Tomkes bescheidener Meinung nach war das Hauptproblem mit Arschlöchern, dass sie ihre Selbstgefälligkeit wie eine glänzende Rüstung trugen. Eine kugelsichere Rüstung, durch die nicht einmal dann so etwas wie Vernunft drang, wenn sie aus nächster Nähe auf sie abgefeuert wurde. Selbstverliebter Größenwahnsinn machte einen scheinbar nicht nur kugelsicher, sondern ließ einen auch neuerdings auf physikalische Gesetze scheißen.
Gesetze wie die Schwerkraft, zum Beispiel.
Anders konnte sich Tomke nämlich nicht erklären, wie Wassil so nah am Rand seines Throns aus Schrott hängen konnte, ohne abzustürzen. Er hing mit seinem halben Arsch so selbstverständlich in der Luft, als würde er tatsächlich nach keinen naturwissenschaftlichen Regeln spielen. Jeder normale Mensch hätte sich längst das verdammte Genick gebrochen, doch Wassil hatte keinen Funken Respekt für die Höhe, in der er breitbeinig und ohne wirklichen Halt abhing. Tomke drehte sich allein beim Anblick der Magen um. Höhen waren nun wirklich nicht sein Ding.
Waren sie noch nie gewesen. So null und gar nicht. Selbst mit zwei gesunden Armen müsste schon ein Rudel ausgehungerter Wölfe über den Schrottplatz geradewegs auf ihn zufetzen, dass Tomke es auch nur in Erwägung ziehen würde, eventuell in Sicherheit zu klettern. Mit Fäusten und Tritten konnte er umgehen, aber Höhen waren sein verdammtes Kryptonit.
»Alles klar da unten, Heulsuse?« Wassil machte das Unmögliche möglich und rutschte mit seinem Arsch noch etwas mehr, noch ein bisschen weiter über den Rand seines Throns hinaus. Unter ihm herrschte drei Meter tödliche Tiefe. Bodenloser Abgrund. »Du hast seit knapp fünf Minuten nicht einmal Fick dich, Mitev gesagt. Langsam mache ich mir ernsthaft Sorgen.«
Alles klar da unten? Pah. So etwas konnte einfach nur ein Wichser wie Wassil fragen, denn verdammt nochmal, es war überhaupt nichts klar. Nichts war in Ordnung. Tomkes Welt lag in Trümmern, ebenso wie sein Scheißarm und seine Würde. In seinem Kopf dröhnte und pochte es, seine Visage schien vor Wut und Scham zu brennen und seine Zunge fühlte sich auf einmal viel zu groß und zu schwer an, als würde sie nicht in seinen Mund gehören. Sie war gefühlsmäßig auf die Größe eines Blauwals angeschwollen. Er konnte weder klar denken, noch reden. Sein Kiefer drohte unter dem massiven Gewicht seiner Zunge wegzubrechen. Ihm war übel.
Normalerweise war Tomke ziemlich gut darin sich aus Scheiße herauszureden. So zu tun, als wäre nie irgendwas gewesen. Aber es gab Dinge, da konnte man sich nicht herauswinden. Ein kompletter Gesichtsverlust war nichts, von dem man sich einfach so erholen konnte. Man hatte nur dieses eine Gesicht. Man fand nicht einfach irgendwo ein neues. Vielleicht war Tomke kein großer Held darin auf sein physisches Gesicht aufzupassen, diese irgendwie nicht hässliche, aber auch nicht wirklich attraktive Visage mit dem halb abgebrochenen Schneidezahn. Er hatte schon so oft eine Faust in die Fresse bekommen, dass sein Nasenbein ein einziges Schlachtfeld war. Da konnte man längst nichts mehr retten oder richten. Doch auf sein psychisches Gesicht, oder wie auch immer man dieses zerbrechliche Ding nannte, das einem als Mensch einen Funken Würde verlieh, hatte er immer aufgepasst. Er hatte es beschützt wie eine Löwin ihr Junges. Und dann kam dieses Arschloch Wassil daher und ruinierte einfach alles.
Alles klar da unten? Wie gerne hätte Tomke diesen Wichser windelweich geprügelt. Wie er da hing, als wäre er der König der Welt. Doch mit nur einem Arm war eine Schlägerei keine gute Idee, auch wenn Wassil für einen Kerl recht klein war. Doch man brauchte auch kein Riese sein, wenn man Wassil Mitev war. Bereits während ihrer Schulzeit war er die Art von kleinem Wichser gewesen, der seine fehlende Körpergröße mit bösartigen Worten kompensiert und Jahre später seine Gemeinheiten mit dem geschickten Umgang von Klappmessern garniert hatte. Waren alle anderen Jungs aus dem Block wie Unkraut in die Höhe geschossen, hatte es Wassil mit Ach und Krach gerade so auf 1.70 geschafft, auf denen er schließlich hängen geblieben war.
Man musste nicht sonderlich groß sein, wenn man den stämmigen Körperbau eines Boxers besaß, der aus Prinzip unter die Gürtellinie zielte. Man brauchte keine Beine bis zum Scheißhimmel, wenn man so unfassbar schnell ein Messer zücken und es irgendwem an die Kehle halten konnte, da hatte Lucky Luke noch nicht mal darüber nachgedacht nach seiner Pistole zu greifen. Wassil musste sich für die meisten Kehlen zwar auf die Zehenspitzen stellen, doch niemand war so dumm und lachte darüber. Über einen Mitev lachte man bekanntermaßen kein zweites Mal.
Tomke hätte niemals hierherkommen dürfen. Er hätte sich irgendwo anders hin verkriechen sollen. Doch wohin? Dafür, dass sie sich hier am Rande einer von der Welt vergessenen Zivilisation befanden, hatte man verflucht wenig Privatsphäre. Niemand kümmerte sich um irgendwas, aber alle wussten Bescheid. Scheiße, Tomke würde bereits morgen früh ein toter Mann sein. Er sah Dragan und seine Wichsfressen schon vor sich, wie sie über ihn lachten. Wie sie sein Heulen nachahmten, nur um ihm dann den anderen Arm auch noch zu brechen.
»Klemenske, mein Bester. Was los? Hast du plötzlich deine Zunge verschluckt? Hat sich vor lauter Rumgeheule dein Gehirn aufgelöst?« Wassil hing nun so lebensgefährlich auf dem Thron aus Schrott, dass Tomkes Magen sich noch ein bisschen mehr, ein bisschen fester und noch ein bisschen unentwirrbarer verknotete. Allein der Anblick von Wassils physikalischer Provokation reichte aus um Säure zu schmecken.
Tomke schluckte mehrmals verzweifelt, aber es war aussichtslos. Es war gerade einfach alles zu viel. Die nachlassenden Schmerzmittel. Das Elend. Die Scham. Die Wut. Dieser Idiot da oben in drei Meter Höhe ... Tomke übergab sich würgend in den Schnee. Über ihm erklang Applaus.
»Meine Fresse, Romeo! Erst Tränen, dann Kotze. Du bist ein wahrer Romantiker. Du weißt echt, wie man Leuten den Hof macht.«
Tomke wischte sich über den Mund, atmete langsam aus und fixierte dann einen Punkt knapp einen halben Meter über Wassils herumlungernder Gestalt.
»Fick dich, Mitev.«
»Hört, hört! Die Heulsuse kann wieder sprechen. Wie habe ich diese Stimme vermisst. Aber wie gesagt, bin trotz romantischem Sternenhimmel nicht in Stimmung. Wobei, bei den schweren Geschützen, die du hier auffährst, werde ich glatt schwach. Fehlt nur noch Kerzenlicht und der gute Billigwein im Tetrapack aus dem untersten Regal im Netto und ich gehöre dir, Alter.«
Tomke war überfordert. Aus tiefstem Herzen. Vermutlich war es diese Überforderung, die seine Zunge nicht nur schlagartig schrumpfen ließ, sondern sie auch lockerer machte als ein mit falschen Schrauben an der Wand montiertes IKEA-Regal.
»Weißt du was, Mitev? Ich habe kein Bock auf deine blöden Spielchen. Tu mir also einen Gefallen und komm zum Punkt. Was willst du dafür, dass du die Fresse hältst? Dass du nicht wie immer dein Scheißmaul über Dinge zerreißt, die dich nichts angehen?«
Wassil schnalzte laut mit der Zunge. In der Stille des Schrottfriedhofs klang das Geräusch wie ein Gewehrschuss.
»Ich habe dir gesagt, was ich will. Falls du also nicht gerade im Lotto gewonnen und einen reichen Onkel hast, der seine Finger tief im Arschloch des Immobilienmarkts stecken hat, bezweifel ich, dass wir uns einig werden. Luxuswohnungen mit Balkon wachsen nicht auf Bäumen. Also verpiss dich, Heulsuse. Du versaust mir hier gerade ernsthaft den Sternenzauber.«
»Das ist verfickt nochmal nicht witzig!«
»Uh, die Heulsuse wird laut. Kleine Warnung, Klemenske. Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man mich anschreit. Da rutscht mir gerne mal die Hand aus, wenn du verstehst.«
»Achja? Dann komm her, Alter. Na los, komm. Klären wir die Sache hier und jetzt.«
Endlich, vertrauter Boden. Tomke hatte zwar immer noch nur einen Arm zur Verfügung, aber scheiße. Mit Drohungen und Gewalt konnte er umgehen. Lieber bekam er eine weitere Faust ins Gesicht, als aus drei Meter Höhe verarscht und gedemütigt zu werden. Doch Wassil rührte keinen Finger. Er blieb auf seinem Thron aus Schrott sitzen und wirkte schwer gelangweilt.
»Einen Scheiß mach ich. Wenn du was von mir willst, dann beweg deinen Arsch gefälligst nach oben. Ich sitze hier nämlich ausgesprochen gut. Bester Platz der Saison.«
Tomkes Wut flog laut knallend in die Luft. Er trat so fest gegen den untersten Block aus zusammengepressten Karosserien, dass die Kraft seines Tritts als schmerzhaftes Kribbeln durch sein rechtes Bein wanderte und schließlich in seinem zertrümmerten Arm explodierte. Verfickte Scheiße, wieso hing eigentlich im Körper alles irgendwie zusammen? Man konnte nicht einmal niesen, ohne den verdammten Knochenbruch zu spüren. Tomke sackte fluchend und ächzend in sich zusammen. Erneut schmeckte er Säure.
»Darling, don’t hurt yourself. Ist schlecht für die Schminke. Wobei, die Wimpertusche ist eh längst hinüber. Aber kein Wunder, bei dem Geflenne. Das mit dem Fotoshooting wird dann heute wohl nichts.«
Tomke hätte den Turm aus Schrott gerne nochmals getreten, Wassil von seinem Thron gekickt wie der wütende Pöbel einen unfähigen König, aber sein Körper war ein einziges Sammelsurium aus Schmerz. Tomke war müde, sein Kopf war unerträglich schwer und er würde sich ohne jeden Zweifel erneut, zum zweiten Mal, vor Wassil übergeben, wenn er nicht schleunigst Land gewann. Hier gab es nichts mehr zu retten. Sollte Wassil doch an seinem Wissen ersticken. Sollten sie doch alle an ihren blöden Sprüchen zu Grunde gehen.
Es kostete Tomke gefühlt die doppelte Miete, seinen Körper irgendwie auf die Beine zu hieven. Seine Augen brannten verdächtig, aber er biss die Zähne zusammen. Eher würde er in der Hölle schmoren, als Wassil noch mehr Munition zu liefern. Seine Zunge war wieder zu einem Wal geworden. Sein Kiefer tat weh. Die Welt war in verschmierten Farben gehüllt. Tomke drehte sich um und ging. Wortlos, denn es gab einfach nichts mehr zu sagen. Zumindest seiner Meinung nach. Eine Meinung, die er ganz offensichtlich allein vertrat.
»Ey, Flennske-Klemenske!« Wassils Stimme schallte über den gesamten Schrottfriedhof. »Kein Grund zur Traurigkeit. Diese Nacht hier bleibt unser kleines Geheimnis. Our dirty lil’ secret. Ehrenwort!«
Tomke ging weiter, Schritt für Schritt. Seine Füße gewannen an Tempo. Er drehte sich nicht um.
Hinter ihm erklang Gelächter.
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Tomkes Herz klopfte wie verrückt, als er wie ein Wahnsinniger die Stufen des Treppenhauses nach oben lief. Der Fahrstuhl war kaputt, war er schon immer gewesen, und seine Lunge fühlte sich an, als würde sie jeden Moment explodieren. Aber das war es, was er brauchte. Den Schmerz in seinem Arm verdrängen, indem er ihn durch eine neue Form von Schmerz ersetzte.
Scheiße, sollte ihm doch seine blöde Lunge in die Luft fliegen. Das wäre immerhin ein schnelles Ende. In seinen Ohren rauschte und pochte das Blut. Es war so dröhnend laut, dass er das Geschrei über sich erst dann wahrnahm, als er bereits den neunten Stock erreicht hatte. Er kannte das Geschrei. Drama im zehnten. Mal wieder. Scheiße. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Fass mich nicht an, du hässliches Drecksschwein!«
Lautes Geschrei zwischen aufgedrehter Musik. Punk. Anarchie in jeder gebrüllten Zeile, dazwischen irres Fauchen. Wie es schien war Tomke nicht die einzige Person, die heute einen echt miesen Tag und eine noch viel miesere Nacht hatte.
»Ich sagte, du sollst mich nicht anfassen! VERPISS DICH!«
Im zehnten Stock standen drei Türen offen. Drei Menschen in unterschiedlichen Stadien zwischen verärgert, empört und völlig besoffen hatten sich für das allabendliche Gebet des Wahnsinns zusammengefunden.
»Ich habe die Faxen so was von dicke!« Ratnikov bemerkte Tomke als erstes. Was eine beeindruckende Leistung war, denn der Kerl hatte gerade alle Hände voll damit zu tun sich eine völlig durchgedrehte Furie vom Leib zu halten. Die Frau biss und schlug nach ihm. »Diese Fotze tickt doch nicht mehr ganz richtig!«
Die Furie drehte nun richtig ab.
»Fotze? Ich wette, du siehst dieses Körperteil nur in deinen feuchten Träumen, du dreckiges Nazischwein!«
»Herrje, so etwas kann man doch nicht sagen.« Frau Damaschke war wie immer mit von der Partie, live und in Farbe. Und wie immer verkündete sie ihre ungefragte Meinung. »Also nun wirklich nicht.«
Tomke ignorierte die alte Hexe in ihrem hässlichen Bademantel. Er ignorierte auch Ratnikov, der sichtlich Mühe damit hatte die nach ihm beißende Frau in Zaun zu halten. Er ging in die Wohnung hinein, aus der die Punk-Musik auf voller Lautstärke röhrte. Unter seinen Sneaker knirschte Glas. Die Bude war ein einziges Schlachtfeld. Er fand den Beschaller des gesamten Wohnblocks C und zog einfach den Stecker. Mit einem Ruck herrschte schmerzhafte Stille.
Tomke rüstete sich für die nahende Kollision. Würde er in Amerika leben, wäre er vermutlich ein ziemlich erfolgreicher Football-Spieler, denn er besaß eine gewisse Übung darin, mit Wucht zu Boden getakelt zu werden. Auch wenn der Frauenkörper kaum etwas zu wiegen schien, sorgten Irrsinn und Alkohol für genug Kraft, um einen erwachsenen Mann brutal von den Füßen zu reißen. Der Zusammenprall war heftig und sie landeten gemeinsam auf dem Boden. Die Irre geradewegs auf ihm, Tomke mit dem Gips brutal auf dem hässlichen Linoleumboden. Er stöhnte gequält.
»MACH SIE WIEDER AN!« Weiterer Schmerz explodierte, als die Irre ihre spinnenartigen Finger unter Tomkes Mütze schob und sie in sein kurzes Haar krallte. Ihre Hände rissen und zerrten. »MACH. SIE. WIEDER. AN!«
Fuck. Ausgerechnet heute war sie geistig völlig im Eimer.
»Scheiße. Reg dich ab.«
Doch die Furie wollte sich nicht abregen. Ganz im Gegenteil. Sie sprang ruckartig auf die Beine. Auch wenn ihre Worte überraschend klar waren, verrieten ihre unsicheren Schritte den herrschenden Pegel.
»Das hier ist meine Wohnung. Wenn ich Musik hören will, höre ich verfickt nochmal Musik!« Sie schlug mehrmals auf die Musikanlage ein, die jedoch stumm blieb. »Du hast sie kaputt gemacht, du Scheißkerl. Meine Musik. Du hast sie einfach so kaputt gemacht!«
Die Stimme der Furie überschlug sich, ebenso wie ihre Schritte. Sie stolperte und fiel in Richtung Schlafzimmer. Hinter ihr knallte die Tür zu, dann schepperte und klirrte es. Ein Schlagzeug wurde gut hörbar zusammengeschlagen. Tomke stemmte sich langsam vom Boden hoch, wobei er mit seiner linken Hand den Gips an seinem anderen Arm befühlte. Als könnte diese Berührung irgendetwas daran ändern, dass es unter dem Gips pochte und zerrte. Er schmeckte Blut im Mund. Immerhin keine Kotze.
»Diese irre Schlampe gehört weggesperrt.«
Ratnikov stand in der offenen Tür. Direkt neben ihm lauerte die verdammte Damaschke. Natürlich. Wo es Drama gab, war diese olle Hexe stets vor Ort.
»Nana, also wirklich. Herr Ratnikov. Kein Grund für solche Worte.« Die Damaschke tätschelte Ratnikovs linken Arm, als müsste sie den Fleischberg von Mann beruhigen. »Jadwiga ist eine gute Seele, hin und wieder. Zumindest nüchtern. Sind harte Zeiten, für uns alle. Manche kommen besser damit klar, andere weniger. Mein Mann hat ja nach dem Ende des Kommunismus auch viel zu viel getrunken. Tragisch, war das. Dabei war er so ein feiner Kerl.«
Ratnikov rieb sich den tätowierten Hals und feuerte einen letzten Blick der Verachtung erst auf Tomke ab, dann auf die olle Damaschke, ehe er sich endlich verpisste. Er knallte so fest seine Wohnungstür zu, dass es im ganzen Wohnblock zu hören war. Die Damaschke hingegen verweilte noch eine Weile an der Tür. Wie Unkraut fand sie jede Ritze im Leben anderer um darin elendig zu wuchern.
»Es war den ganzen Abend ziemlich laut, Junge. Erst dieser furchtbare Männerbesuch, dann diese schreckliche Musik. Nichts gegen Musik, aber muss es denn immer so laut sein? Und was soll dieser schreckliche Krach überhaupt sein? Der arme Herr Ratnikov hat Frühschicht. Ich selbst habe bis jetzt auch kein Auge zugetan. Wie denn auch bei diesem Lärm? Ein bisschen Rücksicht ist doch nun wirklich nicht zu viel verlangt.«
Im Schlafzimmer krachte es erneut. Dann wurde wieder wie irre auf ein Schlagzeug eingedroschen. Die Furie kreischte unverständliche Worte. Manche Menschen rasteten mit ihren Fäusten aus, andere machten wütend Musik. Tomkes Meinung nach gab es echt schlimmere Dinge, auch wenn das Timing heute echt beschissen war.
»Was ist eigentlich mit deinem Arm passiert, Junge?« Die alte Damaschke verzog das Gesicht, als sie sich im Gedanken ihre Frage selbst beantwortete. »Hast dich wohl wieder geprügelt, was? Schrecklich, wie ihr jungen Kerle euch immer wehtun müsst. Ist genau wie damals, als sie alles dicht gemacht haben. Es liegt an der Arbeitslosigkeit. Ihr jungen Leute habt einfach nichts zu tun. Und Männer die sich langweilen bedeuten stets Ärger. War ja früher schon irgendwie besser, manchmal. Im Kommunismus hatte jeder Arbeit. Man hat uns beschäftigt und - «
»Ist das da nicht Krapowski im Flur?«
Die alte Damaschke wirbelte in blinder Panik herum. »Ach du meine Güte! Er weiß doch, dass er nicht aus der Wohnung darf!«
Prompt war die Hexe weg und suchte in blinder Panik das Treppenhaus nach ihrem hässlichen Kater ab. Dabei lag das Vieh ziemlich sicher brav in seinem eigenen Fett und Saft irgendwo in der mit Dekohässlichkeiten vollgestopften Wohnung der ollen Damaschke, doch der Trick funktionierte einfach immer wieder. Schneller konnte man diese alte Schachtel nun wirklich nicht loswerden.
Tomke schloss rasch die mit Band-Plakaten übersäte Wohnungstür, dann nahm er den Besen aus der Küche und kehrte notfallmäßig die größten Scherben auf. Was sich mit nur einem Arm als ziemliche Scheißaufgabe herausstellte. Das Aufkehren war schier unmöglich.
Das Krachen und Scheppern hinter der Schlafzimmertür war verstummt. Tomke verstaute den Besen, kickte die restlichen Scherben einfach achtlos zur Seite und trat gegen die schwarzlackierte Zimmertür. Keine Reaktion. Stille. Er öffnete die Tür, wobei er sich dagegen stemmen musste. Die Furie hatte in ihrem Wahn die Kommode vor die Tür geschoben. Dieses Scheißding ging Tomke langsam auf den Sack. Mit den Ausrastern und der Musik kam er klar, aber dass sie sich neuerdings versuchte in ihrem Zimmer zu verbarrikadieren besorgte ihn. Es war an manchen Nächten von existenzieller Bedeutung, dass er innerhalb von Sekunden bei ihr sein konnte.
Er betrat den Raum, was fast eine Minute dauerte, und verpasste der schuldigen Kommode einen verärgerten Tritt. Im Schlafzimmer herrschte Vollbeleuchtung und es roch nach kaltem Zigarettenrauch und Erbrochenem. Auf dem zerwühlten Bett schlief die Furie, halb in sich zusammengerollt und fernab des Desasters, welches sie mal wieder angerichtet hatte. Aber so war sie einfach, schon immer gewesen. Erst veranstaltete sie ein riesiges Chaos und Drama, dann verzog sie sich einfach und überließ es Tomke, ihren Dreck wegzuräumen. Darüber reden taten sie nie. Sie sprachen generell wenig miteinander. Wenn sie es taten, artete es immer in Streit aus.
Tomke hob die ausgewaschene Bettdecke vom Boden auf, ignorierte die darunter liegende und mit sichtlicher Gewalt aufgerissene Kondomverpackung und deckte die schlafende Gestalt vorsichtig zu, was mit einem Arm gar nicht mal so leicht war. Die Motorik seiner linken Hand war ernsthaft für den Arsch.
»Gute Nacht, Mama.«
Er schaltete das Licht aus und schloss die Tür.
Im Trümmerland herrschte Stille.