Rungholtersiel. Dieser kleine Ort, der an der deutschen Nordseeküste liegt, glich einer Geisterstadt. Es gab hier kaum Laternen, kein Netz für Mobiltelefone und Menschen sah man sehr selten. Selbst der kleine Kiosk, der an der Bundesstraße stand, hielt seine Türen stets verschlossen, obwohl das verblasste Plastikschild mit den Öffnungszeiten etwas anderes behauptete. Trotz allem schien es Leben in diesem Ort zu geben. Man sah es nicht sofort, aber manchmal nahm man eine Bewegung hinter den Fenstern der geduckten, mit Reetdach bedeckten Häuser wahr. Sah man jedoch genauer hin, schien es, als hätten sich die Vorhänge nur in einem Windhauch bewegt. Wagte sich einer der Einheimischen in eins der Nachbardörfer, so mied man ihn. Die Norddeutschen gelten zwar als ruhig, rau und distanziert, aber die Bewohner dieses Dorfes strahlten etwas aus, das die meisten Menschen nervös machte. Ortsfremde blieben nicht lange, denn eine instinktive Angst, die ihren Ursprung in der Zeit hatte, als die Menschen noch als Jäger und Sammler durch das Land zogen, trieb sie dazu, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Selbst das Bahnpersonal stieg nicht aus, um zu überprüfen, ob die Weiterfahrt behindert wurde. Es war sowieso ein Wunder, dass der Zug lange genug hielt, um Fahrgäste ein- und aussteigen zu lassen.
Und da stand ich nun auf einem verlassenen Bahnsteig und blickte den roten Lichtern hinterher, die am hinteren Ende der Bahn leuchteten; beobachtete, wie sie immer kleiner wurden und letztendlich in der Dunkelheit einer Herbstnacht verschwanden. Das hatte ich nun davon, mit der letzten Bahn nach Hause gefahren zu sein: Meine Station verpasst und nun instinktiv an der nächsten Haltestelle ausgestiegen!
Ein Taxi zu finden oder sich eins zu rufen war eine unrealistische Vorstellung. Ich hatte also die Wahl zwischen einem nächtlichen Marsch entlang der Straße nach Hause oder einer Übernachtung am Bahnhof, bis die erste Bahn wieder fahren würde. Ich blickte mich auf dem Bahnhof um: Drei Laternen, von der eine rhythmisch flackerte, hüllten den kleinen Betonbahnstieg und das Haltestellenschild in orangenes Licht. Es gab weder eine Bank, auf die ich mich setzen, noch einen Fahrkartenautomaten, der etwas mehr Licht spenden konnte. Da ein Marsch durch die Nacht angenehmer war, als die Zeit bis zur Ankunft des nächsten Zuges hier zu verbringen, setzte ich mich in Bewegung.
Das fahle Licht des Mondes erhellte den Weg, der vor mir lag, während die Sterne vom Himmel herabfunkelten, als amüsiere sie meine Situation. Während ich durch das verlassene Dorf ging, fühlte ich mich zusehends unwohler. Beobachtete mich nicht jemand? Starrte mich da drüben nicht ein bleiches Gesicht durch ein Fenster an, nur um dann hinter den Vorhängen zu verschwinden, sobald sich mein Blick darauf richtete? Ich blieb plötzlich stehen und sah mich um. War da nicht eine Bewegung in den Schatten zwischen den Häusern? Mit angehaltenem Atem lauschte ich in die Nacht. Nichts. Nicht mal eine nachtaktive Katze schlich durch die Gärten und die Fenster der Häuser waren leer. Kopfschüttelnd ging ich weiter und lächelte über mich selbst, doch dann hörte ich sie. Anfangs hielt ich es für Einbildung, aber je weiter ich ging, desto lauter wurden sie – Kröten.
Ich wusste nicht wie viele es waren, aber bei dieser Lautstärke mussten es hunderte, wenn nicht gar tausende sein, die alle gleichzeitig quakten. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, mein Herz schlug schneller und ich beschleunigte meine Schritte.
Entgegen meinen Erwartungen war der Dorfplatz verlassen, dennoch mussten die Kröten ganz in der Nähe sein. Für einen Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, zeichnete mir mein Verstand ein grausiges Bild: Ich sah mich selbst auf dem Dorfplatz stehen, während eine Armee schleimiger Leiber von allen Seiten herbeiströmte und mit gutturalen Lauten einen triumphierenden Gesang anstimmte. Mit geschlossenen Augen zählte ich langsam bis zehn und vertrieb das Bild aus meinem Kopf, aber das Quaken war immer noch da. Es pulsierte in meinen Ohren wie das Schlagen eines abnorm großen, schleimigen Herzens. Angewidert schüttelte ich meinen Kopf und überquerte den Platz. Es musste hier doch Wegweißer geben, an denen ich mich orientieren konnte. Als ich die Hälfte des Platzes überquert hatte, sah ich, wie sich eine Gestalt aus dem Schatten einer Seitengasse löste und mir entgegenkam. Es handelte sich um einen groß gewachsenen Mann mit breiten Schultern. Er schien mich nicht zu bemerken, als er die Stufen zum Kellereingang des alten Rathauses hinabstieg, um kurz darauf in der Dunkelheit des Gewölbes, das hinter einer Tür aus schwerem Eichenholz lag, zu verschwinden. Kaum war diese ins Schloss gefallen verstummten auch die Kröten. Ungläubig starrte ich auf die Tür und strengte mich an, irgendetwas zu hören, aber das einzige Geräusch auf diesem Platz war das Pochen meines eigenen Herzens, das in meinen Ohren wie das Schlagen einer großen Trommel dröhnte.
Ich weiß nicht warum, aber anstatt weiterzugehen und diesen Ort hinter mir zu lassen, folgte ich dem Mann. Obwohl mein Herz mir bis zum Hals schlug und die Stimme der Vernunft mich lautstark zur Umkehr ermahnte, streckte ich die Hand nach der Klinke aus und drückte sie hinunter. Ein Schwall feuchter, modriger und übel riechender Luft schlug mir aus der Dunkelheit entgegen, die das Gewölbe ausfüllte, und raubte mir den Atem. Es war als hätte ein riesiges Ungeheuer seinen Rachen geöffnet, das nur darauf wartete, mich endlich zu verschlingen. Der Drang mich umzudrehen und wegzulaufen hatte fast die Oberhand gewonnen, als ich einen flackernden Lichtschein in der Dunkelheit erblickte. Meine Neugier siegte. Ich trat ein, schloss die Tür leise hinter mir und ging auf den Lichtschein zu. Meine Schritte hallten dumpf von den Wänden wider und der Gestank, der immer intensiver wurde, ließ mich würgen. Die Stimme der Vernunft hatte aufgehört zu schreien und bettelte nun ganz leise um Gehör, aber ich ignorierte sie.
Der Gang mündete in eine große, steinerne Halle, in deren Mitte sich eine Art Brunnenschacht befand, der in die stygischen Abgründe der Erde hinabführte. Das Licht der Fackeln, die in den Halterungen an den Wänden hingen, spiegelte sich auf den schleimigen Leibern und den großen Augen einer Armee von Kröten wieder, die sich um den Brunnenschacht versammelt hatten und jeden freien Zentimeter des Bodens einnahmen. Inmitten dieser Szenerie standen sich zwei Gestalten gegenüber. Zwischen ihnen gähnte der Schacht. Ich erkannte den Mann von der Straße wieder, der mit leerem Blick auf eine andere Gestalt blickte. Diese hob ihre Arme und stimmte mit tiefer Stimme einen sonderbaren Gesang an, in den die Kröten mit lautem Quaken einfielen, sobald sich die guttural ausgestoßenen Silben wiederholten.
Die Hände des ’Hohepriesters’ – wie ich ihn im Stillen bezeichnete – vollführten komplizierte, beschwörend wirkende Gesten, während die Litanei an- und abschwoll. Ich fühlte, wie die Energie, die von diesem unheiligen Ritual ausging, auch durch meinen Körper pulsierte. Der Hohepriester hatte die Hände wieder gesenkt und holte aus dem Inneren seiner Robe einen Dolch hervor, dessen schwarze Klinge bedrohlich im Fackelschein glänzte. Der Mann, der sich bisher nicht geregt hatte, streckte seine Hand aus und der Hohepriester setzte den Dolch auf seiner Handfläche an. Mit einer schnellen Bewegung teilte er das Fleisch des Mannes und das Blut tropfte langsam in den Brunnenschacht hinab. Plötzlich zuckte ein starker Schmerz durch meinen Kopf und meine Beine drohten nachzugeben. Mit zitternder Hand tastete ich nach der Wand und zog mich in den Gang zurück, wo ich mich anlehnte und die Augen schloss in der Hoffnung, der Schmerz werde bald vorbei sein. Ein unbeschreibliches Geräusch, das selbst den Gesang aus der Halle übertönte, ließ mich hochschrecken. Aus dem Schacht schien etwas emporzuklettern, etwas Großes, dessen Körper an den Wänden des Schachts entlangschleifte.
Ich wagte mich wieder an den Rand des Kreises aus tanzenden Schatten und blickte gebannt auf die Öffnung im Boden. Mein Herzschlag setzte für einen Augenblick aus, als sich ein abnormer, aufgedunsener Leib aus der Erdöffnung presste und sich vor dem Mann, den ich auf der Straße gesehen hatte, aufbaute. Der Gesang und das Quaken hatten eine groteske Feierlichkeit erreicht und ich danke dem Schicksal, dass meine Erinnerung dort aussetzt, als das Ding sich schmatzend vorbeugte …
Das nächste, dessen ich mich entsinne, ist meine Flucht durch die mit zornigem Quaken erfüllte Nacht. Meine Füße berührten kaum den Boden, sobald meine Urinstinkte die Kontrolle übernahmen. Immer wieder stolperte ich, fiel hin, schürfte mir die Haut von Händen und Knien, rappelte mich auf und lief weiter, während ich meine Neugier verfluchte und hoffte, diesen unheiligen Ort bald hinter mir gelassen zu haben. Innehalten war nicht möglich, denn sobald mich die Legion der schleimigen Götzendiener aus der Halle eingeholt hätte, wäre es um mich geschehen gewesen. Als ich das Dorf hinter mir gelassen hatte, atmete ich erleichtert auf. Doch ich hatte mich zu früh gefreut: Auf der Brücke, die über den kleinen Bach führte, der diesen Hort des Bösen vom Rest der Welt trennte, warteten sie auf mich. Mein Blick fiel auf das Rinnsal, aber ich verwarf die Idee schnell hindurchzuwaten, als sie das Ufer besetzten und mir damit den Weg endgültig abschnitten. Panisch drehte ich mich um! Verdammt – es musste doch noch einen anderen Fluchtweg geben … Es gab keinen. Ich war umzingelt.
Entschlossen trat ich einen Schritt vor, hob die Arme und stieß einen Schrei aus. Aber sie ließen sich davon nicht vertreiben. Für einen Augenblick kam mir der Gedanke, einfach loszurennen und jede Kröte zu zertreten, die sich mir in den Weg stellte. Aber ich war mir sicher, irgendwann würde ich auf ihnen ausrutschen und Gott allein wusste, was dann mit mir geschah. Plötzlich kam Bewegung in das schleimige Heer: Die Reihen teilten sich.
Die Gasse, die sie bildeten, war nicht für mich bestimmt, denn die Gestalt mit der blauen Robe aus der Halle kam auf mich zu. Sie blieb vor mir stehen und hob die dürren Hände. Ich würgte als die Kapuze zurückgeschlagen wurde und das kalte Mondlicht auf das widerwärtige Antlitz fiel: Es beleuchtete einen bleichen, kahlen Schädel mit einem viel zu breiten Mund. In feucht glänzenden Glubschaugen spiegelte sich der Nachthimmel. Die schmalen Lippen teilten sich und entblößten zahnlose Kiefer, die, einer großen Wunde gleich, das Gesicht zerteilten. Diese Verspottung eines menschlichen Antlitzes grinste mich an und die Gestalt hob eine Hand. Ich wollte flüchten, aber meine Füße bewegten sich nicht, denn ich hatte die Kontrolle über meinen Körper verloren. Der Hohepriester rückte näher und näher … Sobald sein kalter, schleimiger, dürrer Finger mein Gesicht berührte, fiel ich in Ohnmacht.
Als ich die Augen öffnete, saß ich wieder im Zug. Verwirrt blickte ich mich um. Hatte ich nur schlecht geträumt? Alles schien zu sein wie vorher. Hinter mir saß ein Jugendlicher, der seinen Kopf zum Rhythmus der Musik wiegte, die aus seinen Kopfhörern drang. Weiter vorn saß eine schlafende Frau und am Ende des Wagons auch zusammengesunken der Trunkenbold, der mich beim Einsteigen angerempelt und auch noch wortreich beschimpft hatte und nun langsam wieder nüchtern wurde. Ich warf einen Blick auf die Anzeige, um ganz sicher zu sein. Das Datum war gleich geblieben. Ich würde in wenigen Minuten meine Station erreichen. Als der Zug hielt, sprang ich auf, schob den Schaffner beiseite, ignorierte sein empörtes Rufen, schnellte auf den Bahnsteig und warf einen letzten Blick zurück. Mir fiel erst jetzt auf, dass die Augen des Schaffners etwas weiter als normal auseinander standen, ja sogar sehr weit hervortraten, fast konnte man meinen, er habe Glubschaugen. Ich wusste nicht, was der Blick bedeuten sollte, den er mir zuwarf, aber er war mir Ansporn genug schnell davonzulaufen. Verschwitzt und völlig außer Atem erreichte ich meine Wohnung, wo ich mit letzter Kraft die Tür ins Schloss warf, sie verriegelte und den Küchentisch davor zerrte. Anschließend verbarrikadierte ich mich im Schlafzimmer, wo ich, in einer Ecke zusammengekauert, auf den Morgen wartete.
Seit jenen Ereignissen sind vier Wochen vergangen und ich habe noch niemandem etwas davon erzählt. Nachts liege ich, aus Angst vor bösen Träumen, wach in meinem Bett, und verschlafe dafür den Großteil des Tages. Aber es ist nutzlos. In meinen Träumen begegne ich wieder und wieder dem Hohepriester, der mir Nacht für Nacht Geheimnisse offenbart, die den menschlichen Verstand aus den Angeln heben und zerschmettern. Ich kenne das Geheimnis des unterirdischen Tempels und ich weiß auch warum Rungholt, jene verfluchte Stadt, die im Mittelalter vom Meer verschlungen wurde, wirklich unterging. Jeden Abend, wenn die Sonne versinkt, verschließe ich Fenster und Türen, ehe ich, mit einem Küchenmesser bewaffnet, auf dem Sofa hocke und warte, dass die Sonne wieder aufgeht.Vor ein paar Tagen sah ich eine Kröte über die Straße hüpfen. Ich habe sie überfahren …
Ich weiß immer noch nicht, ob das Erlebte wahr ist oder nicht, aber ich weiß, dass sie mich holen werden, denn letzte Nacht hörte ich ihren Gesang unter meinem Fenster: Den Gesang der Kröten.