Aufgeregt hatte sie sich nur schnell eine Strickjacke übergeworfen, als der LKW in die Einfahrt gefahren war. Wochenlang hatte sie sehnsüchtig auf ihn gewartet. Denn er brachte den Container, der ihre Habseligkeiten beinhaltete. Viel länger als geplant war er unterwegs gewesen. Erst ein Streik, dann eine notwendig gewordene längere Seeroute, und zu guter Letzt hatte es auch auf dem Landweg Verzögerungen gegeben. Doch nun endlich war die Spedition dabei abzuladen. Es kam ihr schon fast unwirklich vor, dass sie die Kartons und Möbelstücke einst in New York verpackt hatte. Fast alles hatte sie dort verkauft, nur das Nötigste in zwei Koffern zurück nach Deutschland gebracht. Nach fast 25 Jahren in den Staaten fasste der Container nur die Stücke, die ihr viel bedeuteten. Ein kleiner Sekretär zum Beispiel, den sie auf einem Flohmarkt entdeckt und sich verliebt hatte. Oder ihre Bücher und Gemälde, die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatten. Natürlich auch liebgewonnene Kleidungs- oder Dekorationsstücke, das Porzellangeschirr ihrer Mutter, welches sie einst geerbt hatte.
Sie freute sich darauf, später alles auszupacken, das Haus damit zu ergänzen und endlich ihre Handschrift einzubringen. Hals über Kopf war sie hier eingezogen, zu ihm und seinem Haushalt. Und obwohl sie glücklich war, hatte ihr doch etwas gefehlt. Ihre Entscheidung, die Zelte in den Staaten abzubrechen und zurück zu kommen, hatte sie keine Sekunde bereut. Und doch fehlte eben noch etwas, um endgültig anzukommen. Ein Teil ihres Lebens, was sie ausmachte und zu ihr gehörte, würde nun vervollständigt. Und das passend zur schönsten Zeit des Jahres. Sie sah schon vor sich, wie sie das Heim weihnachtlich schmücken wollte. Und er, der so lang allein gelebt hatte, ließ ihr freie Hand. Denn er besaß sage und schreibe eine Lichterkette, hatte sich nie einen Adventskranz oder Weihnachtsbaum gegönnt. All das wollte sie ändern. Unter den Kartons befand sich der ganze Weihnachtsschmuck. Hierbei hatte sie sich von ihren amerikanischen Freunden anstecken lassen. Vermutlich wäre das ein oder andere viel zu kitschig.
Die beiden Mitarbeiter der Spedition luden flink und sicher aus. Sie dirigierte und behielt im Auge, dass nichts zu Bruch ging, inspizierte direkt die fragilen Sachen. Alles schien den langen Transport heil überstanden zu haben. Der Sekretär wanderte direkt in den Erker, an den Platz, den sie vor Wochen hierfür erkoren hatte. Die beiden Kommoden, die einige Jahre in ihrem Schlafzimmer gestanden hatten, ließ sie nach oben bringen. Nun machten sie sich gut in dem großen Flur, ebenso der Wandspiegel aus ihrer alten Ankleide. Versonnen strich sie über das Holz. Eigentlich machte sie sich wenig aus Möbeln, aber diese Teile begleiteten sie schon so lange. In ihr machte sich ein Glücksgefühl breit. Wie richtig es sich anfühlte, dass sie nun ihr Leben mit einbrachte, es mit seinem verwob und daraus etwas Gemeinsames entstand.
Niemals hätte sie gedacht, dass sie doch noch die eine Liebe finden würde und dann auch noch hier. An diesem Ort, den sie einst verlassen hatte, um in die große Welt zu ziehen. Natürlich hatte es Männer in ihrem Leben gegeben, aber erst jetzt, in der zweiten Lebenshälfte, spürte sie, was Liebe wirklich bedeutete. Beide hatten sie schon viel erlebt und ihre Leben unabhängig voneinander gelebt. Vielleicht war es auch genau dieser Aspekt, der ihnen so schnell die Gewissheit verschaffte hatte. Es hatte kein großes Zögern gegeben, auf beiden Seiten nicht. Warum Zeit verschwenden? Und noch nie hatte sie sich so sehr auf das Weihnachtsfest gefreut, wie in diesem Jahr.
Folgerichtig machte sie sich dann auch zuerst an die Kisten, um das Haus zu dekorieren, kaum, dass der LKW wieder abgefahren war. Er wollte später dazukommen und mit ihr den Baum schmücken. Zwar war der erste Advent erst am kommenden Wochenende, und er hatte zuerst angemerkt, dass in seiner Familie der Baum meist erst kurz vor Heiligabend einzog, doch sie wollten ein wenig mehr davon haben. An ihrem ersten Fest zusammen und zu zweit. Denn sie wollten den Abend allein verbringen und erst an den Feiertagen mit der Familie zusammenkommen. Eine neue Tradition sozusagen.
Liebevoll platzierte sie fast zwei Stunden lang Engel, Weihnachtsmänner, Rentiere, Lichterketten, Kerzen. Einiges ließ sie verpackt, erschien ihr dann doch deplatziert und zu amerikanisch. Zufrieden sah sie sich um. Gerade in der Stube herrschte eine urige Gemütlichkeit. Fenster und Kaminsims hatte sie besonders hübsch dekoriert. Sie freute sich darauf, abends hier mit ihm zu sitzen, vor dem Feuer und inmitten des Kerzenscheins, lesend, vielleicht mit einem guten Wein den Baum betrachtend, während es draußen schneite. Dazu ein bisschen Musik, ein gutes Gespräch, Plätzchen, ja, das erfüllte sie wirklich mit Vorfreude. Früher hatte sie den Kopf darüber geschüttelt, wenn ihr jemand sagte, dass Weihnachten nur dann etwas besonderes sei, mit dem richtigen Mensch an seiner Seite oder Kindern, deren Augen staunend alles aufsogen. Letzteres hatte sie nachvollziehen können, nachdem sie ein Weihnachten bei ihrer Schwester verbracht hatte. Damals, als deren Söhne noch klein gewesen waren und die Aufregung der Buben den Tag hatte lang werden lassen.
Nun aber begriff sie, dass auch der erste Teil stimmte. Noch vor einigen Jahren wäre es für sie undenkbar gewesen, nicht von einer Gesellschaft zur nächsten zu ziehen. Aber da war sie eben allein gewesen, hatte die Feiertage mit Einladungen von anderen Alleinstehenden verbracht und den wirklichen Zauber offenbar nicht zu spüren bekommen. Er holte sie aus ihren Gedanken, betrat mit einer stolzen Tanne den Raum und einem fragenden Blick.
"Ist der recht?", wollte er brummend wissen. Sie unterdrückte ein Lachen.
"Der ist perfekt", antwortete sie. Zufrieden nickte er und kümmerte sich sogleich darum, dass der Baum an den richtigen Platz kam. Dann musterte er die Kisten, die sie bereit gestellt hatte. Kugeln in allen Farben, Anhänger, Lametta, Kerzen, was man eben so brauchte.
"Kein Lametta", sagte er prompt. "Das finde ich einfach nicht schön." Das wusste sie und hatte damit kein Problem.
"Aber auch keine echten Kerzen", gab sie zurück. Das war ihr zu gefährlich, neigten sie beide doch dazu, in den bequemen Sesseln am Kamin einzunicken. Er grinste.
"Nein. Meine Oma hat damit einst beinahe alles abgefackelt", stimmte er zu. Sie entschieden sich für eine einfache Lichterkette, ohne Kerzenoptik, und den silbernen und roten Kugeln. Dazwischen baumelten nach und nach kleine Holzanhänger.
"Was ist das denn?", fragte er und hob erstaunt etwas Grünes aus der letzten Kiste.
"Ach, herrje, die hatte ich ja ganz vergessen", stellte sie fest. Sie nahm es ihm aus der Hand. "Das ist eine Weihnachtsgurke", erklärte sie.
Sein Gesichtsausdruck war zu ulkig.
"Ich meine, ich hab es ja jetzt nicht so mit dem ganzen Tand, aber eine Gurke? Die habe ich auch noch nie woanders gesehen."
Schmunzelnd drehte sie das Stück in ihrer Hand.
"Ach, nein? Das ist doch eine uralte deutsche Tradition", meinte sie belustigt. Er kniff die Augen zusammen.
"Wirklich?", wollte er skeptisch wissen.
"Nun ja, so jedenfalls hat es mit die Mutter meines damaligen Freundes in Boston erklärt. Sie hatte die Weihnachtsgurke extra für mich besorgt und in den Baum gesteckt, weil sie dachte, das macht man in Deutschland so. Sie wollte, dass ich mich besonders wohl fühle. Es gab sogar extra Kartoffelsalat mit Würstchen", erzählte sie. Wie lange was überhaupt her? Vermutlich über 20 Jahre, Steven hatte sie im zweiten Jahr am Broadway kennen gelernt. Sie zuckte mit den Schultern. "In Amerika hält man das tatsächlich für einen Brauch hier bei uns. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie zu korrigieren. Sie hatte es so lieb gemeint."
Er griff nach der Gurke und hängte sie in den Baum, runzelte erneut die Stirn.
"Die übersieht man ja fast", stellte er fest.
"Das ist wohl der Sinn dahinter", lachte sie. "Wer die Gurke findet, bekommt ein besonderes Geschenk. Sie schickte mich also an den Baum, ganz aufgeregt und ich verstand gar nicht, was sie im Sinn hatte. Ich wusste ja nichts darüber. Erst als sie stolz meinte, sie hätten diese Gurke für mich versteckt, zeigte sie sie mir und überreichte mir ein kleines Päckchen."
Sie trat neben ihm und betrachtete den Baum. Er war fertig und sah wunderschön aus. Sacht zog er sie in seinen Arm.
"Was hältst du davon, wenn wir daraus eine eigene Tradition für die Kinder machen? Wenn am ersten Feiertag meine Geschwister mit Kind und Kegel kommen, was meinst du?"
Lächelnd sah sie ihn an.
"Das ist eine rührende Idee", antwortete sie. Ihr kam ein Gedanke. "Wie findest du es, wenn das Geschenk nichts Materielles ist, sondern zum Beispiel eine Unternehmung oder ein Ausflug oder eine Übernachtung bei uns? Nur für das Finderkind allein, ohne Geschwister oder Cousins?"
"Moment!", sagte er und öffnete eine Schublade der Vitrine. Zurück kam er mit einer kleinen Holzkiste, die herrlich gestaltet war. "Von meinem Vater, Handarbeit. Ich habe sie als Junge bekommen, um kleine Schätze aufzubewahren. Wir könnten einen schönen Stein hinein tun, der als Wunschstein eingelöst werden kann."
Es waren diese Momente, in denen sie ihn noch mehr liebte. Mit einem Kuss antwortete sie auf seinen Vorschlag. Wie schade es war, dass er keine eigenen Kinder oder Enkel hatte, er wäre ein großartiger Vater und Großvater. Aber der Nachwuchs seiner Geschwister und deren Kinder liebten ihn, das wusste sie.
Es war die fünfjährige Emma, die Enkeltochter seines jüngsten Bruders, die die Gurke vier Wochen später als erste entdeckte. Gespannt öffnete das Mädchen die Holzkiste und nahm den glatt geschliffenen, schwarzen Stein mit der Aufschrift Wunschstein heraus.
"Du hast einen Wunsch frei, den wir dir erfüllen, wann immer du magst. Einzige Bedingung ist, dass du ihn vor dem nächsten Weihnachten einlösen und die Kiste zurückbringen musst", erklärte er ihr sorgsam. Die Augen der Kleinen leuchteten, dann blickte sie ihn ernst an.
"Kann Tante Ursel mir zeigen, wie man tanzt?", fragte sie scheu. Sie ging neben ihm vor dem Mädchen in die Hocke.
"Sehr gerne, Emma", antwortete sie gerührt. Emma fiel ihr um den Hals.
"Das ist das beste Geschenk!", rief sie dabei aus. Das war er also, der Zauber der Weihnacht.