Positiv denken, redete Simon sich in Gedanken selbst gut zu, immer und immer wieder. Während er mühsam die schweren Augenlider jedes Mal aufs Neue öffnete, wenn sie zu fallen wollten, huschte sein Blick leidend zur Uhr an der Wand. Was Herr Englund seit zwanzig Minuten redete, ging komplett an ihm vorbei und vermischte sich mit gelegentlichem Husten und Rascheln von Papier zu einer einschläfernden Geräuschkulisse. Die erste Stunde am Montag war jedes Mal schlimm genug, warum ausgerechnet Geschichte? Aber er wollte nicht jammern, viele Menschen auf dieser Welt hatten nicht einmal die Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Er sollte dankbar sein. Vielleicht würde er sich ja doch irgendwann mit seinem neu gewonnenen Ruf als Dealer arrangieren und seinen Platz in Englunds Geschichtsunterricht als Schlafmittel anbieten. Worum es gerade überhaupt ging, würde er beim besten Willen niemandem erklären können.
Irgendjemand hatte das Fenster geöffnet. Der kühle Wind ließ Simon kurz frösteln. Zwar war frische Luft in stickigen Räumen grundsätzlich erwünscht, die winterlichen Temperaturen aber unangenehm genug, ihn aus seiner Schläfrigkeit langsam wieder ins Hier und Jetzt zu befördern. Kurz rieb er sich die Augen, blinzelte müde. Bevor er sich wieder ordentlich auf setzte, ließ er aber noch einige Sekunden verstreichen, damit es nicht zu deutlich war, dass er gerade erst versuchte, richtig wach zu werden. In dem Moment, in dem er beschlossen hatte, ab jetzt wirklich aufzupassen, damit er die nächste Klassenarbeit nicht komplett in den Sand setzte, ließ ihn Englunds Stimme zusammenzucken. “Du vielleicht, Simon?”, fragte er und sah ihn auffordernd an. Simon blickte ratlos zurück, offensichtlich nicht besonders unauffällig, denn es war von einigen Tischen ein verhaltenes Lachen zu hören. “Entschuldigen Sie, worum-”, begann er die Frage, die ihn komplett verraten hatte, aber Herr Englund brachte die anderen Schüler mit dem Zeigefinger vor dem Mund zum Schweigen. “Ich fragte, ob jemand von euch weiß, welches Land in Skandinavien einen Adler als Wappentier hat”, wiederholte Herr Englund. Offensichtlich fühlte sich zumindest Vincent dazu berufen, ihm zu helfen. Sein Wortmeldung mit einem fragenden “Norwegen?” erntete weiteres Gelächter. “Nein, das ist ein Löwe”, entgegnete Englund unbeeindruckt. Noch während Simon sich augenrollend überlegte, welcher Aspekt dieses Themas auch nur annähernd relevant für sein weiteres Leben sein sollte, fiel sein Blick hilfesuchend auf Wilhelm. Der wirkte ebenso gelangweilt, die unsichtbaren Fragezeichen auf Simons Stirn beantwortete er mit einem hilflosen Schulterzucken, das darauf schließen ließ, dass er sich damit auch noch nicht beschäftigt hatte.
“Wilhelm?”, Herr Englund hatte offensichtlich ein gutes Gespür für Schüler, die gerade gedanklich nicht am Unterricht teilnahmen. “Möchtest du deinen Klassenkameraden hier nicht unter die Arme greifen?” Kurz herrschte Schweigen. Simon rollte mit den Augen. Entweder war ihr Lehrer heute besonders mies drauf oder Simon besonders genervt, aber er konnte kaum erwarten, dass diese Stunde endlich vorbei sein würde. Wilhelm schien einige Momente zu überlegen, was ihn offensichtlich noch mehr verwirrte. Aber bevor Englund sich ein neues Opfer suchte, erbarmte er sich wohl doch zumindest zu einer Gegenfrage als Opfer. “Ich war mir fast sicher, dass wir selbst einen Adler haben?”, gab er zu Bedenken. Verhaltenes Kichern. “Richtig, danke”, Herr Englund nickte zufrieden. “Bitte was? Das sind auch Löwen!”, beschwerte sich Vincent ohne darauf zu warten, dass er überhaupt aufgerufen wurde. Ob sich der strafende Blick Englunds auf diese Tatsache oder auf den Inhalt bezog, blieb unklar. “Zwei Stück!”, bestand Vincent allerdings auf sein visuelles Gedächtnis. Herr Englund korrigierte, “Vier. Und ein Adler. Da wir die Bedeutung verschiedener Wappentiere in der Heraldik bereits kennen, würde ich nun gern darauf zu sprechen kommen, welche Veränderungen die Symbolik diesbezüglich in den vergangenen Jahrhunderten-”
Simon war kurz davor, einfach wieder abzuschalten und musste sich beherrschen, den Kopf nicht auf den Tisch zu legen, um noch ein wenig Schlaf nachzuholen. Glücklicherweise hatte zumindest die Pausenglocke Erbarmen mit den Schülern und erlöste sie von diesem Trauerspiel aus Verwirrung und Langeweile. “Streber”, meinte Simon grinsend und streckte Wilhelm die Zungenspitze entgegen, als dieser beim Rausgehen erwartungsvoll neben ihm stehen blieb. Wilhelm zuckte lachend mit den Schultern, “Gern geschehen? Für irgendwas muss ich ja gut sein. Du bist auch bei Sport mit dabei, oder? Also beeil dich.” Mit einem Mal gar nicht mehr so müde warf Simon seine Schulsachen achtlos in den Rucksack und folgte Wilhelm schon um einiges motivierter nach draußen. “Aber ernsthaft? Vier Löwen und einen Adler, wer denkt sich sowas aus?”, regte er sich spielerisch auf, als wäre er besonders leidenschaftlich interessiert an diesem äußerst wichtigen Thema. Wilhelm stöhnte genervt, aber sein Grinsen verriet, dass es zumindest Simon gestattet war, ihn aufzuziehen. “Irgendwas müssen die Löwen ja auch fressen, wenn sie Hunger haben? Kein Ahnung, frag doch mich nicht!”, seine Worte gingen in einem verlegenen Lachen unter. Simon schmunzelte zufrieden, als er bemerkte, wie sich Wilhelms Wangen rötlich verfärbten. Das nahm er mal als seinen persönlichen Verdienst, nicht dem sinnlosen Thema verschuldet. “Aber jetzt wo du es sagst”, Wilhelm sah aus, als wolle er Simon den Triumph nicht gönnen, sondern die Herausforderung annehmen, den anderen in Verlegenheit zu bringen. “Wenn ich mich recht erinnere- Ich glaube der Adler ist sogar meiner?” Simon lachte. “Ja klar, sonst noch was?”, er boxte Wilhelm spielerisch gegen die Schulter. “Du bist der Adler. Ziemlich schräger Vogel, wenn du mich fragst. Aber ich will mal nicht so sein, also wenn du dich traust, nach der Schule noch mit zu mir zu kommen, dann bin ich der fünfte Löwe und fress dich auf!”