In der himmlischen Werkstatt ging es hektisch zu und her.
Die Engel und ihre Helfer packten die letzten Dinge ein, welche sie heute dringend noch zur Erde bringen mussten, damit die Menschen Weihnachten feiern konnten: Kerzen, Baumkugeln in allen Farben, Tannenschmuck und Krippen.
Bereits hörte man den Chor die letzten Stimmübungen machen, damit die Weihnachtsgesänge auch wirklich rein klangen.
Die Musikerengel stimmten ihre Violinen, polierten ihre Trompeten auf Hochglanz und die Flötenspieler entlockten ihren Instrumenten die ersten Töne.
Kurz: Es herrschte grosse Geschäftigkeit und auch eine Art Gedränge im Himmel.
Alle mussten noch etwas erledigen, liefen oder flogen hierhin und dorthin.
In dem allgemeinen Durcheinander fiel niemandem auf, dass eine goldene Baumkugel zu Boden fiel, in eine Ecke rollte und dort liegen blieb.
Wie auf ein Kommando hin nahmen dann alle Engel ihre Sachen und machten sich auf den Weg zur Erde, um Weihnachtsbäume zu schmücken und unzählige Kinderaugen zum Leuchten zu bringen.
Zurück blieb eine Himmelswerkstatt voller Unordnung. Bunte Bänder lagen herum, in der Eile zerbrochene Kerzen, Kerzenhalter, die einfach vergessen worden waren.
Nun betraten die Putzengel den Raum.
Sorgfältig begannen sie, Ordnung zu schaffen. Sie wickelten die Bänder neu auf und legten sie in die dafür bestimmten Schachteln. Auch die vergessenen Kerzenhalter fanden wieder an ihren Platz zurück.
Während sie mit ihren weichen Besen den Boden wischten, summten sie die vertrauten Weihnachtslieder mit, die sie von nebenan hörten.
Auf einmal entdeckte einer der Putzengel die kleine goldene Baumkugel in ihrer Ecke.
Er bückte sich und hob sie auf.
"Oh, was ist denn mit dir passiert?"
Aufmerksam drehte er die Kugel in seinen Händen hin und her.
"Und beschädigt wurdest du bei deinem Sturz auch! "
Der Putzengel trippelte zum Basteltisch. Bald fand er dort die grosse Tube Himmelsleim.
Sorgfältig kittete er die zerbrochenen Teile wieder zusammen.
Damit man die geflickten Stellen nicht sehen konnte, streute er etwas Himmelsglitzer darüber.
Stolz betrachtete er am Schluss sein Werk.
"Na, du Schöne! Bist du jetzt zufrieden?"
Die Kugel in seinen Händen regte sich.
Langsam wurde sie warm und begann dann von innen heraus ein sanftes Licht auszustrahlen.
"Herzlichen Dank!
Und nun möchte ich auch auf die Erde!"
"Hmm … alle Engel, die Erdendienst haben, sind bereits weg," meinte der Putzengel bedauernd.
Die Kugel in seinen Händen bewegte sich nun unruhiger.
"Aber ich MUSS auf die Erde!"
Wieder verneinte der Putzengel.
"Alle Engel, welche Erdendienst haben, sind bereits weg."
Die Kugel in seinen Händen begann zu wachsen, ihr Licht schimmerte noch heller.
"Ich MUSS auf die Erde!"
Der Putzengel spürte die Dringlichkeit in ihren Worten.
Er wusste, dass vergessene Bänder und Kerzenhalter gut bis zum Weihnachtsfest des nächsten Jahres warten konnten.
Mit Baumkugeln aber, besonders mit goldenen, war es anders.
Sie hatten eine Aufgabe zu erfüllen, die er zwar nicht kannte, die aber, so hatte er gehört, sehr wichtig war.
Er zögerte.
Als Putzengel war es ihm untersagt, auf die Erde zu fliegen. Erst recht nicht in der Heiligen Nacht.
Er seufzte.
Fliegen hatte er längst gelernt, daran lag es nicht. Aber gerade heute alle himmlischen Gesetze zu brechen, machte ihm Angst. Ausserdem wusste er nicht einmal, wohin er die goldene Kugel bringen müsste.
Als könnte sie seine Gedanken lesen, sagte sie sanft und beruhigend:
"Keine Angst! Ich kenne den Weg! Und ich werde dafür sorgen, dass dir nichts geschieht. Wenn du nur jetzt mit mir zur Erde fliegen könntest, bitte!"
Wieder schien es dem Putzengel, als sei die Kugel noch mehr gewachsen und als leuchte sie noch heller.
Unbehaglich flatterte er mit seinen Flügeln und trat von einem Fuss auf den andern.
Ob er einen andern Putzengel bitten könnte, mit der Baumkugel zur Erde zu fliegen?
Erleichtert über diese rettende Idee, wollte er zu einem seiner Kollegen eilen.
"Halt!"
Die Stimme der Kugel klang nun sehr energisch.
"Weisst du denn nicht, dass es keinen Zufall gibt?
Denkst du, du, genau du, hättest mich "einfach so" in der Ecke liegen sehen?
Und nun willst du das Naheliegende und von mir so sehr Erwünschte, nicht selbst ausführen?"
Der Putzengel hatte das Gefühl, als schüttele die Kugel ihren nicht vorhandenen Kopf.
Wenn er nur mutiger wäre!
Hatte ihm nicht Petrus bei seiner Ankunft hier die Regeln vorgelesen?
Eine kleine Stimme in seiner Brust meldete sich.
"Hey! Was kann dir denn passieren? Bring die Kugel zur Erde und kehre dann so schnell wie möglich zum Himmel zurück. Niemand wird es merken!"
Genau! Die Engel, die heute Erdendienst hatten, würden wohl noch eine Weile dort unten mit den Menschen feiern, Glühwein trinken und Kekse essen.
Er warf alle seine Bedenken über die Wolken und sagte tapfer:
"Gut, ich bringe dich zur Erde. Du sagst mir, wohin."
Erleichterung schwang in der Stimme der Kugel mit, als sie sich bei ihm bedankte.
Sogleich brachen sie auf.
Sorgfältig hielt der Putzengel die Baumkugel in seinen Händen fest.
Es dünkte ihn, er sei noch nie so leicht geflogen. Er fühlte sich gleichsam getragen, während sie sich der Erde näherten.
Der Putzengel beobachtete, wie hier und dort auf der Erdkugel Lichter aufflackerten. Hier ein paar Kerzen, dort ein Weihnachtsbaum, manchmal sogar ein Feuer draussen am Waldrand. Trotzdem kam ihm der Planet recht dunkel vor. Dabei sprach man im Himmel doch allgemein vom Lichterglanz auf Erden in der Heiligen Nacht. Doch von Licht oder Glanz oder gar Lichterglanz konnte er beim besten Willen nicht viel sehen.
Mit der goldenen Baumkugel in seiner Hand näherte er sich nun einer Landschaft, die auf den ersten Blick öde und einsam wirkte. Vereinzelte Häuser waren zu erkennen, weiter weg Wälder.
Auf einmal tauchte ein Engel vor ihm auf, der Erdendienst hatte. Vor Schreck liess der Putzengel beinahe die Baumkugel fallen.
Doch der Engel lächelte.
"Da seid ihr ja! Wir haben euch vermisst, mehr noch, wir haben euch erwartet!"
"Erwartet? Aber … "
Der Engel schmunzelte.
"Regeln sind manchmal wichtig. Manchmal sind sie auch richtig.
Die wichtigste Regel kommt aber immer aus dem eigenen Herzen. Nur ihm sollte man folgen."
Erleichterung begann sich in der Brust des Putzengels breitzumachen.
Die Baumkugel in seinen Händen regte sich, wurde noch grösser.
Auf einmal brach eines der Stückchen, die der Putzengel doch so liebevoll geflickt hatte, heraus und fiel auf das kleine Dorf, über welches sie gerade flogen.
Sogleich erstrahlten alle Häuser in hellstem Licht. Menschen kamen vor die Tür, sangen und tanzten vor Freude.
Der Engel im Erdendienst begleitete den Putzengel weiter. Unter ihnen erschien eine Insel, weit abgelegen im Meer. Nur schwach waren die Silhouetten mehrerer Dörfer erkennbar. Sie lagen buchstäblich im Dunkeln.
Wieder regte sich die Baumkugel und wieder brach ein Stückchen ihrer Hülle ab. Kaum war es zu Boden gefallen, wurde es festlich hell in und um die Häuser. Erstaunte Gesichter erschienen unter den Türen. Bald schon fanden sich fröhlich gestimmte Menschen zusammen, die aufgeregt miteinander sprachen.
Ein Kind fand ein kleines Überbleibsel der leuchtenden Hülle, welches die Baumkugel fallen gelassen hatte. Sorgfältig trug es diese ans Wasser und kletterte damit in ein Boot.
Alle Bewohner, die ein Boot besassen, eilten nun herbei, entzündeten ihre Fackeln an diesem Licht und ruderten dann ein wenig ins Meer hinaus. Gemeinsam bildeten sie dort einen Lichtstern.
"Siehst du, wie wichtig es war, dass du deinem Herzen gefolgt bist?"
Ergriffen nickte der Putzengel.
"Kommt, wir haben noch mehr zu tun!"
Bald befanden sie sich über einer riesengrossen Stadt. Wohl leuchteten Scheinwerfer von Autos ins Dunkel der Nacht, wohl flackerten in den Strassenschluchten unruhige Werbeanzeigen auf. Doch der Rest der Häuser war in Dunkel gehüllt.
Wieder regte sich die Baumkugel in den Händen des Putzengels und warf einen Teil ihrer Hülle nach unten. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die ganze Stadt auf wundersame Art zu leuchten begann.
Die Menschen öffneten Fenster und Türen, traten auf die Strassen und begannen zu singen. Bald schon drang der frohe Gesang bis weit über die Stadt hinaus.
Weiter!
Der Engel im Erdendienst begleitete den Putzengel in dieser besonderen Nacht noch an viele Orte rund um den Planeten, wo die goldene Baumkugel Stückchen für Stückchen ihrer Hülle verschenkte. Und überall, wo etwas davon hinuntergefallen war, erstrahlte die Welt in den schönsten Lichtern.
Auf einmal bemerkte der Putzengel, dass von der Baumkugel nichts mehr übrig geblieben war bis ... auf ihr Inneres. Er trug nun einen Stern in seinen Händen, der in den hellsten und wärmsten Farben leuchtete.
Der Engel im Erdendienst lächelte den Putzengel liebevoll an.
"Du trägst den kostbarsten Stern in Händen, den es je gegeben hat, Lichtträger!"
Ein Schauer lief durch den Putzengel. Einen Moment lang war ihm schwindelig. Ganz fest musste er diesen wunderbaren Stern festhalten, damit er ihm nicht entglitt.
"Wohin fliegen wir jetzt mit dir?" flüsterte er.
"Ich leuchte für alle. Mein Platz am Himmelszelt ist schon lange bereit. Bringe mich bitte dorthin, Lichtträger!"
Etwas verunsichert sah sich dieser nach dem Engel im Erdendienst um. Doch der war verschwunden.
"Ich werde dir den Weg zeigen. Lasse dich einfach von mir führen."
Bald schon erreichten die beiden den richtigen Ort.
Sorgfältig hängte der Lichtträgerengel den Stern an seinem neuen Platz auf.
"Hier werde ich bleiben. Die Menschen werden mich von der Erde aus erkennen, sich an mir freuen und orientieren.
Du aber, Lichtträger, kehre in den Himmel zurück. Du wirst mit neuen Aufgaben betraut werden.
Danke dir von Herzen für deinen Mut!"
Der Stern lächelte den Lichtträger an. Dann ging sein Licht in ein warmes, doch gleichzeitig kraftvolles Schimmern über.
Auf seinem Weg zurück zum Himmel drehte sich der Lichtträgerengel mehrere Male um. Die Erde erstrahlte im hellem Glanz unzähliger Lichter.
Da war er, der Lichterglanz der Heiligen Nacht!