Mit dem 11. Türchen heiße ich euch zu meinem Beitrag zum Adventskalender 2020 willkommen. Ein dickes fettes Danke an Vampire's Lair für die Einladung. Ich hatte Schwierigkeiten, den Prompt "Glockenklang" nach meinen Wunschvorstellungen umzusetzen. Das Ergebnis ist nicht sehr weihnachtlich, wofür ich mich hiermit im voraus entschuldige. Dennoch viel Spaß beim Lesen.
Die Bahn verspätete sich zu einer ungünstigen Zeit. Melissa schaute von der Anzeige auf ihre alte goldene Uhr in ihrer Manteltasche, doch so sehr sie sich es wünschte, sie würde es nicht rechtzeitig zur Kirche schaffen. Sie hatte sich bisher immer auf das letzte Überbleibsel ihres Vaters verlassen können, nur heute ließ die Uhr sie im Stich. Ihre Schwester würde mit Sicherheit ausrasten.
Es war Sarahs Tag. Ihr Hochzeitstag, an diesem kühlen Dezembermorgen, zu dem sie die ganze Familie eingeladen hatte. Bis auf ihre kleine Schwester, die durch Zufall davon erfahren musste und schwer schlucken musste, als sie die Anzeige in der Zeitung sah. Melissa war nicht wütend, bloß enttäuscht, dass sie es wohl nicht von Anfang an Wert war, an diesem Ereignis teilzunehmen.
Jetzt beeilte sie sich, zur Kirche zu kommen, weil es sich Sarah plötzlich anders überlegt hatte. Sie besaß nicht einmal den Mumm, persönlich anzurufen. Melissa schüttelte den Kopf und trat in die nächste überfüllte Bahn.
Unter ihrem Mantel strich sie die Falten an ihrem Abschlusskleid glatt. Mehr als das besaß sie in ihrem Sammelsurium aus T-Shirts und Jeanshosen nicht. Sarah musste mit diesem Aufzug leben, wenn sie es nicht für nötig hielt, frühzeitig Bescheid zu sagen.
Melissa stand vor geschlossenen Türen, als sie vierzig Minuten später bei der Kirche ankam. Sie trat mit hängenden Schultern zur Seite und verkroch sich an die Seite, wo sie hoffentlich niemand entdeckte. Wie lange dauerten wohl die Zeremonien? Musste sie lange warten, bis das Brautpaar als Mann und Frau heraustrat?
»Du hast dir aber mächtig viel Zeit gelassen, Lissi.«
Aufgeschreckt sah sich die junge Frau um, entdeckte unter einem Baum einen Mann im Smoking. Eine Zigarette zwischen den Lippen lehnte er dort und schüttelte den Kopf. Sie erkannte ihn als Toni, Sarahs Exfreund.
»Was tust du denn hier?«, fragte sie perplex über seine Anwesenheit. Sie konnte kaum glauben, dass ihre Schwester ihren Ex hier haben wollte. Höchstens, um ihn zu demütigen, aber Toni kannte Sarah und würde doch nicht darauf reinfallen ...
»Weiß ich selbst nicht so genau«, erwiderte er schulterzuckend, »Ich muss ein Masochist sein.«
»Möglich.« Aber sie war froh, dass sie nicht allein hier draußen in der Kälte ausharren musste. Sie könnten einfach gehen, ohne, dass es einem auffiel. Etwas hielt sie davon ab, ihn auf einen Kaffee einzuladen. Es handelte sich hier um den Ex ihrer Schwester und die hatte mitteilen lassen, dass sie kommen sollte. Toni rauchte in Ruhe seine Zigarette auf, während sie ihn dabei beobachtete. Er war kein Hungerhaken mehr, wie sie feststellte. Früher hatte sie sich Sorgen um ihn gemacht, weil er so unvorstellbar dünn gewesen war. Wenn er zum Essen gekommen war, hatte sie ihm die doppelte Portion gegeben.
Keiner von ihnen strebte eine Konversation an. Sie standen bloß beieinander, jeder in den eigenen Gedanken versunken, bis die Kirchentore ein lautes Knarzen von sich gaben. Sie hatten nicht einmal mitbekommen, wie eine Kutsche vor die Treppe gefahren war, in das das Brautpaar unter Jubel einstieg. Melissa würde den darauffolgenden Glockenklang bis in ihre schlimmsten Träume verfolgen, als sie mit Toni im Schlepptau zur Menge schritt. Sie konnte keine Freude aufbringen. Im Gegensatz zu all den anderen vor der Kirche, sah sie der Kutsche enttäuscht nach.
»Melissa, na endlich. Wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr.« Ihre Tante kam auf sie zu und packte ihre Hand, um sie mit sich zu einem Van auf dem Parkplatz zu ziehen. Dort angekommen, öffnete sie den Kofferraum unter Gefluche, weil sie den Kofferraum nicht aufbekam. Melissa kam nicht umhin, das komisch zu finden. Sie besaß genug Anstand, nicht laut aufzulachen.
»Weißt du was?« Ihre Tante gab auf und drückte Melissa den Schlüssel in die Hand. »Hier. Bring Sarah das Auto ohne einen Kratzer zurück, wenn du ihre Sachen bei dir eingelagert hast.«
Davon hörte Melissa zum ersten Mal. Sprachlos starrte sie ihre davonschreitende Tante hinterher, bevor ihre Aufmerksamkeit dem Van galt. Er war voller Kartons. Irgendwo hörte Melissa es miauen. Eine Katze?
»Morle!« Voller Entsetzen öffnete sie den Kofferraum, wo der schwarze Kater, den Vater Sarah vor seinem Abscheiden geschenkt hatte, in eine kleine Box eingesperrt worden war. Sie holte das arme Tier aus seinem Gefängnis und drückte es an sich, sprach beruhigend auf es ein. Hin und wieder streifte sie das kleine Glöckchen an seinem Halsband. »Ich bin jetzt hier, mein Lieber.«
»Wie es aussieht, hat sich Sarah von altem Ballast getrennt, hm? Armer Morle.« Toni kraulte dem Kater am Kinn, was diesen zum Schnurren brachte. Im Gegensatz zu Sarah besaß ihr Ex ein Herz für Tiere. Sie hatte nicht mitbekommen, dass er ihr gefolgt war, doch sie war weiterhin froh über seine Anwesenheit. Der Rest der Gesellschaft kümmerte sich einen Dreck um sie oder den Van. Nicht einmal darum, dass eine hilflose Katze im Kofferraum festsaß!
»Wie konnte sie nur? Morle war ein Geschenk von Papa.« Das Letzte, was sie vor seinem Tod von ihm bekommen hatten. Sie sollte das Tier in Ehren halten und sich anständig um ihn kümmern.
»Er ist jetzt auf jeden Fall besser dran. Sarah konnte ihn nie leiden und um ehrlich zu sein, meinte deine liebe Verwandtschaft eben zu mir, dass du nur für den ganzen Kram herkommen solltest. Du warst nie für die Zeremonie vorgesehen. Sorry, Lissi.« Sie hätte es sich ja denken können. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ihre Schwester gehörte nicht zu den nettesten Menschen, doch das hier ging für Melissa zu weit. Sie schwor sich, den Kontakt endgültig abzubrechen. Sie sah von Morle zu Toni, der den Kater weiter streichelte.
»Ich könnte jetzt einen Kaffee gebrauchen. Du auch?« Eigentlich stand ihr der Sinn nach einem stärkeren Drink, aber sie würde sich nicht abfüllen, um den Kummer zu ertränken.
Toni nickte. »Gern, wenn auch ein Schälchen Milch für Morle drin ist. Er soll uns ja nicht verdursten.«
Den Kater an sich gedrückt, konnte Melissa ein Lächeln nicht verhindern. Sie vergrub ihr Gesicht im schwarzen Fell, während Toni ihr die Schlüssel abnahm und ihr die Beifahrertür aufhielt.
»Lach nicht, wenn du mich in meinem Abschlusskleid siehst, okay? Ich dachte ja nicht, dass ...«
Toni winkte ab.
»Steig schon ein.« Als sie sich dran machte, mit dem Kater auf den Sitz zu klettern, half ihr Toni dabei. Er lächelte, als er sich vorbeugte. »Ich bin froh, masochistisch veranlagt zu sein und, dass du zu spät gekommen bist.«
Dem konnte sie nur zustimmen.