„Liebst du?“
Die Frage des Mannes kommt unverhofft, erwischt mich völlig unvorbereitet. Mit großen Augen sehe ich ihn an. Woher weiß er? Dasselbe hatte sie mich auch gefragt.
Wenn ich die Augen schließe, höre ich noch ihre Stimme, fühle ihre weiche Haut, schmecke ihre bittersüßen Küsse. Sie, die schönste Frau der Welt.
Das einzige Wesen, das mir je gehört hat.
Ich lag in meinem Himmelbett, Arme und Beine von mir gestreckt, über mir der sternenbehangene Himmel. Der Mond schob sich als helle runde Scheibe langsam in mein Blickfeld. Ein unheilverkündender rostbrauner Hof umgab ihn. Es war still, ich hörte jeden meiner Atemzüge. Doch ich war nicht allein.
Deutlich vernahm ich leise Schritte im Dunkel des Raumes und das Klicken des CD-Players. Dann schwebte eine tragende Melodie durch die Luft. Erst lange, dunkle Töne, dann kürzere, hellere Klänge. In weiter Ferne hörte ich das dumpfe Brummen eines Basstones. Spürte, wie er durch das Zimmer rollte, an mein Bett stieß und von den Zehenspitzen her meinen Körper hinaufzog. Ich schloss die Augen und genoss das rauschende Meer der Musik. Das Wasser brach an meinem Bett wie an einer Kaimauer und umspülte mich. Ich spürte den feinen Sand unter meiner Haut, die salzige, schwere Abendluft der See in meinem Haar. Ich atmete tief ein und aus, sog alles in mir auf. Ein und aus.
Plötzlich ein Grollen, laut und bedrohlich. Die Wellen gewannen an Energie, wurden höher und ihre Abstände kürzer. Etwas Großes kündigte sich an. Eine Woge bis unter die Decke türmte sich vor mir auf, rollte unaufhaltsam näher. Mit lautem Donnern brach sie an den Holzfüßen meiner Schlafstätte und hatte doch Kraft genug, mich umzuwerfen, mich unter sich zu begraben. Ein leichtes Beben erfasste meine Zehen, dann meine Beine. Meine Finger begannen zu kribbeln. Gischt vernebelte mir die Sicht. Ich konnte kaum atmen. Die geballte Kraft der Woge fuhr durch mein Herz, ließ es im Takt der Musik erzittern. Für einen Moment glaubte ich, sterben zu müssen, dann war die dumpfe Welle über mich hinweg gerollt.
Erleichtert atmete ich durch und setzte mich auf. Ich strich das Wasser aus meinen Haaren und wagte einen Blick auf die Brandung zu meinen Füßen. Immer mehr Flutberge türmten sich auf, jagten einander in gleichmäßigen Intervallen. Wieder rollte eines dieser Ungetüme auf mich zu, doch dieses Mal war ich vorbereitet. Ich wartete, bis die Welle über mir brach, schloss die Augen, hielt die Luft an, ließ das Wasser auf mich niederprasseln und genoss das Prickeln, das es auf meiner Haut hervorrief.
Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich etwas. Ein heller Schatten in der Düsternis, eine Silhouette im tosenden Meer. Langsam kam sie näher, schien durch das Wasser zu gleiten, auf ihm zu schweben. Rhythmisch bewegte sie ihre Hüften, tanzte für mich. Scheinbar mühelos bezwang sie die tobenden Wellen, spielte mit ihnen. Energisch warf sie den Kopf hin und her. Ihre langen Haare schleuderten mir harte Tropfen ins Gesicht. Ihre Hände glitten an ihren Seiten herab, lockten mich. Noch ein, zwei beschwingte Schritte, dann beruhigte sich das Wasser vorerst. Der Schemen stand nun genau vor mir, beugte sich weit herunter und ich sah in strahlende Augen, deren Smaragdgrün im Dunkeln zu leuchten schien.
Ich hatte gewusst, dass sie kommen würde.
Manche Leute behaupten, ich wisse nicht, was Liebe ist. Einige von ihnen langjährige, gute Freunde. Und sicher haben sie Recht. Ich wäre ein Narr, dies zu leugnen.
Nicht dass wir uns falsch verstehen, ich bin ein netter Kerl Mitte zwanzig, gutaussehend, mit solider Allgemeinbildung und ausgezeichneten sozialen Kompetenzen. Ich liebe meine Eltern und Geschwister, wie ein Sohn und Bruder es nur kann. Mein Freundeskreis ist großzügig bemessen und über Ecken kenne ich beinahe die ganze Stadt. Es gibt fast keine Bar und keinen Club, die meinen Besuch nicht zu schätzen wissen. Kein Mädchen, das sich meinem Charme entziehen kann.
Alles in meinem Leben schien perfekt und dennoch wachte ich bis vor wenigen Tagen noch jeden Morgen neben einer anderen Frau auf. Ich wusste schon immer, wie ich auf sie wirkte: anziehend! Hatte ich mir erst einmal ein „Opfer“ auserkoren, war es ihm fast unmöglich, mir nicht zu erliegen.
Doch in jener Nacht war ich das Opfer und sie die Spinne.
Sie stieg aus der brandenden Bucht empor und ihr Anblick verschlug mir den Atem. Sie war schön, wunderschön. Ihre wohlgerundeten Beine schimmerten im einfallenden Mondlicht. Ihre Arme bewegten sich im Takt der Musik wie zwei anmutige Schlangen. Ihr kirschrotes Haar fiel in wallenden Locken auf ihr Dekolleté.
Ich richtete mich weiter auf und rutschte ein Stück nach vorn. Ihr Becken kreiste jetzt genau auf meiner Augenhöhe. Ich schmeckte die Süße ihrer Haut und die salzigen Rinnsale Meerwasser, als ich sie auf die Taille küsste. Doch sie stieß mich von sich, zog sich zurück. Enttäuscht seufzte ich. Immer noch tanzend ließ sie den sie umgebenden Schleier des Wassernebels, ihr silbernes Nachtkleid glänzender Spinnfäden, fallen. Wie eine Lache frischer Morgentau blieb er am Boden liegen und warf das Licht der Sterne in fließenden Formen auf die unbekannte Schönheit.
Sie war nicht nur unglaublich sinnlich, sie war der fleischgewordene Traum meiner wildesten Fantasien. Ihre schlanke Statur, ihr weiches Gesicht, diese anmutige Art, sich zu bewegen, ihr süßlicher Duft, diese betörenden Augen … Ich schloss die Lider und atmete einmal tief durch, dann öffnete ich sie wieder. Ich träumte nicht, sie war wirklich real. Langsam kam sie wieder näher, stieg ans Ufer und schlich wie eine Raubkatze über das Laken auf mich zu. Ihre Schulterblätter bewegten sich geschmeidig auf und ab. Ihre langen, schmalen Finger griffen nach mir, packten meinen Knöchel und zogen mich mit festem Griff unter sie. Ich spürte die Hitze ihres Körpers und feine Wassertropfen fielen auf meine Haut. Ihre tiefgrünen Augen blickten mich voller Verlangen an und behände fuhr sie die Knopfleiste meines Hemdes hinab.
Ich hielt die Luft an, als ihre weiche Hand meine Bauchdecke berührte, war überrascht von der plötzlichen Wärme. Fast fühlte es sich an, als schiene mir mitten in der Nacht die Sonne auf den Bauch. Langsam strich sie mit den Fingerspitzen meine rechte Seite hinab, mein Bein entlang und auf der Innenseite zurück. Hitze durchflutete meinen Körper wie vormals die Wogen des Meeres. Immer noch starrte ich sie nur gebannt an. Atmete nicht, blinzelte nicht, bewegte mich nicht. Sie spielte mit mir. Ich wusste es, denn ich kannte das Spiel. Und ich spielte mit.
Leise stöhnend legte ich den Kopf in den Nacken und hoffte auf die Berührung ihrer verlockenden Lippen. Mein Wunsch wurde erfüllt. Sie küsste mich. Erst auf das Schlüsselbein, dann in die Drosselgrube, schließlich auf den Mund. Ich umfasste sie mit beiden Armen und drückte ihren Körper sacht an den meinen. Ihre Hand ruhte zwischen meinen Beinen, streichelte die Innenseite meiner Schenkel. Im Wiegentakt des Meeres schossen kleine Wellen heißen Blutes in meine Lenden und versteiften sie spürbar. Ich hörte ihren Atem lauter werden, schob mein linkes Bein zwischen die ihren und stellte es auf, sodass es sanft gegen ihren Schoß drückte. Wieder ein lustvolles Stöhnen, dieses Mal aus ihrem Mund.
Sie presste ihr Becken kurz gegen meines, dann bewegte sie sich erneut im Rhythmus des Wassers. Sie setzte sich auf mich, schloss die Augen und ließ spielerisch die Hüften kreisen. Ich spürte meine Lederhose enger werden, während ihre Hände langsam nach unten wanderten.
Nicht mehr lange, dann hatte der Jäger seine Beute erlegt.
„Liebst du?“
Noch heute denke ich oft über diese Frage nach. Und je länger ich dies tue, desto unsinniger erscheint sie mir. Anfangs habe ich noch versucht, mir einzureden, das kleine Wörtchen „mich“ überhört zu haben. Doch mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es dieses Wörtchen nie gegeben hat.
„Heute Nacht nur dich“, flüsterte ich ihr damals ins Ohr und knabberte daran.
Sie lachte. Das glockenhelle Lachen eines jungen Mädchens älter als die Welt und erst jetzt fällt mir auf, wie traurig es klang.
Ich träume noch oft von ihr. Von jenen Stunden, die ich ohne Sicherung und Netz im freien Fall auf den Abgrund völliger Ekstase zugerast bin. Oft wache ich schweißgebadet, manchmal gar schreiend auf. Die Laken zerwühlt, die Lenden gut durchblutet, das Gesicht tränennass und immer frage ich mich, warum ich an jenem Morgen gegangen bin.
Ich weiß nicht, ob es meine Schuld war. Nüchtern betrachtet vermutlich schon. Dennoch bezweifle ich, dass ich es hätte verhindern können, selbst wenn ich bei ihr geblieben wäre. Aber was spielt das noch für eine Rolle? Mit jeder Nacht, die sie mich in meinen Träumen heimsucht, komme ich der Antwort auf ihre Frage auf unheimliche Weise näher. Ich weiß nicht, ob sie ein Segen oder ein Fluch war, doch ich weiß, dass ich sie wohl zeit meines Lebens nie mehr vergessen werde.
Ganz so, wie sie prophezeit hatte.
Einer ihrer Fingernägel brach, als sie den Verschluss meiner Hose öffnete. Ich spürte es deutlich an dem Kratzen, sobald ihre Hand wieder nach oben strich. Es fühlte sich sonderbar gut an. Sie musste meine Anspannung bemerkt und mein leises Keuchen vernommen haben, denn sie hielt kurz inne. Dann umkreiste sie mit dem abgebrochenen Nagel meine Brustwarzen. Sofort schoss eine neuerliche Woge Blut meinen Körper hinab und meine Erektion drückte schmerzhaft gegen die Enge des Leders.
Lächelnd beugte sie sich über mich, hauchte mir einen warmen Kuss auf die zitternden Lippen und während sich unsere Zungen im Spiel umgarnten, befreiten ihre Hände meine Lenden aus ihrem Gefängnis. Ihr Kuss intensivierte sich und sie ließ ihr Becken jetzt schneller kreisen, erhöhte den Druck. Ich spürte die kräftige Muskulatur ihrer Oberschenkel, fühlte die Zartheit ihrer Haut, die nicht nur samtig aussah, sondern sich auch so anfühlte. Verzückt strich ich über ihre Beine, den festen Bauch und ihre sinnlichen Brüste. Nirgends konnte ich auch nur eine Stelle ertasten, die nicht seidig glatt und schmiegsam war. Ein Wesen, nicht von dieser Welt.
Ihr Busen schimmerte im Mondlicht und wippte rhythmisch auf und ab. Ihre Hände fuhren mal sanft streichelnd, mal sacht kratzend über meinen Körper und ich genoss die entstehende Gänsehaut. Es fühlte sich an wie ein angenehm kribbelnder Teppich, der sich weich und gleichmäßig auf meinem Rücken ausbreitete. Als wären im Wasser Millionen kleiner Brauseperlen, die unter mir zerplatzten. Ein Gefühl purer Lust und Erregung, welches die Sinne so ungemein schärfte, dass ich meinte, jede ihrer Berührungen anhand von geringsten Luftzügen vorhersehen zu können.
Ihre Lippen spielten mit meinen Ohrläppchen, dann mit meinen Brustwarzen. Ausgiebig umkreisten sie meinen empfindlichen Bauchnabel, um mir ein weiteres Keuchen zu entlocken. Gleichzeitig wurde meine Erektion von ihren warmen Brüsten umschlossen. Unwillkürlich bäumte ich mich auf, schob ihren Kopf mit leichtem Druck etwas tiefer und ließ mein Becken ebenfalls im Takt der Wellen kreisen. Mit ihren Zähnen zog sie den Bund meiner Shorts herunter, bahnte sich ihren Weg zum Zentrum meiner Lust. Ein kurzer, heftiger Stoß durchfuhr meinen Leib, als sie es mit der Zungenspitze berührte und ein inbrünstiges Stöhnen entrang sich meiner Kehle.
Für einen winzigen Moment kam mir in den Sinn, dass alles verkehrt herum lief. Dass ihre Position gewöhnlich die meine war. Dann schob sie mir die Shorts über die Hüften und der Gedanke erstarb, als ihre roten Locken gänzlich in meinem Schoß verschwanden.
Hemmungslos ließ ich meinen lustvollen Geräuschen freien Lauf, was sie veranlasste ihr Lippenbekenntnis weiter zu intensivieren. Dann hob sie den Kopf, schaute zu mir auf und ihre Hände führten das Spiel fort. Sie sah mich an, sah mir direkt ins Gesicht, labte sich an meiner Reaktion und steuerte mich mit fester Hand unausweichlich auf den Höhepunkt zu.
Ich wusste es genau, denn es war mein Spiel, das sie spielte.
Ich bin das, was andere gern als Herzensbrecher bezeichnen. War es bis zu jener Nacht. Allerdings nur bei oberflächlicher Betrachtung. Denn im Gegensatz zu Vorgenannten gab ich niemals vor, etwas zu sein, was ich nicht war. Ich machte keine Versprechungen, die ich nicht halten konnte, und sagte nichts, was ich nicht meinte. Ich brüstete mich nie mit meinen Taten, führte keine Aufzeichnungen, versprach keiner Frau die große Liebe und traf sie nie ein zweites Mal.
Alles, was ich ihnen anbot, war für eine Nacht die Erfüllung all ihrer Träume. Ich las ihnen jeden Wunsch von den Augen ab, trug sie auf Händen, bewunderte und umschmeichelte sie, wie ein Mann es nur konnte. Jedes noch so kleine erotische Geheimnis, jeden noch so peinlich-verschwiegenen Traum entlockte und erfüllte ich ihnen. Sie vergaßen alle Zwänge, alle Regeln, alle Scham. In dieser einen Nacht, diesen vagen Stunden zwischen Sonnenunter- und -aufgang, waren sie meine Königin. Und obgleich ich sie noch vor dem Morgengrauen verließ, so hoffte ich doch, ihre Körper und Seelen mit soviel Freiheit, Lust und Glück erfüllt zu haben, dass sie es nie mehr vergessen würden.
Ich weiß, wie sich das anhören muss. Als versuche ein Blinder einen Sehenden die Vielfalt der Farben zu lehren oder ein Tauber über die Schönheit der Musik Mozarts zu referieren. Und zugegeben, es hatte schon etwas Tragikomisches. Nacht für Nacht öffnete ich all diesen Frauen ein Tor, das mir selbst doch stets verschlossen blieb. All die Liebe, die ich niemals gekannt hatte, schenkte ich Nacht für Nacht einer Anderen. Und wenngleich ich selbst nie die gesuchte Erfüllung fand, war es doch wie eine Sucht. Eine Reise auf stürmischer See ohne rettendes Ufer, eine ewig währende Suche ohne Erfolg.
Erst viel zu spät begreife ich nun, dass mir eben jenes Glück, welches ich Anderen so unzählige Male geschenkt hatte und doch nie für mich hatte halten können, in jener Vollmondnacht selbst beschieden gewesen war. Und im Gegensatz zu all meinen „Opfern“ war mir die Möglichkeit gegeben, aus dieser kurzen Nacht ein ganzes Leben erfüllt von Liebe zu machen. Ich hätte nur die Hände ausstrecken müssen, hätte sie einfach festhalten müssen.
Nur eine richtige Antwort.
Sie murmelte etwas, doch ich verstand ihre Worte nicht. Der Druck ihres Beckens wuchs stetig, ebenso der ihrer Finger, die sie fest um meine Erektion geschlossen hatte. Ich massierte ihre Brüste, streichelte ihren Schoß und mit einem Mal war ich in ihr. Sie war warm, unglaublich warm. Stöhnend warf sie ihre schweren Locken zurück. Ich wollte sie stützen, wollte mich aufrichten, doch sie hielt mich unten. Mit einem Lächeln, das mir sämtliche Gegenwehr raubte, legte sie meine Arme auf ihre Oberschenkel, sodass ich ihre Hüften locker umfassen konnte, und begann wieder mit diesem betörenden Kreisen, das mich noch in den Wahnsinn trieb.
Ab und an beugte sie sich herunter, nahm mir heiße Küsse ab und entschwand dann wieder in Höhen, in die ich ihr nicht folgen durfte. In schnellem Tempo glitten ihre Hände an mir hoch und runter, immer wieder hoch und runter, und spannen mich in ein Netz unsichtbarer Fäden ein. Eine meiner Hände webte sie am hölzernen Kopfende des Bettes fest, die andere klebte an ihrer Taille und es war mir unmöglich, sie zu lösen. Ich war gefangen, doch nicht erst seit jetzt.
Vom ersten Moment an war ich wie verzaubert gewesen und hatte sie ganz bewusst zu mir gelockt. Nun sah ich ihre Spinnfäden und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass es nicht ihre waren, sondern meine eigenen, wie ich sie allnächtlich um meine „Opfer“ spann. Ich war in meine eigene Falle getappt. War gefangen in meinem eigenen Netz und überließ einer fremden Spinne die Kontrolle. Sie dirigierte, sie bestimmte das Tempo und ich folgte willens.
„Wie ist dein Name?“
Ihre Stimme jagte mir heiße Schauer den Rücken hinunter. Wie alles andere an ihr war sie pure Versuchung. Ihr Atem war heiß wie Wüstensand und ihre Hände, die meine Rückseite hinabfuhren, bewirkten den Eindruck, der Meersand sei mit Schmirgelpapier versetzt.
Ich rang um einen klaren Gedanken, suchte nach irgendeinem Namen außer dem meinen. Doch war ich bereits so tief im Strudel der Leidenschaft gefangen, dass ich zu solchen Ausflüchten nicht mehr fähig war. Ihre glänzenden Augen sogen die Worte regelrecht aus meinem Mund.
„Marou“, keuchte ich, als ihre Hände mein Gesäß fest umfassten.
Mein gut gehütetes Geheimnis, es war gelüftet.
Mein wahrer Name, in jener Nacht war er mir zum ersten und einzigen Mal über die Lippen gekommen. Nie zuvor hatte ich ihn preisgegeben. Jedem meiner „Opfer“ bleibe ich unter einem anderen Alias in Erinnerung.
Doch in jener Nacht war sie die Spinne, ich die Fliege. Das Opfer hatte den Jäger zu sich gelockt und die Tür weit offengelassen. Warum, das weiß ich bis heute nicht. Aber ich genoss jede Sekunde, jede Berührung, jeden Kuss. Noch nie hatte ein anderer Mensch mich so sehr um den Verstand gebracht.
In jener Nacht war sie es, die mit mir schlief.
Der Abend war bis dahin wenig erfreulich für mich gelaufen und als ich am „Dark Noir“ ankam, war meine Laune auf dem Tiefpunkt. Doch all mein Frust war vergessen, als ich den Fuß über die Schwelle setzte. Sie saß allein an der Bar und meine Füße trugen mich zu ihr, bevor ich ihnen den Befehl dazu gab. Ich setzte mich neben sie, spendierte einen Cocktail und machte ihr ein ehrliches Kompliment über ihr schwarzes Abendkleid, dessen grüne Stickereien perfekt mit ihrem roten Haar harmonisierten. Sie ignorierte mich.
Mein Jagdinstinkt erwachte. Ich mochte es, wenn sich meine „Beute“ zierte, wenn ich um sie kämpfen musste. Eine blinde Fliege konnte jeder fangen. Eine scharfsinnige Biene zu überlisten, erforderte dagegen einiges an Übung und Charme. Doch an dieser schlichten Schönheit biss ich mir die Zähne aus. Außer ihrem klangvollen Namen, von dem ich nicht einmal wusste, weshalb sie ihn preisgab, erfuhr ich nichts über sie.
Als ich ihren nervösen Blick in Richtung Waschräume bemerkte, dachte ich, den Grund dafür zu kennen, und setzte mich auf die andere Seite der Theke, kurz bevor ein Mann mittleren Alters mit weiß meliertem Haar im Bikeroutfit neben ihr Platz nahm. Intakte Beziehungen zu zerstören, war nie meine Absicht gewesen und ich zog mich stets zurück, wenn sich mein anvisiertes „Opfer“ augenscheinlich in einer solchen befand. An diesem Abend jedoch blieb ich.
Schnell fand ein anderes weibliches Wesen ihren Weg an meine Seite. Sie war durchaus hübsch, charmant und an jedem anderen Abend hätte ich sie sicher nachhause begleitet. Heute jedoch schenkte ich ihr nicht meine volle Aufmerksamkeit, denn immer wieder suchte mein Blick die unbekannte Rothaarige. Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln und bemerkte nicht einmal, wie das andere Mädchen ging.
Es war seltsam. So abweisend und kühl die Fremde sich mir gegenüber erst verhalten hatte, so interessiert und intensiv studierte sie mich jetzt. Unverhohlen sah sie direkt zu mir herüber, ignorierte bisweilen ihren Begleiter und als ich ging und ihr noch einen letzten, verstohlenen Blick zuwarf, umspielte ein eigenartiges Lächeln ihre Lippen. Ich schlug den Mantelkragen hoch und sog die frische Luft tief ein, dann machte ich mich auf den Heimweg. Es war das erste Mal seit Ewigkeiten, dass ich ein Lokal alleine verließ.
Doch ich war mir sicher, dass das nicht so bleiben würde.
Es dauerte nicht lange, bis mich die fiebrige Atmosphäre dieser Nacht an den Rand meiner Kräfte trieb. Mein Herz arbeitete auf Hochtouren und aus jeder Pore meines Körpers strömte diese unsägliche Hitze. Der Boden unter mir vibrierte, die Brandung rauschte und überall brachen Wellen dumpfer Basstöne, während die sphärische Melodie uns schützend umhüllte.
„Kristía“, keuchte ich und rang um meine Besinnung.
Sie beugte sich über mich. Ihr lockiges Haar fiel mir ins Gesicht und erschwerte das Atmen zusätzlich. Sanft strich sie mir die Strähnen weg, sah mich liebevoll an und fuhr das Tempo ihrer kreisenden Hüften ein wenig zurück.
„Gib mich frei, Kristía“, brachte ich mit Mühe hervor. „Bitte, gib mich frei.“
Was dann passierte, ist schwer zu beschreiben. Anfangs habe ich noch geglaubt, meine schleierverhangenen Augen und mein ausgelaugter Verstand hätten mir einen Streich gespielt. Doch mittlerweile bin ich mir sicher, dass alles genauso geschehen ist.
Sie sah mir direkt in die Augen und ihr Blick wandelte sich. Plötzlich wirkte sie so unendlich traurig. Ihre Pupillen flimmerten. Vielleicht vom Widerschein des Mondes, doch heute bin ich sicher, es waren Tränen. Stumm löste sie die klebrigen Fäden um meine Arme und Hände. Ich streckte mich, strich ihr sanft über die geröteten Wangen und da passierte es.
Sobald ich sie berührt hatte, lösten sich viele kleine Schuppen von ihrer Haut. Wie Putz, der von einer alten Mauer bröckelt, fielen sie herab. Erschrocken hielt ich den Atem an. Goldstaub fiel auf mich nieder und ihre wilde Lockenpracht verwandelte sich in einen stürmischen Strudel tanzender Apfelblüten. Das Wasser um uns herum begann, zu schäumen. Seifenblasen stiegen auf, fingen das kalte Mondlicht ein und warfen es in verzerrten Formen zurück. Angst übermannte mich und ich kniff die Augen zusammen.
Ein beißender Schmerz zwang mich, sie wieder zu öffnen, als sie das Netz ihrer Fäden mit dem abgebrochenen Fingernagel entzweiriss. Ich konnte wieder atmen, konnte mich bewegen und sie war genauso wunderschön wie zuvor. Behutsam, fast zögerlich, berührte ich erneut ihre Wange und strich sanft darüber. Nichts. Vorsichtig fuhr ich durch ihr schweres Haar. Nichts. Der Druck ihrer Schenkel wurde wieder größer, ihr Kreisen fordernder. Sie gab mir die Hand und ich war bereit, folgte ihr. Nur noch ein kurzes Stück des Weges, dann waren wir am Ziel.
In rhythmischen Stößen segelten wir gemeinsam durch die stürmische See, flogen immer höher und erklommen einen Felsvorsprung nach dem anderen. Die stöhnenden, kehligen Laute, die aus ihrem Mund kamen, waren so erotisch wie alles andere an ihr. Ich stützte sie, hielt ihr Becken fest umfasst und vergrub meinen Kopf in ihren wallenden Locken. Schweiß und salziges Meerwasser flossen ihr in Strömen über das Gesicht. Wieder hatte ich den Eindruck, sie weine. Ich küsste sie, bedeckte jeden Millimeter Haut mit meinen unbeherrschten Lippen.
Dort, oben auf dem Gipfel sah ich das Tor und Licht, das durch den geöffneten Spalt fiel.
„Liebst du?“
Ich spürte den gewaltigen Druck in meinen Lenden und vernahm ihr Stöhnen kaum. Doch mein Herz tat es. Und es antwortete für mich.
„Ja“, keuchte ich zwischen zwei lustvollen Wogen.
Und das war nicht gelogen. In jener Nacht, in diesem wunderbaren Moment der Erfüllung durchfluteten mich unendliches Glück, tiefe Zufriedenheit und ein Gefühl, dass ich erst am heutigen Tag, viel zu spät, in Worte fassen kann.
Ich meinte, gleich zu explodieren. Mein ganzer Körper brannte. Fast hatte ich das Tor erreicht. Ich streckte die Hand aus und fühlte die Wärme des gleißenden Lichtes. Ich umfasste den Knauf, riss die Tür ganz auf und wurde von einem goldenen Meer überflutet, regelrecht geblendet. Ich hörte ihre süße, liebliche Stimme. Sie rief mich beim Namen.
„Marou …“
Da sah ich das Messer! Den Arm weit in die Höhe gereckt funkelte die Klinge im fahlen Sternenlicht. Tausend silbrige Tränen fielen auf mich nieder wie Tau, der auf den Rasen fällt. Sie weinte. Der Dolch sauste dem Fallbeil einer Guillotine gleich nieder. Ich wollte schreien, doch der Schreck raubte mir die Stimme.
Ich erreichte den Höhepunkt in jenem Moment, da die Klinge tief in meine Brust eindrang. Ich bäumte mich auf. Jede Faser meines Körpers zog sich zusammen. Schmerz, Erregung, Angst und Lust, alles entlud sich mit einem Schlag in völliger Ekstase und eine seltsame Mischung aus Schreien und Stöhnen entrang sich meiner Kehle. In meinem Gehirn starben Millionen Nervenzellen mit einer Explosion.
Dann wurde ich ohnmächtig.
Ich begegne dem Mann gut drei Wochen später. Ich bin müde, am Ende meiner Kräfte und bereit, meinem Leben ein Ende zu setzen. Im frühen Morgengrauen sitze ich auf einer Bank am Flussufer, starre auf die spiegelglatte Oberfläche und frage mich, was für ein Gefühl es wohl ist, wenn das Wasser langsam in die Lungen sickert.
Seit jener Nacht habe ich keinen ruhigen Schlaf mehr. Ihr engelsgleiches Gesicht, ihre rauchige Stimme, ihre zarten Hände … Sie verfolgen mich in meinen Träumen. Seit nunmehr neununddreißig Stunden habe ich aus Angst vor der Erinnerung kein Auge mehr zugetan. Ich komme hierher, um Ruhe zu finden. Vielleicht auch Antworten auf all jene Fragen, die ich nicht zu stellen wage. Auf alle Fälle aber, wird mein Weg heute hier enden.
„Sie war wunderschön, nicht wahr?“
Ich habe ihn nicht kommen sehen, doch nun sitzt er neben mir, der Mann an ihrer Seite in jenem Lokal. Er sieht zerschlagen aus, wirkt aber längst nicht so alt wie an jenem Abend in der Bar. Sein Haar ist keineswegs weiß, nur vereinzelt treten erste graue Strähnen durch den ansonsten kräftig braunen Schopf. In seinen Zügen liegt noch nicht gänzlich vergangene Jugend und auch seine Augen blicken klug und wach drein.
„Nicht so wie die Models und Schönheitsköniginnen in Hochglanzmagazinen. Aber auf ihre eigene Art und Weise war sie wunderschön, meine Tochter.“
Ich nicke nur stumm und frage mich nicht einmal, warum er in der Vergangenheit spricht. Woher auch immer, er scheint zu wissen, dass sie nicht mehr am Leben ist.
„Sie wusste, dass ihre Suche ein Ende hatte, von dem Augenblick an, als sie dich sah.“
Eine einzelne Träne fällt auf seine Knie.
„Ich ließ sie gehen, obwohl ich wusste, dass ich sie nie mehr wiedersehen würde.“
Irritiert sehe ich ihn an und in das Gesicht eines alten Greises. Der Mann scheint binnen der letzten zwei Sätze um Jahre gealtert zu sein. Nichts von seiner Jugendlichkeit ist noch übrig. Tiefe Falten prägen sein Antlitz und die Augen liegen glanzlos in den leicht eingefallenen Höhlen. Das vormals tiefbraune Haar hängt ihm in schlohweißen, fransigen Strähnen wirr herab. Sanft legt er mir die runzelige Hand auf die Schulter und schenkt mir ein väterliches Lächeln.
„Es ist schmerzhaft den Weg unserer Bestimmung zu beschreiten.“
Sein Blick geht über das Wasser Richtung Horizont, der sich langsam Orange färbt und das Erwachen eines neuen Tages verkündet.
„Doch früher oder später folgen wir ihm alle.“
Als ich früh am Morgen erwachte, war alles still. Das Meer war verebbt, der Wind abgeflaut. Ich lag in meinem Bett, die Vögel erwachten und erste Lichtstrahlen kitzelten meine Nasenspitze. Zerwühlte Laken und die schöne Fremde an meiner Seite waren das Einzige, was noch an die fieberhaften Stunden der Nacht erinnerte.
In dem Mondschein am Meer war sie süße Verführung, verruchte Erotik gewesen. Jetzt kuschelte sie sich im Schlaf an mich und ein scheues Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie sah so unschuldig aus, so tugendhaft wie ein gerade der Kindheit entwachsener Engel, der auf seiner Wolke schlummerte. Ein Jammer, sie zu verlassen.
Ich betrachtete sie noch eine Weile. Dann stand ich auf, zog mich an und schlich auf leisen Sohlen zur Tür, um fortzugehen wie bei all den anderen.
„Marou …“
Es war das zweite Mal, dass sie meinen Namen nannte, und wie beim ersten Mal lief es mir heiß-kalt den Rücken hinunter. Sie blinzelte verschlafen durch ihr zerzaustes Haar. Schweigend standen wir uns gegenüber.
„Liebst du?“
Ein trauriges Lächeln begleitete ihre Frage und schnürte mir die Kehle zu. Zieht mir noch jetzt den Boden unter den Füßen weg. Doch so lodernd mein Herz des Nachts auch gebrannt hatte, der Zauber war verflogen, das Feuer erloschen.
„Nein“, antwortete ich ruhig.
Ihr Lächeln aber blieb und das machte mir Angst.
„Ich weiß.“
Sie senkte den Blick, lächelte aber tapfer weiter. Schwere Tränen, silbern wie Einhornblut, fielen auf ihre Haut und verwandelten sich in schillernde Seifenblasen. Sie sammelte sie in ihren hohlen Händen und blies sie mir zu.
„Aber dafür wirst du mich nie vergessen.“
Ich wandte mich ab. Unzählige Seifenblasen umwoben mit Goldstaub flogen an mir vorbei. Ein Lüftchen kam auf und plötzlich stand ich in einem Reigen tanzender Apfelblüten. Ich schlug die Augen nieder, drehte mich langsam wieder um und blickte auf mein leeres Bett. Sie war verschwunden. Nichts war von ihr übrig. Nichts außer einem Häufchen Goldstaub umringt von weißroten Blütenblättern und regenbogenfarbenen Seifenblasen.
Schweigend sitze ich neben dem alten Mann. Seine Worte klingen weise, ergeben aber keinen Sinn. Tausend Fragen schwirren mir durch den Kopf. War all das wirklich geschehen? Wie kann jemand sich in Luft auflösen? Wieso lächelte sie, obwohl sie wusste, dass ich sie verlassen würde? Warum schmerzt meine Brust seit jener Nacht? Weshalb verfolgt sie mich in meinen Träumen? Und wer oder …
„Was war sie?“
Der alte Mann sieht mich an. Milde und Güte prägen sein Antlitz.
„Das weiß du doch. Du kennst die Antwort auf all deine Fragen.“
Ich sehe ihm direkt ins faltige Gesicht. Er spricht in Rätseln.
„Sie ist wie du.“
Die Worte des Alten verlieren sich. Ich verstehe das alles nicht. Prall und rot kriecht die Sonne über das blaue Band des Horizontes. Mein Herz wird schwer. Es scheint, als begreife es die Worte des Mannes. Tränen fallen auf meine Hand, genauso silbern und schwer, wie ihre gewesen waren.
Ich stehe in der Glut der Morgenröte und fühle, wie sich alles zusammenfügt: meine Unfähigkeit, wahrhaft zu lieben, Kristía, der Dolch, den sie mir in die Brust stieß, ihr trauriges, tapferes Lächeln ... Alles ergab plötzlich Sinn. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, was ich erst in diesem Augenblick begreife.
„Liebst du?“
Die Stimme des alten Mannes kommt unverhofft, erwischt mich völlig unvorbereitet. Dreimal hatte sie mir die gleiche Frage gestellt und jedes Mal hatte ich eine andere Antwort gegeben. Doch keine davon war die richtige, das weiß ich nun. Ich habe Angst was geschehen wird, doch der Alte lächelt milde und nickt mir zu. Die Worte, die ich eigentlich ihr hätte sagen sollen, ich kann sie nicht länger zurückhalten. Muss mich der Wahrheit endlich öffnen.
„Ja.“
Ich sehe an mir herunter, meine Hände lösen sich auf. Wie Sand rieselt meine Haut in silbernem Staub langsam herunter. Meine Tränen fallen darauf und bilden tausend kleine Seifenblasen. In meinem Haar hängen Apfelblüten.
„Ja, ich liebe. Und wahre Liebe wird niemals enden.“
© Noia, 06/2007 & 03/2019