Tomke Klemenske ging kurz nach Mitternacht auf den alten Schrottfriedhof zum Weinen.
Der Schrottfriedhof war nicht wirklich ein Friedhof und Tomke wollte nicht nur weinen, sondern heulen und schreien. Er wollte um sich schlagen und treten, dabei alles in Stücke hauen und einfach mal komplett ausrasten. Seine Wut herausschreien und sich anschließend in Luft auflösen, wie die Funken eines Feuerwerks. Er wollte kurz aber heftig brennen, dann auf Nimmerwiedersehen erlöschen.
Zumindest gedanklich, denn so rein biologisch war Tomkes Körper nicht wirklich in Laune, geschweige denn dazu in der Lage. All das, all diese Atome, die irgendwie unter echtem Aufwand und Druck seinen Körper ergaben, dieses Haut- und Knochenkostüm, in dem Tomke gekleidet durch die Weltgeschichte stolperte, hatte so gar kein Bock auf Randale. Zu viele Dellen und Beulen. Sein rechter Arm steckte neuerdings in einem Scheißgips, in seinem Oberarm saß irgendeine fette Monsterschraube und seine Fresse tat weh. So, wie eine Visage nun mal eben schmerzte, wenn sie vor gar nicht allzu langer Zeit von Fäusten bearbeitet worden war.
Aber die Ärztin war nett gewesen. Sie hatte Tomke irgendwie an seine alte Klassenlehrerin erinnert. Übernächtigt und desinteressiert, zero fucks given. Frau Dr. Dingsbums, den Namen der Ärztin hatte er sich nicht gemerkt, denn er war zu sehr damit beschäftigt gewesen vor Schmerzen nicht zu kotzen. Die Schmerzen waren inzwischen weg, die Kotze im Hals hingegen war noch da.
Was genau gaben die einem eigentlich in Krankenhäusern? Tomke fühlte sich schwerelos und bleischwer zugleich. Opium? Scheiße, gab es das Zeug überhaupt in Krankenhäusern, oder war das nur so ein Ding in Filmen, um die Dramaturgie zu steigern? Dem Zuschauer die Ausmaße des Schmerzes klar zu machen? Was auch immer man Tomke gegeben hatte, es war ein verflucht mieser Trip. Schizophrene Schwerelosigkeit gepaart mit Melancholie. Er setzte einen Fuß vor den anderen, dabei mühsam gegen die Tränen kämpfend. Noch war es nicht so weit, noch könnte ihn irgendwer sehen. Hören. Rumerzählen, dass er jetzt völlig den Verstand verloren hatte.
Vielleicht hatte er ja wirklich den Verstand verloren. Ganz heimlich, ohne es zu merken. Konnte man über Nacht durchdrehen? Quasi im Schlaf, Stück für Stück? Immer ein bisschen mehr?
Tomkes Gedanken fuhren Karussell, sein Kopf war eine einzige Kirmes. Es fehlten nur noch die bunten Lichter und der Lärm von wild vermischter Musik und gelangweilte Stimmen, die "Spaß, Spaß, Spaß" monoton in ein Mikro nuschelten. "Extra-Extra-Runde". An jedem Fahrgeschäft lief ein anderer schlechter Pop-Song. Tomke atmete tief ein und langsam wieder aus. Verdammt, er wollte endlich in Ruhe und Frieden heulen. Er musste heulen, sonst würde er vermutlich explodieren. Also ging er weiter, immer tiefer in das Labyrinth aus ausgebrannten und demolierten Autoleichen.
Der Schrottfriedhof war eigentlich nichts anderes als ein alter Schrottplatz, längst von der industriellen Welt vergessen. Niemand schien sich um all das Altmetall zu kümmern, welches hier verrostete. Die Pressen lagen schon lange still, die kaputten Autos vermehrten sich dafür wie Ratten, ebenso wie all der andere Schrott. Bei so ziemlich allen Karren waren die Scheiben zertrümmert. Die Seitenspiegel abgerissen. Reifen aufgeschlitzt oder die Räder gleich ganz abmontiert. Scherben lagen wie Rosenblätter im Schnee verstreut. Die Überreste von unzähligen Bier- und Vodkaflaschen unzähliger Jugendlicher, die an den Wochenenden hierher zum Vögeln kamen. Scharfkantige Romantik, zwischen Rost und Tristesse.
Tomke kannte niemanden, der es nicht mindestens schon einmal hier getrieben hatte. Er selbst hatte seine Jungfräulichkeit in einem rostigen VW Käfer verloren. Platz war in der Karre nicht viel gewesen, aber 14-Jährige brauchten auch nicht viel Beinfreiheit, egal, wie riesig sie sich auch fühlten. Der Sex war mies gewesen. Wie irgendwie alle Ficks in Tomkes Leben. Er konnte es einfach nicht, machte alles falsch, was man falsch machen konnte. Nicht, dass er das jemals laut zugeben würde. Mit 14 war es ihm egal gewesen, er war einfach mitgezogen, wollte von den anderen Jungs nicht abgehängt werden. Doch die pubertäre Lust war längst von bedrückter Besorgnis abgelöst worden. Frust. Unsicherheit. Verrückt, wie egal einem manche Dinge mit vierzehn waren, andere dafür die Welt bedeuteten, nur um dann Jahre später die Rollen zu tauschen.
Mit vierzehn konnte man einfach grobmotorisch und nervös loslegen, jetzt mit zwanzig erwartete die Welt erotische Kunststückchen. Jeder Stoß musste ein Treffer sein. Man hatte einfach Bock zu haben. Ahnung. Voll den Durchblick. Erklären tat einem aber niemand irgendwas. Das Einzige, was Tomke hin und wieder gezeigt bekam, war eine Faust in Nahaufnahme.
Dragan und seine Saubande von Irren. Eigentlich hätte er es wissen müssen. Diese Wichser kamen immer zu viert, während man selbst allein dastand. Vier gegen einen, acht Fäuste gegen zwei. Die mieseste Nummer von allen miesen Nummern. Er hatte echt Glück, dass sie ihm nur zehn Arten von Scheiße aus dem Leib geprügelt und ihn nicht gleich umgebracht hatten. Wobei, so im Nachhinein wäre Tomke lieber tot, als hier und jetzt hart auf Schmerzmitteln und in depressiver Heullaune durch die Nacht zu stolpern.
Tränen liefen heiß und brennend über seine Wangen und er schluchzte feucht und laut auf. Knallend brach es aus ihm heraus, wie ein Sektkorken aus einer geschüttelten Flasche. All die Scham, die Wut und der Frust schäumten auf, strömten über den Rand und veranstalteten eine riesige Sauerei. Tomke weinte so heftig, wie er das letzte Mal vielleicht mit sechs oder sieben geheult hatte. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen, als er immer weiter ging, weinend. Er hatte kein wirkliches Ziel vor Augen, außer immer tiefer in der Ruhe des Schrottfriedhofs zu verschwinden. Er wollte in dieser Stille ertrinken, in Ruhe leiden. Seine Wunden lecken. Selbstmitleid in Bestform. Das Drama hochdrehen, bis es nicht mehr ging.
Tomke sah vor lauter Tränen nicht, wohin er eigentlich lief. Die Welt war ein verschwommenes Farbenmeer aus Schnee und Schrott, doch er musste auch nicht groß irgendetwas sehen. Das hier war sein Heiligtum. Sein persönliches Fort Knox. Zumindest heute, denn dienstags kam niemand hierher. Niemals. Nie.
»Oi, Heulsuse! Schicker Gips.«
Tomke blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Sein Schluchzen war schlagartig verstummt und steckte ihm quer im Hals fest. Er bekam keine Luft, doch er brauchte Luft. Zum Atmen. Zum Leben. Zum ... hysterisch nach Worten suchen. Er wischte sich mit dem linken Ärmel seiner Sportjacke grob über die Augen, doch er wusste selbst mit verwässerter Optik und hart neben der Spur, wer ihn gerade in seinem wohl persönlichsten Moment seines ganzen beschissenen Lebens gestört hatte. Wer ihn beim Rumheulen erwischt hatte.
Fuck. Fuck. Fuck.
Von allen Vollidioten, über die Tomke hätte stolpern können, musste es ausgerechnet er sein. Gab es die Reinkarnation etwa wirklich und Tomke hatte in seinem vergangenen Leben einen ganzen Sack voller Hundewelpen in einem Säurebad ertränkt, oder was zum Teufel war mit dem Universum los?
Tomkes Blick glitt über die verrosteten Überreste einer Mauer hinweg, die aus wuchtigen und unter enormen Druck zu Würfeln zusammengepressten Karosserien bestand. Gut drei Meter über dem Boden lümmelte eine Gestalt so breitbeinig auf dem Schrott, als wäre es ein goldener Thron.
Wassil Mitev. Kleinganove, Großmaul und Hobby-Tierzüchter, der Anzahl seiner tausend Hunde nach zu urteilen. Ernsthaft, der Kerl hatte mehr Pitbulls, als die alte Frau Damaschke hässliche Plastikpflanzen auf ihrem Balkon – und das Ding stand voll.
Tomke versuchte unbeeindruckt zu wirken, gelangweilt, ganz so als hätte ihn Wassil nicht gerade beim Flennen erwischt. Beim Rotz und Wasser heulen, wie der größte Loser aller Zeiten. Was dieses Arschloch wusste, wusste kurz darauf der gesamte Kiez. Spätestens morgen Abend würde jeder im Block wissen, dass er Tomke beim Flennen erwischt hatte. Scheiße, sicher hatte der Wichser die ganze Nummer sogar gefilmt, auch wenn Tomke kein Handy erkennen konnte. Doch was wusste er schon? Er traute Wassil so ziemlich alles zu.
»Sieh mal einer an, Klemenske flennt sich die Augen aus.« Wassil ließ beide Beine vom Rand seines Throns aus Schrott baumeln. Er trug auf Hochglanz polierte weiße Lederschuhe, die so teuer aussahen, dass sie hundertpro billiger Fake waren, ebenso wie die Goldkette. Der Rest war wie immer in einem fröhlichen Schwarz gehalten. Hose, Rollkragenpulli und der blöde Hut, der vermutlich längst auf Wassils Dickschädel festgewachsen war. "Waren die anderen Jungs etwa gemein zu dir? Soll Mami kurz pusten? Geht es der kleinen Heulsuse dann besser?«
»Ich bin keine Heulsuse. Hatte nur was im Auge.«
Tomke hörte selbst, wie verheult er klang. Außerdem; ich bin keine Heulsuse. So etwas sagten nur Heulsusen. Wassil war da ganz seiner Meinung.
»Alles klar, Al-Heulsuse-Capone. Muss ich mir glatt eingebildet haben, Queen Crying. Nichts für ungut, Prinzessischen Feuchtauge.«
»Alter, bist du fertig?«
»Kein Grund gleich hysterisch zu werden, Senior Flennos.«
»Fick dich, Mitev.«
»Nah. Bin trotz romantischem Ambiente gerade nicht in Stimmung. Du siehst übrigens verheult echt scheiße aus. Nicht, dass man aktuell viel von deiner hässlichen Fresse erkennen kann. Dragan und seine Schwanzlutscher waren wohl echt in Laune, was?«
Natürlich hatte Wassil von der Schlägerei gehört, wobei man vier gegen einen nicht wirklich als Schlägerei bezeichnen konnte. Vermutlich hatte er bereits rumerzählt, dass man Tomke ordentlich die Visage poliert hat, da waren Dragan und seine Jungs noch mitten dabei. Wassil wusste alles. Von dem Typ hätte selbst die Stasi echt noch was lernen können. Und heute Nacht war der König der Informationen um eine Neuigkeit reicher.
Tomke war am Arsch.
»Na los. Sag es.«
Wassil machte ein überraschtes Gesicht. An dem Mistkerl war glatt ein Schauspieltalent verloren gegangen. »Was sagen? Rede Klartext, Klemenske.«
»Sag, was du willst.«
»Ich will ne' schicke Bude mit geilem Balkon, auf dem ich mit einem dreitausend Euro Teleskop mir die volle Ladung Universum gönnen kann. Schon mal Jupiter so nah gesehen, dass du glaubst, er klatscht dir jeden Moment ins Gesicht?«
»Das ist nicht witzig, Mitev.«
»Stimmt. Hast recht. Jupiter ist ein Gasriese. Der klatscht so schnell nirgendwo dagegen. Was guckst du denn jetzt schon wieder so scheiße? Du hast gefragt, was ich will. Jetzt weißt du's.«
Tomke schwieg. Wassil schwieg. Beide Männer starrten sich an.
Die Luft war kalt und langsam kam der Schmerz zurück.