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Nach dem Prompt „Karibischer Einsiedlerkrebs“ der Gruppe „Crikey!“
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Der Strand schimmerte verheißungsvoll und weiß. Toogi richtete sich auf. Die Hitze der Sonne auf seinem Rücken war vergessen, die Anstrengung der Überfahrt, die Müdigkeit, der Durst.
Vor ihm lag eine Insel. Er war endlich am Ziel seiner Reise angekommen!
Mit einem letzten Kraftakt beschleunigte er das kleine Floß, bis es schließlich auf dem Sand aufsetzte. Keuchend fiel er auf die weiche, von der Sonne aufgeheizte Erde.
Seine Augen schmerzten, als Tränen der Erleichterung unter seinen trockenen Lidern brannten.
Lange konnte er jedoch nicht ausruhen. Toogi quälte sich hoch und fasste neuen Mut. Er war losgezogen, um eine neue Insel zu finden. Eine unbewohnte Insel. Nun musste er zunächst einmal feststellen, ob sie wirklich unbewohnt war. Dann musste er Gärten anlegen, ein Haus bauen, eine Feuerstelle bereiten. Und erst dann, wenn er Leben auf diesem Flecken Erde ermöglicht hatte, würde er zurückkehren, sich eine Frau nehmen und sie hierher bringen, um ein neues Dorf zu gründen. Bevor dieser Traum jedoch in Erfüllung gehen würde, musste Toogi sich beweisen.
Zum Klang der rauschenden Wellen begann er, die Insel abzuschreiten. Sie war nicht gerade riesig, aber doch zu groß, dass er sie in seinem erschöpften Zustand bewandern wollte. Am Strand lag heller Sand, dahinter wuchsen verschiedene Palmen, Bananenstauden und Farne dicht an dicht. Weiter hinten, offenbar zur Mitte der Insel, erhob sich ein großer, grauer Berg.
Toogi begann, ein paar Palmblätter für einen Schlafplatz zu sammeln. Er erntete Bananen und Kokosfrüchte und schnitzte sich einen Speer. Am nächsten Tag fertigte er eine Axt und begann, sein Haus aus Holz und trockenem Laub zu fertigen. Er fing Krebse und baute Fischfallen, schärfte Steine und entzündete abendlich ein Feuer. Er fand Taro und andere Knollen und begann, ihre Wuchsstellen zu Gärten zu kultivieren, indem er störendes Unkraut entfernte.
Nach einigen Wochen bemerkte er, dass sich Dinge ohne sein Zutun bewegten. Er sah, dass einige seiner Steinspitzen verschoben worden waren, ebenso die Muscheln, die er als Löffel oder Trinkgefäße nutzte. Es waren keine großen Veränderungen, doch manchmal fehlte etwas. Toogi entschloss sich, die Insel nun abzusuchen. Doch er fand keine Spuren anderer Menschen. Die größten Lebewesen, die er sah, waren die Vögel im Geäst und ein paar Schildkröten.
Vielleicht, sagte er sich, hatten die Vögel mit den Muschelschalen gespielt. Er dachte sich nichts weiter dabei, denn er hatte das Gefühl, dass ihm die Zeit davonlief. Die Sonne ging immer weiter südlich auf. Er würde einen Unterstand bauen müssen, wenn er die Regenzeit überstehen wollte.
Er legte die Muscheln unter einen Baum, um sie zu schützen, und suchte die Insel noch einmal ab, während er auf den Regen und damit auf die Ernte wartete. Doch das Land blieb trocken und warm, und nichts wuchs, sodass er weiterhin Fische fing. Er arbeitete unermüdlich. So dauerte es seine Zeit, bis ihm auffiel, dass weitere Muscheln verschwunden waren, obwohl die Vögel sie gar nicht sehen konnten.
Stattdessen waren mehrere der Muscheln in seine kleine Hütte hineingewandert. Toogi bekam es mit der Angst zu tun. Vielleicht war er doch noch nicht bereit für dieses Abenteuer gewesen. Vielleicht wurde die Insel von Geistern heimgesucht. Vielleicht hatte er doch nicht das Zeug dazu, nach dem Rhythmus der Natur zu leben, denn alle Jahreszeiten fühlten sich falsch an und sein Zeitgefühl war völlig abhanden gekommen.
Trotzdem musste er sich dieser unheimlichen Situation stellen, also näherte er sich den Muscheln. Erstaunt sah er, dass sie kleine Beinchen hatten. Ein Krebschen wohnte in jeder von ihnen und Toogis Furcht war auf einen Schlag fort.
Er kannte Geschichten von den kleinen Einsiedlern, hatte jedoch noch nie welche gesehen. In erster Linie, weil es in einem großen Dorf nicht auffiel, wenn ein paar Muscheln verschwanden. Dass er sich mit ihnen hier seine Heimat teilte, tröstete ihn über die Einsamkeit hinweg, die sich langsam in ihm ausbreitete.
Er lernte die Tierchen und ihre Wege kennen. Seine kleine Hütte hatte mitten auf ihrem Weg gelegen, und so riss er sie schließlich ab und baute tiefer im Urwald; und ab und zu legte er den kleinen Krebsen einen Fisch hin, den er nicht mehr brauchte.
Eines Abends saß er am Strand und fühlte endlich wieder Zuversicht. Die Regenzeit war doch noch gekommen, wenn auch später, als er zwischenzeitlich erwartet hatte, und seine Pflanzen wuchsen. Er hatte alle Werkzeuge, zwei Hütten und genug Platz, um hier ein kleines Dorf zu gründen. Nun musste er nur noch das Mädchen von seiner Heimatinsel holen, der er diesen Ort versprochen hatte.
Während die Sonne sank, betrachtete Toogi die Sterne und runzelte die Stirn. Er war sich sicher gewesen, an jenem Strand zu sitzen, wo er damals angekommen war. Doch nach den Sternen müsste er weiter im Süden abfahren. Offenbar hatte ihn sein Gedächtnis getrogen. Jedenfalls konnte er sich keinen Reim darauf machen. Er konnte nur hoffen, dass er trotz allem den Rückweg finden würde. Vermutlich hatte er bisher nur durch Glück überlebt. Das Jahr war viel schneller verstrichen, als er geglaubt hatte, die Sonne viel rascher gewandert. Er hatte zwar überlebt, aber die vielen Unsicherheiten sagten ihm, dass er doch noch nicht erwachsen genug gewesen war.
Da riss ihn ein lautes Geräusch aus seinem Grübeln. Fontänen schossen in den Himmel, wie von Delfinen, nur viel, viel größer. Toogi entdeckte überrascht eine neue Insel vor der Küste, die aus zwei Geysiren Luft ausstieß. Dann erkannte er ein blass schimmerndes Auge auf dem 'Gestein' und wusste, dass er vor sich einen Kopf sah.
Schwankend taumelte er an den Inselrand und sah ins Wasser, das von den letzten Strahlen der Sonne beleuchtet wurde. Dort erkannte er einen massigen Körper. Doch nachdem das Tier Luft geholt hatte, tauchte es wieder hinunter und unter die Insel.
Schwindel erfasste Toogi, jedoch vor Erleichterung. Er war nicht verrückt geworden! Sein Zeitgefühl hatte ihn nicht getrogen, er hatte sich nur zu sehr auf den Standort der Sonne verlassen.
Aber die Insel drehte sich. Die Himmelsrichtungen konnten nicht länger sein Kompass sein. Er hatte sich auf seine innere Uhr verlassen können, die ihm gesagt hatte, dass etwas nicht stimmte.
Er sank in den Sand, überglücklich, dass dieses Rätsel sich gelöst hatte. Er war auf einer lebendigen Insel gelandet.
Und das hieß, dass er eben doch bereit war.