heraus, die uns fremd geworden ist. Ihre Rückkehr könnte uns die Augen für so manches öffnen, dass unserem abgestumpften Blick schon längst entschwunden ist.
Ich hoffe inständig, dass dies noch zu meinen Lebzeiten geschehen wird, oder wenigsten zu deinen. Einen kleinen Harzer auf seinen Reisen dabei zu haben, ist noch tausendmal wertvoller und unterhaltsamer als ein handgeschriebenes Buch, mit dem Titel „Celi´s Lebensretter“.