Luisa, in Daunenjacke und Winterstiefeln, in der Hand einen Tortenträger, guckte verdutzt, als sie oben im Himmelsoktogon ankam, die endlosen Gänge entlang marschierte, und den Lärm vernahm, der sich steigerte, je näher sie dem Thronsaal kam.
Gereizt verzog sie den Mund.
Was war denn hier los?
Sie war ohnehin nicht gerne oben, was nicht so viel mit ihrem anderen Glauben zu tun hatte, dem sie als mit einem Engel verheiratete Walküre, zwangsläufig anhing.
Vielmehr haderte sie damit, dass ihr die durchgeistigten sphärischen Gestalten immer wieder vor Augen führten, wie fleischlich sie war. Überhaupt, was für ein Popanz, von dem sie mit eigenen Ohren gehört hatte, dass ihn der Heiland, der zutiefst bescheiden lebte, nicht entzückte. Paläste, Staatsgebäude, Hofkapellen, gefüllt mit diesen zwitschernden Wesen in Goldhaut.
Sie hingegen war erdverhaftet, archaisch - kurz - sie fühlte sich hier dick.
Allein Lysanders Überstunden in der Vorweihnachtszeit hatten sie überhaupt bewogen, hoch zu stiefeln. Als oberster Beamter der Himmelsbürokratie schaffte er es derzeit kaum, aus dem Berg Arbeit heraus zu lugen. Sie sah ihn kaum.
Und nun dieser Lärm?
So disharmonisch.
Abrupt blieb sie stehen. Vor der Doppeltüre drängte sich eine Gruppe Engel, wie immer gewandet in ihre fittichhaften Schleier, die aber beim ein oder anderen in Fetzen hingen. Generell sahen sie erhitzt und derangiert aus. Beim Näherkommen entdeckte sie die Plakate. Sie riss die Augen auf. Das war eindeutig eine Demo.
Aber gegen was?
Die Menge teilte sich tuschelnd, als sie zur Tür schritt.
Lautlos und mit einer tiefen Verneigung öffneten ihr die Torwächter die Türen. Drinnen, das war unübersehbar, tagte der Kronrat.
Ihr Liebster, Lysander, hockte in das Brokat gehüllt, das er so verabscheute, in seinem Thron oben auf der Empore. Den Ellenbogen auf den Knien, das Kinn auf der Faust, wirkte er gnadenlos genervt, derweil er einem Vortrag lauschte, der von einem der Erzengel gehalten wurde. Raphael, der sich zum Fürsprecher der Demonstrierenden aufgeschwungen hatte.
So unauffällig wie möglich huschte sie auf einen der freien Plätze, direkt neben Luce, einem Freund und engstem Vertrautem. Den Tortenträger stellte sie sich auf den Schoß, sie streifte die Handschuhe ab.
„Was ist hier los?“, zischte sie.
„…seit das Gottesgnadenreich berufen ward, die Himmelsharmonie auf Erden zu verkörpern…“, schwadronierte Raphael mit wichtigtuerischer Miene.
„Sie streiken“, wisperte Luce. „Alle Engel.“
Sie nahm die Mütze ab und versuchte, ihr elektrostatisch aufgeladenes Haar an den Kopf zu pressen. „Jetzt? Vor Weihnachten?“
Luce rieb sich eine schmale Augenbraue und zuckte die Achsel. „Hör‘ selbst.“
„…zu viele Engelsfiguren, die wir mit dem Geist der Weihnacht zu verfüllen haben. Die unvorhergesehene Überproduktion in China, deren letzter Sinn nicht durchschaubar…“
„Konsum!“, rief ein fahler Kerl dazwischen.
„Was ist da drin?“ Luce zuckte mit dem Kinn zu Luisas Tortenträger.
„Russischer Birnenkuchen mit Wodka“, wisperte sie. „Frigg ist sauer, dass ihr Lieblingsschwiegersohn gerade zur Wintersonnenwende nicht zu Kaffee und Kuchen kommt, aber weil sie findet, dass ihr hier alle so ausgezehrt ausseht, hat sie…“
„Pst!“ Aus der Reihe vorne kam das mahnende Geräusch.
Sie streckte Erzengel Michael die Zunge raus, aber immerhin wurde sie von ihrem Gemahl bemerkt, dessen Miene sich minimal aufhellte.
Er stand auf. Raphael verstummte inmitten des Sermons.
„Nun, Clarisissimi, wenns beliebt, ziehe ich mich zu einer Beratung mit meinen Vertrauten zurück. Hat noch jemand etwas beizutragen? Gabriel?“
„Ich?“ Mit schmalem Finger zeigte der Erzengel auf seine Brust. „Ne, also. Ich habe damals die Botschaft Maria überbracht. Das reicht für ein himmlisches Leben.“
„Das stimmt!“, rief Luisa erfreut. „Das habe ich auf diesem Gemälde von Leonardo gesehen, aber da hattest du noch diese alberne Frisur mit den Lock…“
„Natürlich stimmt es!“, grätschte ihr Gabriel böse dazwischen. „Es ist ja auch die Wahrheit! Es reicht auch, um in die Geschichte einzugehen! Ich habe keine Lust, meine Energie damit zu verplempern, sämtliche chinesischen Weihnachtsengelfiguren, die man für unter einem Euro bei Kik bekommt, mit dem Geist der Weihnacht…“
„Bei Ikea sind sie auch ganz preiswert“, murmelte ein dünnes Engelchen unbekannten Namens.
„Sieh‘ mich nicht so an, Lysander!“, brüllte Georg. „Ich bin nicht mal ein Engel! Und das mit dem Drachen war Arbeit genug!“
„Ruhe!“ Alle starrten Lysander an, der mit erhobener Hand vor seinem Thron stand. Eine schwebende Gebärde zwischen der letzten Erläuterung und dem Nichts „Verschwindet! Ich muss nachdenken!“
Die Worte waren die letzten der Versammlung. Murrend schlurften die Anwesenden aus dem Saal. Allein Luisa, Luce und Damiano blieben zurück.
„Und jetzt?“, fragte sie, als sie Ly mit einem Kuss begrüßt und geholfen hatte, dieses blödsinniges Gewand abzulegen. „Ich könnte oben in Asgard fragen, ob…“
„Lieber nicht“, murmelte Luce, der den Deckel des Tortenträgers abmachte. „Nachher bekommt Loki was spitz und Weihnachten wird ein Reinfall.“
„Ich könnte es alleine machen“, erwiderte Lysander niedergedrückt. „Aber danach…“
„Wirst du völlig blutleer sein“, gab Luce zurück, der sich ein Stück Kuchen aus dem Träger griff, und Damiano auf die Finger klopfte.
Der zuckte zurück.
„Milliarden von Weihnachtsengeln mit dem Geist der Weihnacht zu füllen", meinte Luce kauend, "dafür bedürfte es, ohne die himmlischen Heerscharen, eines Tricks.“
„Oder eines Zauberspruchs.“ Damiano schluckte schnell den stibitzten Kuchen runter.
„Ne, mit Zauberei haben wir nichts am Hut“, murmelte Luce. „Aber warte mal, Ly. Ich habe eine Idee. Ich wüsste, wen wir um Hilfe bitten könnten.“
Matt sank der auf einen der Elfenbeinstühle an der Wand der Apsis.
„Es geht nur, wenn derjenige von unserem Glauben ist.“ Sehnsüchtig guckte er auf den Kuchen. Dann auf seine Gefährten, die sich die Finger leckten. „Von Frigg?“
„Mit den besten Grüßen.“ Luisa hauchte ihrem Liebsten einen Kuss auf die sorgenvolle Stirn.
„Das ist sie“, erklärte Luce in Gedanken bei der Person, die helfen könnte. „Sie ist von unserem Glauben.“
*
An ihre neueste Eroberung, den havarierten Außerirdischen, gekuschelt, lernte Befana mit ihm Vokabeln auf dem Sofa. Weit waren sie nicht gekommen, nicht nur weil sie seine Attraktivität vom Wesentlichen ablenkte. Offenbar war er ausschließlich über Liedtexte imstande, eine Erdensprache zu lernen, was sie diesen idiotischen Astrophysikern zu verdanken hatte, die seit Jahren Lieder von Scooter in den Weltraum sandten. Überhaupt war er nicht eben die hellste Kerze auf dem Kuchen, verfügte aber über andere Qualitäten.
Sie hatte ihn Clint genannt, weil er dem sehr jungen Clint Eastwood ähnlich sah, und sein echter Name, ÿfk%Ar[&, schier unaussprechlich war. Im Kamin knisterte das Holz. Piniensamen verströmten einen heimeligen Duft, und der Zimttee, den sie mit aphrodisierenden Substanzen durchsetzt hatte, strömte einen ebensolchen Wohlgeruch aus. Auf dem Tisch lag ihr Kater, der sich eingerollt hatte, und über die Blödheit Clints eingeschlafen war. Sie seufzte glücklich.
Trööööööööt!!!
„Ach!“ Erschreckt sprang sie vom Sofa.
„Tröööttrötröt!!!“
Ihr Kater raste mit gesträubtem Fell ins Schlafzimmer, nachdem er zuerst einen Satz bis unter die Decke gemacht, und die Weihnachtsdeko runtergerissen hatte, die auf dem Boden zerschellte. Nur Clint lächelte grenzdebil, aber freundlich erwartungsvoll.
Hechelnd vor Schock, mit einer Hand auf dem wild hämmernden Herzen, stand sie inmitten des Raumes und wartete, bis der Schrecken der Wut gewichen war.
Sie kamen ja nicht oft.
Genaugenommen seit 1851 Jahren nicht mehr. Seit sie ihr Versäumnis entschuldigt hatten, sie rechtzeitig über die Geburt des Herrn zu informieren. Damals war sie mit allen Geschenken zu spät gekommen. Allein ihre Gewissheit darum, welch Wohlgefallen es dem Herrn war, dass sie alle Gaben, echtes Spielzeug für Kinder und nicht so ein Unsinn wie Weihrauch oder Myrrhe, den armen Kindern Bethlehems überlassen hatte, hatte sie überhaupt zu einer Versöhnung mit den Bürokraten oben im Himmelsoktogon veranlasst.
Wütend zerrte sie die Tür auf. Der Herold, der, das Pergament bereits aufgerollt gezückt, blasiert aus dem Wams guckte, zuckte zurück. Hinter ihm stand die lärmende Versammlung noch arroganterer Engel mit ihren Himmelstrompeten.
„Was?!?“ Mit einer Hand am Türblatt, der anderen in die Taille gestemmt, tappte sie mit dem Fuß.
„Hosianna! Ungeachtet dessen“, näselte der Bote, „dass Ihr eine Hexe seid, will der Heiligste Euch seine Huld beweisen…“
„Stop!“ Sie hob die Hand.
Am verstummten Herold vorbei blickend, entdeckte sie die Elfenbeinkutsche im Schnee, der Lysander eben entstieg.
„Er ist nicht der Heiligste“, maßregelte sie den Boten. „Er ist nur der Weltenlenker. Aber er ist mir willkommen, wie es der Heiligste selbst wäre. Er sieht völlig durchgefroren aus.“
Weit öffnete sie die Tür, um Lysander, der durch den Schnee stampfte, hineinzulassen.
„Danke, Befana“, murmelte er, der sich die rote Nase rieb. „Wenn ich etwas von dem Tee haben dürfte.“
Sie erblasste. „Äh, nein. Lieber mache ich dir einen anderen. Er enthält… na ja. Ist deine Frau Gemahlin in der Nähe?“
Sie hängte seine Jacke, Schal und Mütze an die Garderobe und eilte in die Küchenzeile, wo sie einen Kessel Wasser aufsetzte.
„Nein, leider. Luisa ist wieder oben in Asgard.“
„Dann besser nicht.“ Sie beförderte stärkende Essenzen in eine Tasse. Lysander hob die Brauen, als er den blonden Mann auf der Couch entdeckte.
„Ach, das ist Clint“, stellte sie mit einer wedelnden Handbewegung vor. „Clint, das ist Lysander. Der Weltenlenker.“
„I’m happy“, gab Clint mit blitzenden blauen Augen zurück. „I’m Feeling glad.“
„Das freut mich für Sie“, gab Ly müde zurück, als er in den Sessel sank.
„I got Sunshine in my bag.“
Ly nahm die Tasse von Befana und schaute den Fremden irritiert an, dem etwas Lametta in der Frisur hing. „Sonnenschein? In einer Tasche?“
„I’m useless…“
„Das würde ich so nicht sagen“, relativierte Lysander. „Jedes Lebewesen hat seinen Sinn und…“
„Vergiss ihn.“ Befana zog sich einen Pouf herbei, auf den sie sich setzte. „Du musst gewaltige Probleme haben, wenn du her kommst.“
„Da sagst du was.“ Resigniert lehnte er sich im Ohrensessel zurück.
Aufmerksam hatte sie seinen Problemen gelauscht. Streikende Weihnachtsengel, deren Aufgabe sie erfüllen sollte. Sie fühlte sich geehrt, aber auch überfordert.
„Das kann ich unmöglich alleine, Lysander. So viele hölzerne, blecherne und sonstige Weihnachtsengel mit dem Geist füllen.“
„Ich dachte, deine Freundinnen könnten helfen.“ Seine warmen Augen strahlten flehend. Nervös fingerte er am Anhänger seiner Silberkette.
„Aber ich kann nur die guten Hexen bitten. Und gute Hexen gibt es nur noch fünfzehn. Es gab mal 372, Lysander, aber Euer blöder Erdenlenker in Rom hat sie im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit überwiegend verbrennen lassen.“
„Das tut niemandem mehr leid als mir und dem Heiland, Befana. Dinge wie diese sind schon so lange entglitten. Wir versuchen unser Bestes, um es wieder… du hast ja keine Ahnung, wie schwer es ist.“ Seine Schultern sackten herab. „Die Zeiten sind auch schwer für die Menschen. Sie brauchen den Geist der Weihnacht mehr noch als in anderen Jahren, Befana.“
„Ja“, flüsterte sie zärtlich. Dann stand sie auf. „Wir machen es.“
Erleichterung überflutete Lys schönes Antlitz.
„Aber es gibt da ein paar Probleme“, meinte sie, derweil sie händeringend in ihrer Wohnstube auf und ab ging. „Wir können nur mit Besen fliegen und sehen nicht wie Engel aus.“ Mit beiden Händen wies sie auf ihren lilafarbenen Hausanzug aus Samt. „Ich weiß, dass wir nur zufällig gesehen werden könnten, aber falls…“
„Ich statte euch mit Gaze aus, Befana. Ich schicke meine Gewandfalteleger nach unten, und wir könnten Bei Deiters ausreichend Flügel kaufen, die ihr euch umschnallt.“
„Deiters?“ Sie nahm ihm die leere Teetasse ab.
Er winkte ab, erfüllt mit neuer Energie. „Karnevalsbedarf“, erklärte er. „Wir helfen euch. Damiano, Luce und ich. Vielleicht kann ich noch einige andere zum Streikbrechen bewegen…“
„Die Hände zum Himmel!“, sang Clint.
„Ja, genau“, redetet Ly ohne Unterlass. „Wir helfen dir dann auch im Januar, wenn du mit den späten Geschenken unterwegs bist.“
Sein Blick huschte zu dem monströsen Berg verpackter Geschenke neben dem Kamin.
„Da ist noch viel mehr“, erklärte sie. „Der ganze Schuppen ist voll davon.“
Er seufzte. Lächelte schief dabei und breitete die Arme aus. Befana schlüpfte in die Umarmung, schmiegte sich einen Augenblick an seine Brust, erfüllt von Freude, etwas Gutes tun zu können.
Dann wandte sie sich raus und holte seine Winterjacke. „Ich rufe die Mädels an.“
Er nickte, mit den schmalen Fingern noch am Silberanhänger seiner Kette.
„How much is the fish“, fragte Clint.
Lysander ließ den Anhänger los. „Der ist unverkäuflich. Ein Familienerbstück.“