~* Hier kommt Türchen Nummer 5 des Adventskalenders. Viel Freude damit. *~
Der Zauber von Weihnachten
„Nur noch zwei Tage und dann ist es geschafft“, seufzt der Weihnachtswichtel und bricht fast unter der Last seines Geschenkestapels zusammen.
„Da sagst du was“, stimmt ihm sein Gegenüber zu und verstaut das letzte Päckchen auf dem Rentierschlitten.
„Irgendwie geht der Zauber von Weihnachten jedes Jahr ein kleines Bisschen mehr verloren.“
Der Wichtel zuckt die Achseln. Er klopft ein letztes Mal auf das Geschenk ganz oben. Es hält. „Das ist nicht unsere Schuld“, sagt er und dreht sich um. „Wir kommen unserer Aufgabe nach. Mehr können wir nicht tun.“
Da steht schon der nächste leere Schlitten, der bis zum Heiligen Abend mit Geschenken gefüllt und startklar gemacht werden muss. Es ist nur ein kleiner Schlitten. Zwei Rentiere sind davor gespannt. Eine kleine Weihnachtselfe hält die Zügel in der Hand, die beiden Weihnachtswichtel beachten sie gar nicht. Jeder macht hier seinen Job. Auf ihrer Stirn hat sich eine lange Furche gebildet und der Zeigefinger liegt auf ihren Lippen. Ein klares Zeichen dafür, dass die Elfe nachdenkt.
„Der Zauber von Weihnachten, was ist das eigentlich?“, fragt sie schüchtern. Aber gerade in diesem Augenblick hat auch der zweite Weihnachtswichtel seinen Stapel mit einem lauten Rums abgeladen.
Die Frage verhallt ungehört. Lediglich eines der Rentiere legt ein Ohr an, schnaubt und schaut die Weihnachtselfe mit großen Augen an.
„Du musst schon lauter sprechen, wenn du eine Antwort von denen willst.“ Er deutet mit dem Kopf in Richtung des Weihnachtswichtels, der gerade zum Förderband zurückkehrt, um eine neue Ladung Geschenke zu holen. Im Hintergrund rumpelt und poltert es. „So kurz vor Weihnachten ist hier die Hölle los.“
„Ich weiß“, sagt die Weihnachtselfe mit zartem Stimmchen. Das Rentier hört sie nur, weil es den Kopf geneigt hat. „Weißt du etwas über den Zauber von Weihnachten?“
Auch das andere Rentier hat sich inzwischen umgedreht. „Es ist der Schnee.“
Sein Kamerad nickt. „Früher war immer weiße Weihnacht. Heutzutage schneit es kaum mehr. Es ist zu warm geworden. Der Zauber fehlt. Nichts, was das Sternenlicht glänzen lässt und die Welt in eine sanfte Decke taucht.“
Nachdenklich führt die Weihnachtselfe den Schlitten fort. Schnee also, die Erklärung leuchtet ihr ein, aber kann das alles sein? Das muss sie genau wissen.
Sie erreichen die Halle im Abfertigungsbereich und kommen neben einem anderen Schlitten zu stehen. Der Wichtel auf dem Kutschbock grüßt nickend.
Die kleine Weihnachtselfe grüßt freundlich zurück. „Sag mal“, fragt sie. „Weißt du, was den Zauber von Weihnachten ausmacht?“
Der andere Elf nickt. „Die Geschenke“, sagt er ohne zu überlegen und zeigt auf den Berg an bunten Päckchen, der sich hoch auf dem Schlitten türmt. Die Warteschlange setzt sich in Bewegung. „Geschenke, je mehr, desto besser. Aber jetzt habe ich keine Zeit mehr. Die Arbeit ruft“, ruft er der kleinen Weihnachtselfe hinterher, weil die Rentiere angetrabt sind. „Wir reden später, wenn Weihnachten vorüber ist.“
Von hinten wird Murren laut. „Sag mal träumst du?! Fahr endlich weiter! Wir wollen alle rechtzeitig zu Weihnachten fortkommen! Mach hinne!“
Die kleine Weihnachtselfe gibt sich einen Ruck. Natürlich, die Geschenke. Was wäre Weihnachten ohne die Geschenke? Die traurigen Kinderaugen möchte sie sich gar nicht vorstellen. Geschenke also auf jeden Fall und am besten Schnee. Das ergibt ein schönes Bild in ihrer Vorstellung, aber ein Gedanke nagt noch an ihr: Kann das wirklich alles sein?
Und dann hat sie es endlich geschafft. Der Wichtel am Abfertigungsschalter drückt ihr einen Adresszettel in die Hand und wünscht ihr eine gute Fahrt. Die Reise zu den Kindern dieser Welt kann beginnen. Der Rentierschlitten schwebt durch die Luft. Die Glöckchen am Kutschbock klingeln leise. Diesen Teil mag die Weihnachtselfe am liebsten. Die klare Luft hilft beim Nachdenken. Unter ihr rauschen die Wälder, Dörfer und Städte vorüber.
Es wäre wirklich um ein Vielfaches zauberhafter, wenn die Landschaft weiß wäre, aber wer weiß, vielleicht schneite es ja noch rechtzeitig.
Bald nähert sie sich ihrem Ziel und lenkt die Rentiere zur Erde hinab. Noch im Sinkflug gerät sie ins Stutzen. Sie macht große Augen, als sie erkennt, wen sie da sieht.
Vor einer verlassenen, halb baufälligen Scheune sitzen zwei Engel. Die Weihnachtselfe schnalzt mit der Zunge und der Schlitten bleibt stehen.
„Seid gegrüßt“, sagt sie zaghaft und bewundert den goldenen Glanz, der die beiden Engel umgibt. Deren goldenes Haar schimmert als wäre es nicht von dieser Welt. Am liebsten würde sich die kleine Weihnachtselfe ganz dicht in die weichen Flügel kuscheln und den Stimmen der beiden lauschen. Aber das kann sie natürlich nicht tun. Abgesehen davon, dass es sich nicht gehört, würde sie sich das auch gar nicht trauen.
„Frohe Weihnachten“, grüßen die Engel zurück und lächeln milde. Auch ihre Stimmen sind nicht von dieser Welt. Verzückt schüttelt die Elfe den Kopf.
Das ist ihre Chance. „Wisst ihr, was der Zauber von Weihnachten ist?“, fragt sie. Wenn das solch himmlische Wesen nicht wissen, wer dann.
Eine Weile sind die Engel still. Sie sitzen da und lauschen. Die Weihnachtselfe überlegt, ob sie ihre Frage nicht gehört haben. Soll sie sie noch einmal stellen. Es ist ihr fast ein wenig peinlich. Es gibt nur noch so wenige Engel und gerade an Weihnachten haben sie so viel zu tun. Doch dann hört sie es auch. Der Wind trägt eine leise Melodie zu ihnen herüber. Sanfte, harmonische Töne. Jemand spielt Orgel. Und dazu wird gesungen. Die kleine Elfe schließt die Augen.
Als der letzte Ton verstummt, antwortet ihr einer der Engel. „Die Lieder sind der Zauber von Weihnachten. Hast du es nicht gehört?“
Die kleine Weihnachtselfe nickt.
„Musik ist die Sprache, die jeder versteht. Sie erreicht alle. Das ist der Zauber von Weihnachten.“
Das versteht auch die kleine Elfe.
Da schüttelt der zweite Engel langsam den Kopf und erhebt sich. „Aber nein, da liegst du falsch. Es sind die Lichter. Siehst du es nicht?“ Der Engel schwebt zu einem erleuchteten Kirchenfenster und schaut hinein. „Der Lichterglanz, dessen Schein die Dunkelheit wie Hoffnung erhellt und alle Traurigkeit vertreibt.“
Darüber muss die Weihnachtselfe nachdenken.
Auch der erste Engel erhebt sich und lässt sich auf dem Sims vor dem Kirchenfenster nieder. In diesem Moment setzt die Orgelmusik wieder ein. Dieses Mal wird sie von Trompeten und Posaunen begleitet. Die Instrumente spielen eine erhabene Melodie. Dann beginnen die Leute zu singen. Die Musik ergreift die kleine Elfe. Aber auch die Kerzen am Weihnachtsbaum flackern so herrlich. Die ganze Kirche ist in ihren Schein getaucht und das, obwohl die übrige Beleuchtung gedimmt ist. Alles wirkt schön und friedlich.
„Es ist die Musik, die die Herzen erhellt“, flüstert der erste Engel leise und schließt die Augen.
Auch der zweite Engel schließt die Augen. „Selbst jetzt erreicht mich der Lichterglanz noch“, sagt er stur. „Es ist das Licht, dass die Herzen erhellt.“
„Du verstehst nichts von Musik“, entgegnet der erste Engel.
„Siehst du“, erwidert der andere. „Gerade hast du noch gesagt, Musik sei die Sprache, die jeder versteht. Ist sie nicht! Es ist das Licht!“
„Nein, ich sehe es nicht! Man muss es hören. Spüren! Hier drinnen.“ Er legt eine Hand auf seine Brust.
„Ich spüre nichts. Ich sehe es!“ Der zweite Engel legt die Finger auf die Schläfen.
Traurig trottet die kleine Weihnachtselfe zu ihrem beladenen Rentierschlitten zurück. Noch immer kann sie hören, wie die Engel miteinander streiten. Sie werden lauter und lauter.
„Es sind die Lieder!“
„Nein! Die Lichter!“
Sie schreien und streiten. Ihre schönen Stimmen klingen nun gar nicht mehr angenehm. Ein letztes Mal schaut die kleine Elfe zurück. Die Gesichter der Engel sind zu Grimassen verzerrt. Sie schüttelt den Kopf. Nein, auch Engel scheinen nicht allwissend zu sein.
Zeit, die Geschenke abzuliefern. Vielleicht hatte ihr Wichtelkollege doch Recht und es sind die Geschenke. Da möchte sie keine Verzögerung riskieren. Zumindest die Kinder werden sehr glücklich sein. Und ein Weihnachtsfest ohne Gaben ist kein richtiges Fest. Etwas würde fehlen.
Endlich hat sie die richtige Straße gefunden. Hier wohnen viele Familien mit Kindern. Das erkennt die Elfe an den Schaukeln und Spielhäuschen im Garten. Sie überprüft zweimal, ob sie die richtigen Päckchen an der richtigen Adresse ablädt und hakt alles gewissenhaft ab. Zum Glück geht alles glatt. Es bleibt kein Geschenk übrig und keines fehlt. Erleichtert macht sich die kleine Elfe auf den Heimweg. Es ist bereits dunkel und die Sterne funkeln am Himmel. Irgendwie kann sie den Engel mit dem Licht verstehen. Es ist wunderschön. Es gibt nichts Reineres als Sternenlicht. Aber Sterne gibt es das ganze Jahr über, nicht nur an Weihnachten. Nur einen Schweifstern hat sie in all den Jahren noch nicht gesehen. Schade. Sie seufzt.
Es war ein langer Tag und auch die Rentiere sind müde. Der kleinen Weihnachtselfe geht so vieles durch den Kopf. Es wird Zeit, sich auszuruhen nach den Strapazen der diesjährigen Weihnachtszeit und über all das nachzudenken, was sie erfahren hat. Dem Zauber der Weihnachstzeit nachzusinnen, der Bedeutung von Schnee und Geschenken. Von Liedern und Lichtern. Vielleicht kommt sie selbst auf die richtige Antwort, wenn sie endlich Ruhe hat. Der Rückflug kommt der kleinen Elfe schnell vor.
Bald sind die Rentiere im Stall, schlecken Milch mit Honig und haben eine warme Decke auf dem Rücken. Auch die kleine Weihnachtselfe gelüstet es jetzt nach einer heißen Tasse Tee und Keksen. Sie trottet zurück zum Basislager. Jetzt stehen hier keine Schlitten mehr und auch keine Geschenkestapel. Nur noch einzelne Päckchen, die reklamiert werden mussten, weil sie beschädigt sind und die noch niemand weggeräumt hat, liegen herum. Die kleine Weihnachtselfe ist nicht die Erste, die zurück ist. Von überallher kommen andere Weihnachtselfen. Manche unterhalten sich zu zweit oder zu dritt, aber die meisten sind allein unterwegs, so wie unsere kleine Weihnachtselfe.
Sie schaut sich um, ob sie den Elf von dem anderen Schlitten irgendwo sieht. Aber er scheint noch nicht wieder zurück zu sein. Vielleicht findet sie ihn bei Väterchen Frost.
Wenn die Wichtel und Elfen ihre Arbeit getan haben, setzen sie sich zusammen, trinken Tee und essen Kekse und lauschen den Geschichten von Väterchen Frost. Eine ganze Reihe Wichtel und Elfen sitzen schon im großen Kreis um den weisen Mann mit der roten Knollennase. Keiner kann besser Geschichten erzählen wie er.
Die Elfen erzählen aufgeregt von ihrer Reise. Wohin sie dieses Mal unterwegs waren und wem sie begegnet sind. Einer Elfe sind bei einem Ausweichmanöver mit einem Vogelschwarm alle Geschenke vom Schlitten gefallen.
„Aber trotz allem, war ich noch rechtzeitig und alles ist heil geblieben“, erzählt sie lachend. „Nur die Vögel haben ein paar Federn gelassen.“
„Ich bin zwei Engeln begegnet“, sagt die kleine Elfe. „Sie haben sich darüber gestritten, was den Zauber von Weihnachten ausmacht.“ Sie wird immer leiser und lässt aus, dass sie mit ihrer Frage erst der Auslöser für diesen Streit war. Aber sie muss immer noch darüber nachdenken. Väterchen Frost hat schon unzählige Weihnachtsfeste erlebt. Er weiß viel. Vielleicht hat er eine Antwort für sie. Ob sie es riskieren kann, ohne dass jetzt auch noch die Wichtel und Elfen aneinander geraten. Das Letzte was sie möchte, ist die ausgelassene Stimmung zu zerstören.
Sie nimmt all ihren Mut zusammen. „Was ist denn nun wirklich der Zauber von Weihnachten?“, fragt sie vorsichtig. Alle Elfen und Wichtel sind verstummt. Sie schauen Väterchen Frost erwartungsvoll an.
„Die Geschenke, nicht wahr?“, fragt jemand. Als die Weihnachtselfe sich nach der Stimme umschaut, erkennt sie den Wichtel von vorhin wieder.
„Schnee“, ruft jemand. „Der Zauber von weißer Weihnacht.“
Es wird geseufzt und alle reden durcheinander. „Ich finde Weihnachtslieder zauberhaft“, sagt jemand. „Aber Kerzenlicht hat auch seinen Zauber.“
Nur Väterchen Frost sagt nichts. Er schaute die Elfen und Wichtel der Reihe nach an. Dann hebt er die Hand. Es kehrt Ruhe ein. Erst als der Letzte von ihnen verstummt ist, spricht er.
„Es ist all das zusammen. Erst wenn alles stimmt, ist Weihnachten.“
Seine Worte leuchten der kleinen Elfe ein, und auch die anderen Elfen und Wichtel diskutieren aufgeregt miteinander. „Stimmt“.
„Er hat Recht.“
"Das ergibt Sinn."
„Aber natürlich."
"Alles zusammen."
"Musik und Licht."
"Geschenke und Gesang."
"Schnee und Stille."
"Besinnlichkeit.“
Die Weihnachtselfe gähnt. Es ist mitten in der Nacht. Die Gespräche verstummen nach und nach. Sie trinkt den letzten Schluck ihres inzwischen kalt gewordenen Tees. Auch die anderen Elfen und Wichtel gähnen. Zeit, sich zu verabschieden. Die kleine Elfe erhebt sich. Sie wirft einen letzten Blick hinaus zu den Sternen am Himmel, ehe sie ins Bett geht. Zu ihrer Überraschung stellt sie fest, dass große, weiße Flocken auf die Erde niedertanzen. Es schneit. Die Weihnachtselfe jubelt und vergisst ihre Müdigkeit. Das kann sie sich nicht entgehen lassen. Das muss sie sehen und zwar jetzt sofort. Eine unberührte Decke hat sich über den Boden ausgebreitet. Es glitzert und glänzt. Auch das ist der Zauber von Weihnachten, denkt sie und fängt eine Schneeflocke mit dem Finger. Wie wunderschön die Eiskristalle sind, wenn man sie ganz dicht vor die Augen hält.
„Schönheit liegt in den kleinsten Dingen verborgen. Man muss genau hinschauen, um sie zu entdecken.“
Die Weihnachtselfe bemerkt, dass sie nicht allein ist und dreht sich um. Mütterchen Winter steht im Schatten einer alten Tanne. Schneeflocken schimmern in ihren weißen Haaren. Ihre von Falten umgebenen Augen leuchten. Nicht nur Kerzen können leuchten, denkt die kleine Elfe. Auch das ist der Zauber von Weihnachten.
Sie muss laut gesprochen haben, denn Mütterchen Winter wiederholt ihre Worte. „Der Zauber von Weihnachten“, sagt sie. „Soso“.
Dann sagt sie nichts mehr. Sie blickt hinauf in den Himmel, wo von hoch hoben her die Schneeflocken herniedergleiten. Weit kann man nicht mehr sehen. Keinen einzigen Stern kann man mehr erkennen. Und doch sind sie da. Denn es geht nicht nur darum, was man sieht oder hört oder fühlt.
„Erst wenn alles stimmt, ist Weihnachten“, wiederholt sie die Worte von Väterchen Frost.
Auf die Lippen der alten Frau legt sich ein Lächeln. Dann schließt sie die Augen.
„Der Zauber von Weihnachten, es ist der Glaube daran, dass etwas Kleines, etwas Großes bewirken kann. Die kleine Geste, die große Wirkung entfaltet. Der kleine Zündfunke, der zu einem großen Licht wird. Das Lied, das sich in der Stille fortträgt und die Herzen zum Klingen bringt. Die winzige Schneeflocke, die sich zu einer Lawine entwickelt. Das kleine Kind in der Krippe und der Glaube daran, dass es die Welt retten wird. Das ist der Zauber von Weihnachten.“