„Sie könnten bei dem Urlaub Mr. Barton genauso aus dem Weg gehen, wie Sie es hier tun. Immerhin sagen Sie selbst, dass es dem restlichen Team aufgefallen sein dürfte, dass Sie dies tun. Warum denken Sie, dass Sie es während eines Urlaubs ändern müssen?“ Wanda seufzte leise auf. Irgendwie hatte sie solch eine Aussage von Dr. Abbott erwartet, was es dennoch nicht leichter machte. Sie streifte ihre Schuhe ab und zog die Beine unter sich, bevor sie sich wieder auf ihre Therapeutin konzentrierte.
„Ich … muss es doch sowieso ändern, oder? Irgendwann bin ich wieder beim Training. Also kann ich ihm gar nicht mehr die ganze Zeit ausweichen.“ Frustriert begann sie mit den Fingern auf ihren Schenkel zu klopfen. „Ihm und Natasha. Ich will es ja auch gar nicht. Es ist albern. Ach, ich weiß auch nicht.“ Sie warf den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke, die in neutralem Weiß gehalten war und auch keinen Tipp für sie hatte.
„Wollen Sie es denn im Urlaub ändern?“ Dr. Abbotts ruhige Stimme half Wanda auch nicht. Vielmehr fragte sie sich, wie die Therapeutin so ruhig bleiben konnte, wenn doch alles nur riesengroßer Mist war. Allerdings war ihr gleichzeitig auch völlig bewusst, wie albern dieser Gedanke war. Dr. Abbott war Psychologin, sie war dazu ausgebildet ruhig zu bleiben und anderen Menschen einfach nur zuzuhören und ihnen Hilfen aufzuzeigen. Zudem war es nicht ihr Mist.
„Nein. Eigentlich nicht. Ich will ihm lieber weiter aus dem Weg gehen, bis ich gezwungen bin es zu ändern. Es mag eine falsche Ruhe sein, aber es ist eine Ruhe. Irgendwie. Für mich jedenfalls.“ Wanda blickte zu Dr. Abbott, die sie mit dem erwarteten ruhigen Blick musterte. Unruhig rutschte sie auf ihrem Sessel zurecht. Dr. Abbott erwartete etwas von ihr, das wusste sie mittlerweile aus all den Stunden, die sie mit ihr gesprochen hatte, aber sie wusste nicht, was das war.
Seufzend fuhr sie sich durch die Haare, die immer noch nicht ihre ursprüngliche Länge zurückerlangt hatten. Es würde zwar noch eine Weile dauern, aber sie hoffte, dass sie dann endlich nicht mehr dieses ungewohnte Gefühl haben würde, wenn sie ihre Haare berührte. Aber ihre Haare waren nicht das Thema.
Clint war ihr Thema.
Mal wieder. Sie wünschte sich wirklich, dass sich Gefühle einfach ausschalten ließen, zumindest wenn sie unerwidert waren. Das hätte einige ihrer Probleme im Nu gelöst. Aber solch eine Instantlösung gab es nicht. Schweigend musterte sie Dr. Abbott, die sie weiterhin ruhig anblickte, und nach einigen Minuten hielt Wanda die Stille nicht mehr aus.
„Soll ich es vorher ändern? Mit ihm reden und versuchen wieder zu unserer Freundschaft zurückzukehren?“ Dr. Abbott veränderte ihre Sitzposition nur minimal und frustrierte Wanda weiter mit ihrer ruhigen Miene. Irgendwann, beschloss sie in diesem Moment, wenn ihre Therapie vorbei war, würde sie Dr. Abbott fragen, wie sie diese ruhige Miene immer beibehalten konnte.
„Wollen Sie dies denn?“
„Ich weiß es nicht. Das ist doch mein Problem. Ich weiß gerade nicht, was ich will. Ich will mit Clint befreundet sein, aber ich will auch mit ihm zusammen sein, aber das will er nicht, er hat Natasha. Und ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Es ist ätzend ihn zu sehen und zu wissen, dass ich nur eine Freundin für ihn bin …“ Sie brach ab und presste die Lippen zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie zum Ende hin immer lauter geworden war. Entnervt stellte sie fest, dass Dr. Abbott dagegen noch immer diesen völlig ruhigen Ausdruck in den Augen hatte.
„Das beschäftigt Sie sehr. Viel mehr als die Frage nach Ihren Erinnerungen.“
„Die kommen ja auch langsam alle von alleine zurück. Da hatte Bucky recht. Aber diese beschissenen Gefühle gehen nicht von alleine.“ Sie verzog ein wenig das Gesicht, da sie irgendwo in ihrem Hinterkopf Steve „Keine Kraftausdrücke“ sagen hörte. Aber in diesem Moment passte es einfach. Es waren schließlich beschissene Gefühle, mit denen sie sich plagte.
Dr. Abbotts Handy piepte und kündigte das Ende ihrer heutigen Sitzung an. Ihre Therapeutin erhob sich, nun doch ein Lächeln auf den Lippen.
„Vielleicht ist dieser Urlaub genau das Richtige, um mal auf andere Gedanken zu kommen. Immerhin ist Urlaub dazu da, um zu entspannen, sich Ruhe zu gönnen. Wenn Sie dann nichts mit Mr. Barton unternehmen wollen, dann ist es so. Lassen Sie sich nicht überreden, es doch zu tun. Ziehen Sie Ihr Ding durch, wie man so sagt.“ Sie packte ihren Notizblock und ihren Stift ein, während Wanda ihre Schuhe anzog.
„Ich werde es versuchen. Ich weiß aber noch gar nicht, wann es losgeht.“ Vermutlich mussten sie erst noch alles mit Fury klären, bevor sie sich an die richtige Planung machen konnten. Aber wann es losging, spielte eine untergeordnete Rolle. Die Hauptsache war, dass es überhaupt in den Urlaub ging.
Wanda stellte sich einen weißen Sandstrand mit türkisem Meer vor und seufzte lautlos. Sie war noch nie im Urlaub gewesen. Da war eine dunkle Erinnerung an einen Ausflug mit ihren Eltern und Pietro, aber wohin genau es gegangen war, wusste sie nicht mehr. Und die Auslandsmissionen mit dem Team zählten nicht als Urlaub.
Nachdem sie sich von Dr. Abbott verabschiedet hatte, ging sie zurück in ihr Zimmer, wo sie Bucky mit dem Gesicht nach unten auf ihrem Bett liegend vorfand. Sie schnippte ihm gegen die Ferse.
„Lebst du noch? Verwese nicht auf meinem Bett.“ Er gab ein undefinierbares Grunzen von sich, dann drehte er sich um und schenkte ihr einen finsteren Blick.
„Taylor nervt.“
„Weil er keine Miene verzieht, während du ihm erzählst, wie scheiße alles ist?“ Bucky knurrte leise und richtete sich auf.
„Ich vermute, Abbott ist da gleich.“
„Ja. Sie lässt mich ständig reden, stellt mir nur Fragen und sonst … nichts. Keine Tipps, kein Nichts.“
„Taylor genauso. Er stellt mir anfangs eine Frage oder greift etwas von der letzten Sitzung auf und dann lässt er mich reden und reden … Ich weiß gar nicht, was ich alles erzählen soll. Vermutlich ist die Hälfte eh Unsinn und nicht von Belang für eine Therapie.“ Bucky stand auf und trat an ihren Schreibtisch, um die oberste Schublade aufzuziehen. „Deine Kekse sind alle.“
„Ich weiß. Ich hab mal wieder vergessen nachzufüllen.“ Sie folgte Bucky in die Küche und setzte Teewasser auf. Als er ihr eine Packung Kekse hinhielt, nahm sie sich einen und warf einen Blick auf die Uhr. „Wir könnten auch was kochen. Es ist Zeit fürs Mittagessen und ich krieg langsam wieder Hunger.“ Sie biss von dem Keks ab und warf einen Blick in den Kühlschrank. Für einfache Nudelgerichte hatte sie genug Auswahl.
Bucky begann ohne zu murren Paprika und Tomaten zu putzen und kleinzuschneiden, während sie Wasser für die Nudeln aufsetzte und sich Zwiebeln und Knoblauch widmete.
„Ich tue einfach, was Dr. Abbott mir geraten hat. Ich ziehe mein Ding durch und meide ihn.“
„Wen?“ erklang Clints Stimme von der Tür her und Wanda fuhr herum.
„Schleich dich doch nicht so an.“
„Ich bin nicht geschlichen. Also, wen meidest du? Außer mich, ganz offensichtlich.“ Verdutzt sah sie ihn an, während er sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank nahm, dann legte sie das Messer beiseite. Auch Bucky hatte mit dem Schneiden aufgehört, hinter ihr herrschte Stille.
„Niemanden. Außer eben dich.“ Wenn Clint unbedingt darauf zu sprechen kommen wollte, bitte, das konnte er haben. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hab mit Dr. Abbott über den Urlaub gesprochen. Und über meine Sorge, dass es gemeinsame Aktivitäten geben wird und ich dir da eben nicht aus dem Weg gehen kann. Und sie hat mir geraten, mich nicht überreden zu lassen, was mit dir zu unternehmen, wenn ich das nicht will.“ Clints Gesichtsausdruck änderte sich nicht und sie fragte sich, ob ihre Worte überhaupt irgendwas bei ihm auslösten.
„Wir sollten mal in Ruhe miteinander reden, Wanda.“
„Es gibt nichts zu reden. Ich kann dich nicht nur als ganz normalen Freund sehen, also gehe ich dir eben weiterhin aus dem Weg.“
„Und wenn es irgendwann wieder soweit ist und du mit uns auf eine Mission gehst? Willst du mich da auch ignorieren?“
„Das ist doch was völlig anderes“, fuhr Wanda auf. Clint sah an ihr vorbei.
„Barnes, lässt du uns eben allein?“
„Nein, er lässt uns nicht allein. Wir wollten kochen und das tun wir jetzt auch. Es gibt Pasta mit Gemüse.“ Wanda wusste nicht, woher ihre Wut plötzlich kam, aber Clint zu sehen und mit ihm zu sprechen, wühlte sie einfach auf. Sie erinnerte sich, wie sie ihn und Natasha erwischt hatte, beide kaum bekleidet, ein Anblick, der sich in ihren Geist gebrannt hatte. Warum konnte sie nicht an Natashas Stelle sein?
„Wanda …“
„Verdammt, Clint, verstehst du nicht, dass ich einfach noch nicht darüber reden will? Ich geh dir aus dem Weg, ja, aber das hilft gar nichts, weil du trotzdem ständig hier bist, ich ständig daran denken muss, dass ich dir begegnen könnte.“ Wanda hielt inne.
Das war es.
Das war ihr Problem. Auch wenn sie Clint mied, ihm aus dem Weg ging und Begegnungen mit ihm möglichst kurzhielt, war er doch immer in ihren Gedanken präsent, einfach, weil sie unter einem Dach lebten. Wäre dies anders gewesen, hätte sie vermutlich nicht tagtäglich an ihn gedacht, sondern sich tatsächlich ablenken können.
So aber stellte sie sich immer die Frage, ob er plötzlich in der Küche oder im Gemeinschaftsraum auftauchen würde oder ob er an ihre Tür klopfen würde, um sie zu einem Filmabend abzuholen.
Wanda rieb sich die Schläfen. Hatte Dr. Abbott womöglich auf solch eine Erkenntnis gewartet? Helfen tat ihr dieses Wissen aber auch nicht. Sie konnte nicht ausziehen und Clint würde es sicher auch nicht machen. Es würde alles beim Alten bleiben.
„Steht mir vielleicht nicht zu, das zu fordern, aber du solltest gehen, Barton.“ Clint brummte nur auf Buckys Worte, nickte aber und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche. Wanda hörte, wie Bucky wieder mit dem Gemüseschnippeln anfing. „Wenn du auch gehen willst, ich komm klar. Ist nicht das erste Mal, dass ich Nudeln koche.“
„Danke.“ Ohne sich noch einmal zu Bucky umzudrehen, floh Wanda aus der Küche. Sie wusste nicht so recht, was sie jetzt machen sollte, außer ihre neueste Erkenntnis in ihrem Notizblock zu notieren, den sie zu ihren Sitzungen mit Dr. Abbott mitnahm. Aber eigentlich wollte sie das nicht.
Eigentlich wollte sie bloß alles wieder vergessen.
Die Amnesie nach ihrer Entführung durch Hydra war im Vergleich zu diesem Gefühlswirrwarr tatsächlich angenehm gewesen. Allerdings würde ihr hier niemand dabei helfen können, ihre Erinnerungen und vor allem ihre Gefühle zu verlieren. Da konnte sie nur selber dran arbeiten. Und sie wusste verflucht noch einmal nicht, wie sie das tun sollte.