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Nach dem Prompt „Capybara“ der Gruppe „Crikey!“
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Das Wasser umspülte den kleinen Kahn. Die Mangroven beugten sich von beiden Seiten über den düsteren Tunnel, welcher den Eingang in den Schattensumpf markierte.
Es gluckerte leise, wann immer das Ruder in die schwarzen Fluten tauchte. Ysera schluckte schwer und ein Schauer kroch über ihre gelbe Haut, als sie in die Kühle des Mangrovenwalds eintauchte.
Man nannte ihn den 'Wald der dunklen Mächte' und warnte die Perro schon von Kindesbeinen an vor ihm. Yseras lange Ohren zuckten nervös hin und her. Überall gluckerte und brodelte es. Wasser schwappte um die Luftwurzeln der Mangroven und unterirdische Schrote spukten Gase an die Oberfläche. Wegen des grässlichen Gestanks hatte sich die junge Perro-Kriegerin ein Tuch vor Mund und Nase gebunden.
Tapfer fuhr sie weiter und ließ den Blick aufmerksam über die Schlingen und das Wasser gleiten. Der Sumpf schien sich erdrückend um sie zu schließen. Wasserpflanzen drängten aus jeder Richtung in das wenige Licht, das durch die tiefen Kronen der Mangroven drang. Hier und da erspähte Ysera eine grüne Insel, auf der Gras wuchs, doch sie hielt sich selten länger auf. Ihr Blick suchte nach verdächtigen Bewegungen, die auf Krokodile oder Schlimmeres hindeuten konnten.
Stundenlang fuhr sie so dahin, bis ein hellerer Schimmer ihre Aufmerksamkeit weckte. Sie stoppte das Kanu und richtete sich auf, plötzlich wie erstarrt. Alle Geräusche ihres kleinen Bodes versiegten. Wie gebannt starrte Ysera auf eine Insel vor sich, während sie ganz langsam den bereits gespannten Bogen vom Rücken zog.
Auf jener Insel stand ein Kasti, ein pummeliges Einhorn, das man für ein Capybara halten könnte, wäre da nicht das Horn und das schneeweiße Fell. Das Wesen graste sorglos auf einer der wenigen Inseln.
Ysera hielt den Atem an und legte einen Pfeil auf die Sehne. Sie zielte. Das Kasti schnaubte, hob den Kopf, sah sich um und graste dann weiter, als es keine Gefahr erblickte.
In dem Moment, da es den Kopf senkte, ließ Ysera den Pfeil los.
Ein hohes Quieken füllte den Wald, als das Kasti getroffen wurde. Hastig ergriff Ysera das Paddel und fuhr zu der Insel, wo das weiße Einhorn auf die Seite gefallen war und mit den kurzen Beinen ausschlug.
"Ich habe dich gefangen!", sprach Ysera und stieg auf die Insel.
"Das hast du wohl." Das Kasti wurde schlagartig ruhig, drehte sich auf die Seite und sah Ysera an. "Du kennst den Ablauf sicherlich."
"Ich habe einen Wunsch frei, wenn ich dich gehen lasse", bestätigte Ysera.
Das Kasti neigte den Kopf. "Und ewiges Pech wird dich begleiten, wenn du mich tötest."
Ysera kniete sich an die Seite des magischen Tiers und legte eine Hand an den Pfeil, die andere neben die Wunde. "Mein kleiner Bruder ist krank. Ich weiß keinen Ausweg mehr. Also heile ihn, und die Freiheit soll dir geschenkt sein."
Das Kasti neigte den Kopf. "So soll es geschehen."
Mit einem Ruck zog Ysera den Pfeil aus der Flanke des Kastis. Vor ihr zerfloss das Wesen augenblicklich zu klarem Wasser, das halb im Boden versickerte, halb in den Sumpf zurückglitt. Eine Reihe zielstrebiger Wellen glitten davon.
Mit einem Mal bebten ihre Hände und Tränen der Erleichterung stiegen in Yseras Augen. Sie hatte es geschafft! Sie hatte ein Kasti gefangen und ihm einen Wunsch abgerungen! Nun würden all die Jahre der Not und Angst vorbei sein.
Als alle Anspannung von ihr fiel, brach sie in haltloses Schluchzen aus und rollte sich auf der Insel zusammen, unfähig, den Rückweg direkt wieder anzutreten.