Gewöhnlich und normal. Seltsam wie zwei beinahe gleiche Worte einen so gewaltigen Unterschied machen konnten. Normal sein bedeutete an diesem Ort, am Wochenende nach Saint-Tropez zu fliegen und sich dort an Bord einer Yacht die Sonne auf die perfekt gebräunte Haut scheinen zu lassen. Es bedeutete diese lächerlich winzigen Rucksäcke, welche nicht annähernd genug Platz für Bücher, jedoch für diese klitzekleinen Netbooks boten, in drei verschiedenen Pastellfarben zu besitzen. Gewöhnlich hingegen waren das No Name Shirt und dieser 08/15 Rucksack, den sie vor drei Jahren in einem Billigkaufhaus erstanden hatte und nun missmutig im Spiegel betrachtete, als unverhofft die Tür aufschwang.
Drei normale Mädchen betraten kichernd die Damentoilette. Als diese ihre gewöhnliche Mitschülerin bemerkten, verstarb der glockenhafte Klang und sie begannen mit vorgehaltener Hand zu tuscheln, um schlussendlich in lauthalses Gelächter auszubrechen.
Bettina spürte wie das Blut in ihr Gesicht stieg, senkte den Blick und lief mit knallroten Wangen und abgetragenen Schuhen davon.
Bettina, selbst ihr Name war gewöhnlich. In Gedanken verwünschte sie ihre Eltern dafür, sie nicht Lea, Marie oder Lisa genannt zu haben und befühlte mit kaltschweißigen Händen ihre Wangen, welche derweil eine gewöhnliche, fahle Blässe zurückerlangt hatten. Die Zeiger der Wanduhr standen auf zwölf. Sie war bereits länger als normal fort und sicherlich war der Lehrer nicht erfreut darüber. Notfalls, sollte er eine Rechtfertigung verlangen, würde sie auf ihre Periode verweisen, so wie gewöhnliche Mädchen es gelegentlich taten, um dem unerträglich eintönigen Unterricht zu entkommen.
An ihrer alten Schule war sie normal gewesen. Zwischen all den löchrigen Hosen und notdürftig zusammengebundenen Haaren, zwischen Dörte, Pascal und Ahmed, hatte sie sich wohl gefühlt. Damals hatte sie nicht gewusst, wie gewöhnlich sie alle waren und doch war sie glücklich gewesen. Als sie das Stipendium für die Privatschule erhielt, hatten sie eine ausgelassene Party gefeiert und auch am ersten Tag war sie vorfreudig aus dem Bett gesprungen. Gewöhnliche Leute waren eben naiv, das begriff sie nun, doch seinerzeit hatte sie nicht gewusst, dass ein normales Mädchen morgens zwei Stunden vor dem Spiegel verbrachte. Ferner war ihn nicht klar gewesen, dass solch ein Mädchen dasselbe Outfit nie mehr als einmal trug und jeden Tag mit einem eigenen Sportwagen vor dem Schulgebäude vorfuhr. Ahnungslos hatte sie ihre neuen Mitschülerinnen angelächelt, sich bemüht Anschluss zu finden und schon bald ihre erste wichtige Lektion gelernt:
Normale und gewöhnliche Mädchen waren zu verschieden, um Freundinnen zu sein. Es hatte nicht lang gedauert, bis sie zudem lernte, dass normal und gewöhnlich keinesfalls gleichwertig waren und man diese Kategorien lieber streng voneinander trennte. Seitdem hielt sie den Blick gesenkt, denn normale Mädchen waren mächtig, Bettina hingegen nicht und so schlich sie nunmehr wie ein Schatten durch die Gänge der Schule.
Sie riss sich aus ihren Gedanken und atmete tief ein. Ein halbherziger Seufzer erklang aus ihrer Kehle, während sie müden Schrittes auf das Klassenzimmer zu steuerte.
Unwissenheit ist ein Segen, echote es durch ihren Kopf.