Nikolai saß in der Küche vor dem alten Samowar, den sein Großvater immer so geliebt hatte. Die rote Emaille war einst mit verschlungenen Goldornamenten aufwändig verziert worden. Doch waren diese schon vor Jahrzehnten abgeplatzt und hatten das Metall des Untergrunds freigelegt.
Er sah nicht mehr schön aus. Nur noch dreckig und grau.
Nikolai atmete leise aus und sah in den fallenden Schnee hinter der leicht beschlagenen Fensterscheibe.
Damals, vor einem Jahr... da hatte es auch fürchterlich geschneit.
Das durchdringende Schrillen des Türsummers ließ ihn abrupt aus seinen Gedanken hochschrecken.
In der düsteren Erwartung, bestenfalls dem Paketboten und schlechtestenfalls irgendeinem Vertreter gegenüberzustehen, riss Nikolai die Tür auf.
Er hatte das Gefühl zu versteinern als er erkannte, wer ihn da von der anderen Seite des Türrahmens her anblickte.
„Hallo Nikolai“, begrüßte ihn die vertraute Stimme.
„Viktor...“, hörte sich Nikolai sagen und konnte im ersten Moment nicht verarbeiten, ihn wirklich vor sich stehen zu sehen.
Er kam ihm vor wie eine Erscheinung.
Aber dort stand er. Groß und schlank. In den schweren, schwarzen Wollmantel gehüllt, das Kinn versteckt hinter einem dunkelroten Grobstrickschal. In seinen hellblonden Locken schmolz langsam der Schnee.
Viktor rührte sich, sein Mund verzog sich zu einem angedeuteten Lächeln.
„Meine Mutter schickt mich, um dir etwas vorbeizubringen.“
Wie zur Bestätigung seiner Worte, hielt er einen kleinen Korb hoch.
„Heute ist doch der — “
„Ich weiß, was heute für ein Tag ist“, erwiderte Nikolai schroff und öffnete die Tür zur Gänze.
„Möchtest du nicht reinkommen?“, fügte er etwas leiser hinzu und bedeutete Viktor mit einem kurzen Kopfrucken, ihm ins Innere der kleinen Wohnung zu folgen. Viktor nickte knapp, ehe er sich den dicken Schal vom Mund zog. Mit von Gewohnheit zeugenden Griffen, hing Viktor Schal und Mantel auf und zog sich die schweren Stiefel von den Füßen. Es musste ihm niemand sagen, wo die Sachen hingehörten.
„Setz dich, ich mache Tee“, rief Nikolai aus der Küche und machte sich daran, Wasser in den Samowar zu füllen und in den Schränken nach Tee zu suchen. Seine Hände zitterten bei diesen profanen Tätigkeiten.
Was machte Viktor hier?
Sollte er nicht irgendwo in St. Petersburg sein und studieren?
Weit, weit weg von ihm?
„Kann ich dir helfen?“
Die weiche Stimme hinter seinem Rücken fuhr Nikolai durch Mark und Bein. Beinah wäre ihm die Teedose aus den Händen auf den Boden gefallen, hätte Viktor sie nicht just zur rechten Zeit aufgefangen.
„Noch immer so ungeschickt wie früher“, lächelte er und drückte Nikolai die Dose zurück in die bebenden Hände. Mit einem neugierigen Blick sah er herüber zu dem leise vor sich hin fauchenden Samowar.
„Das ist noch derselbe wie damals, oder?“
Seine Stimme klang seltsam belegt. Nikolai nickte schwach und machte sich daran, Tee in die Kanne zu füllen. Ohne es zu wollen, fluteten die Erinnerungen an seine Kindheit wie eine mannshohe Welle in seinen Geist.
Er und Viktor… nein… damals noch Vitya.
Wie sie mit von der Kälte feuerroten Nasen in die Wohnung seines Großvaters platzten und er ihnen zum Aufwärmen zwei dampfende Tassen Früchtetee und Watruschki vor die Nase stellte. Vitya, der immer viel mehr aß als er, obwohl er so viel dünner war. Vitya, wie er die dicke, rote Katze seines Großvaters auf seinem Schoß streichelte und selbst halb dabei einschlief, während Großvater ihnen die düstersten Märchen vorlaß.
Piroschki, schoss es Nikolai durch den Kopf und er unterdrückte die Tränen bei der Erinnerung an die dicke Katze. So, wie sein Großvater, war auch Piroschki nicht mehr. Und Vitya… Vitya war zu Viktor geworden.
An jenem Tag.
Viktor räusperte sich hörbar und zog vorsichtig das karierte Geschirrtuch vom Körbchen.
Nikolai musste noch nicht einmal hinsehen, um zu wissen, was es war.
Mit knackenden Knien ließ sich sein ungebetener Gast auf den klapprigen Küchenstuhl sinken, stützte sein Kinn auf seine Faust auf und sah versonnen hinaus in den Schnee.
Nikolai tat es ihm wenig später mit zwei Teegläsern bewaffnet gleich, setzte sich ihm gegenüber an den alten Resopaltisch und griff nach einer der Watruschki.
Der bekannte Geschmack erfüllte sofort seinen Mund, als er hineinbiss. Aber es kam einfach nicht an den Geschmack seiner Kindheit heran.
Nikolai schluckte den Bissen schwerfällig hinunter und seufzte.
„Was machst du hier?“, fragte er tonlos und starrte in sein dampfendes Glas.
Viktor blinzelte, wandte den Blick aber nicht von der Aussicht ab.
„Meine Mutter besuchen“, entgegnete er nach einer Weile und endlich riss er sich von der Scheibe los. Mit geschürzten Lippen nahm er vorsichtig einen Schluck Tee. Er lächelte als er das Glas wieder absetzte.
„Schmeckt noch genauso wie damals.“
Nikolai nickte und biss sich auf die Unterlippe.
Warum zur Hölle quälte er ihn so?
Ein Jahr war es nun her.
Vor einem Jahr hatten sie sich zuletzt gesehen. Nach der Beerdigung seines Großvaters. Und es war der Tag gewesen, an dem Vitya und er abends…
„Wie geht es dir so in St. Petersburg?“
Nikolais Stimme klang brüchig.
Ja, wie ging es ihm in der großen Stadt, in die er vor ihm geflüchtet war?
„Alles bestens. Und bei dir?“
„Kann nicht klagen“, entgegnete Nikolai und wusste im selben Augenblick, da er die Worte laut aussprach, dass sie eine sehr schlecht verschleierte Lüge waren.
Viktor trank mit einem großen Schluck das Glas leer. Es musste ihm fürchterlich den Mund und die Zunge verbrennen, so heiß war der Tee noch. Er lächelte gequält und stand auf.
„Danke für den Tee. Ich muss dann auch wieder.“
Nikolai nickte und schob sein nicht angerührtes Glas beiseite.
Ebenso schob er die Erinnerungen an die Nacht vor einem Jahr beiseite. Dieser eine dumme Fehler, der ihre Freundschaft zerstört hatte.
Das, was sie einmal hatten, würde nie wiederkommen.
Ebenso wenig, wie sein Großvater. Oder Piroschki.... oder Vitya.
„Ich bringe dich noch zur Tür“, entgegnete er matt und schob den Stuhl zurück. Schweigend sah er dabei zu, wie Viktor sich die noch nicht einmal erkalteten Stiefel wieder anzog.
„Also dann…“
Hilflos zog Viktor die Achseln hoch.
Nikolai drückte den Rücken durch und sah ihm das erste Mal seit einem Jahr in die grauen Augen. Er nickte ihm zum Abschied zu, als Viktor schon dabei war, aus der Tür zu treten.
„Vitya.“
Viktor blieb wie angewurzelt stehen. Stockend wandte er sich noch einmal zu ihm um. Auch er nickte ihm kurz zu und zog die Nase hoch.
Er blinzelte einmal zu viel.
„Kolya.“
*
Слово не воробей, вылетит – не поймаешь.
Das gesprochene Wort ist kein Spatz. - Einmal entflogen, wirst du es nie wieder einfangen.